„Ich weiß, was Hunger ist“

Als Kind wurde er vernachlässigt und misshandelt, später wollte er kein Opfer mehr sein und schlug selbst zu. Aber Tim Raue hat die Kurve gekriegt. Heute ist er einer von Deutschlands bekanntesten Sterneköchen. Am 19. September liest der 37-Jährige aus seiner Biografie. Birgit Müller hat mit ihm über seine Kindheit gesprochen und darüber, wie er die Gewalt überwunden hat.

(aus Hinz&Kunzt 223/September 2011)

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Mit elf Jahren sieht Tim Raue keinen Sinn mehr im Leben. Er denkt an Selbstmord. „Aber etwas in mir war doch intakt, und ich habe mir die Möglichkeit gegeben, weiterzuleben und das Leben auch zu genießen.“ Bis dahin aber war es noch ein weiter Weg.

Hinz&Kunzt: Kaum zu glauben, dass ein Sternekoch selbst mal gehungert hat.
Tim Raue: Ich weiß tatsächlich, was Hunger ist. Als ich in die Vorschule gegangen bin, hat meine Mutter eine Umschulung gemacht und mein Vater hat keinen Unterhalt gezahlt. Einmal am Tag habe ich im Hort etwas zu essen gekriegt, und wie das so ist, das hat nicht jeden Tag geklappt. Zu Hause gab es nicht immer was. Da stand vielleicht eine Tütensuppe rum, die ich mir heiß machen konnte.

H&K: Sie hatten als Kind oft das Gefühl, rumgeschubst zu werden.
Raue: Es gab Zeiten, in denen meine Mut-ter krank war und ich bei Freunden oder Bekannten meiner Mutter war, wo ich nicht so behandelt wurde, wie man sich das wünscht. Das ist für mich immer ein Ansporn gewesen, nie wieder dahin zu kommen, dass ich noch mal Hunger empfinden muss oder dass ich falle – in die Gosse zurückfalle.

Man spürt immer noch nach all den Jahren, dass der 37-Jährige verbittert ist, wenn er über seine Eltern, speziell über seinen Vater spricht. Nachdem sich die Eltern getrennt hatten, wurde er ständig zwischen Mutter und Vater hin- und hergeschickt, ständig musste er die Schule wechseln. Bei keinem lernte er so etwas wie Liebe kennen. Geborgenheit spürt er später ausgerechnet in einer Jugendgang, bei den 36Boys, die auch keine Chance hatten und sich ihren Respekt auf der Straße mit den Fäusten erkämpften
H&K:Ihrem Vater können Sie nicht verzeihen, obwohl er zwei Schlaganfälle hatte …
Raue: … und  nur noch vor sich hin vegetiert. Ich finde das sogar gerecht. Ich habe nicht einen Hauch von Mitleid. Er hat mich als kleinen, wehrlosen Jungen von neun bis elf so verprügelt, dass ich blutend und von blauen Flecken übersät am Boden lag. Ich habe nichts, aber auch gar nichts getan, was das gerechtfertigt hat. Von daher kann ich aus tiefstem Herzen sagen, leck mich!

H&K: Sie waren in Ihrer Kindheit lange richtig verzweifelt – und aggressiv.
Raue:Mit elf Jahren hatte ich Suizidgedanken, weil ich keinen Sinn im Leben gesehen habe. Aber etwas in mir war doch intakt, und ich habe mir die Möglichkeit gegeben, weiterzuleben und das Leben auch zu genießen.

Bis dahin war es allerdings ein weiter Weg. Erst mal wollte Tim Raue kein Opfer mehr sein und hat jeden verdroschen, der ihm blöd kam. Im Buch beschreibt er Szenen wie diese: Bei der Love Parade grapscht jemand seine Freundin Marie an. Tim Raue macht ihm unmissverständlich klar, dass er die Finger von ihr lassen soll. Der Mann ist bis oben mit Drogen vollgepumpt, macht weiter. Tim Raue schlägt ihn zusammen, der Mann steht immer wieder auf, Raue schlägt so lange zu, bis der Mann nicht mehr aufsteht. Als er fertig ist, ist Marie weg. „So etwas will ich nicht noch mal erleben“, sagt sie später. Auch in der Küche wird Raue anfangs noch gewalttätig. Einen Küchenchef schlägt er nieder, weil der ihm mit einer Küchenkelle zu nahe kommt und Raue sich bedroht fühlt.

H&K: Sie haben ja auch stark an Ihrer Wut gearbeitet, die Sie aus Ihrer Kindheit mitgekriegt haben.
Raue: Die Gewaltausbrüche waren wie ein Automatismus. Aber genau diese Automatismen kann man so trainieren, dass man sich dann besser im Griff haben kann. Ich mache Yoga, und ich bin fest davon überzeugt, dass jedem Menschen Yoga helfen würde. Wenn mich jemand provoziert, kann ich einfach weggehen.

H&K: Das hört sich so einfach an.
Raue:Nein, aber ich weiß heute, dass ich etwas zu verlieren habe. Ich musste hart an mir arbeiten. Zuschlagen, das ist schon lange vorbei. Weil ich weiß, ich verliere dadurch und ich gewinne nichts, wenn ich jemandem in die Fresse haue. Das ist ein Unrecht, und ein Unrecht kriegst du immer zurück. Es gibt eine Gerechtigkeit. Je mehr man darauf achtet, umso schöner wird das Leben. Und es wird umso schöner, je weniger man denkt: Was krieg ich dafür? Das ist die absolute Erfüllung.

H&K: Ein Streichelzoo wird’s bei Ihnen in der Küche immer noch nicht sein, oder?
Raue: Das hat sich enorm verändert, weil ich gemerkt habe, dass ich viel Energie mit der Wut, die ich in der Küche gelassen habe, verloren habe. Und ich habe oft so bösartig und hasserfüllt geguckt, dass die Menschen Angst vor mir hatten und dachten: Der macht mich platt. Eine Zeit lang habe ich das gar nicht wahrgenommen, weil ich nur den Erfolg wollte und dann sehr verbissen war, aber so etwas funktioniert nie. Die Menschen be-gleiten dich dann nur ein kurzes Stück deines Lebens. Ich bin irgendwann ins Grübeln gekommen.

H&K: Was war denn der Auslöser?
Raue: Meine Stellvertreter haben Jahre mit mir verbracht, und von heute auf morgen waren die einfach weg, ich habe von ihnen nichts mehr gehört. Im Gespräch hat mir dann der ein oder andere gesagt: „Chef, Sie ordnen alles unter.“ Wenn ich 16 Stunden oder mehr arbeiten muss, trink ich nicht, ess ich nicht, ich geh nicht auf die Toilette. Ich kann alles ausschalten. So sind nicht alle Menschen. Wenn alle sagen, puh, ich bin fertig, dann schalte ich noch ’nen Gang höher. Ich kann zur Qual werden für meine Mitmenschen. Das muss man mögen.

Dass er das überhaupt sieht und dass er ständig an sich weiterarbeitet, hat er, so sagt er, auch der Frau an seiner Seite zu verdanken: Marie. Eine wahnsinnige Liebesgeschichte: Er war 19, mit seiner Gang in einer Disco. Da sah er sie auf der Tanzfläche. Ging wie in Trance hin, sagte ihr seinen Namen, irgendwann sagte sie ihren. Aber es war kein Rankommen an die Frau. Später stand er am Auto mit seinen Jungs, da tippte sie ihm auf die Schulter und gab ihm ihre Telefonnummer. „Willst du sie nicht aufschreiben?“, fragte sie noch verdutzt, weil er keine Anstalten machte. Nein, sagte er, die kann ich auswendig. Am nächsten Tag rief er sie tatsächlich an – und seitdem leben und arbeiten sie zusammen. Endlich ein Mensch, der ihn liebt und immer zu ihm hält.

H&K: Was schätzen Sie an Ihrer Frau besonders?
Raue: Sie hat eine gewisse Gelassenheit. Auf der anderen Seite ist sie so resolut, dass sie sagen kann: „Wir haben jetzt frei, hör auf, mich damit zu nerven.“

H&K: Sie betonen in Ihrem Buch immer wieder, dass Sie Berliner sind. Haben Sie auch so etwas wie ein Heimatgefühl?
Raue: Ich habe in meiner Kindheit eine Entwurzelung erfahren. Was mir immer gefehlt hat, war, dass ich tatsächlich einen Bezug zu einem Zuhause habe. Und bis heute, mit 37, bin ich durch mein Leben getrieben und habe eine stete Unruhe in mir. Irgendwie bin ich schon in Berlin verwurzelt, aber es wäre für mich immer möglich, nach Hongkong oder Singapur zu gehen.

H&K: Wenn jemand kommt und sich bei Ihnen bewirbt, sehen Sie sich dann manchmal selbst in denen, die da kommen?
Raue:Nein. Vielleicht, weil ich aus der Zeit von mir ein sehr verschwommenes Bild habe. Das äußere Erscheinungsbild ist mir wichtig. Ich achte darauf, dass jemand nicht an Körperstellen, die man sieht, tätowiert oder gepierct ist, ich finde das nicht witzig. Unser Beruf ist ein sehr sozialer: Wir geben Menschen etwas, da geht es nicht um Selbstdarstellung. Ich achte stark auf Hygiene. Wenn jemand Maulwurffinger hat, dreckig und ungepflegt, dann sage ich schnell: „So kommst du mir nicht in die Küche.“ Was mir wichtig ist, ist Willensstärke. Ich nehme lieber jemanden, der schon zwei-, dreimal an die Wand gefahren ist, aber Kraft hat.

H&K: Kommen auch viele aus Ihrem früheren Milieu?
Raue:Es gibt genug Menschen, die eine sehr dreiste Art haben, fast eine Berechtigung ableiten. Ich bin allerdings enorm resolut, wenn mich jemand vereinnahmen will. Es hat niemand außer meiner Frau ein Recht auf mich. Da bin ich gnadenlos. Ich sag dann schnell: „Verpiss dich einfach!“

H&K: Sie gehen manchmal in Schulen und reden mit Schülern aus der achten, neunten, zehnten Klasse. Warum?
Raue:: Sie sollen sich fragen: Warum geh ich in die Schule? Was hält das Leben für mich bereit, wenn die Schule vorbei ist? Welche Chancen hab ich? Und was muss ich dafür tun? Ich selbst habe das damals nicht gewusst. Und ich will ihnen sagen: Ihr geht nicht für Mami und Papi in die Schule, ihr geht für niemanden anders in die Schule, nur für euch. Wenn ihr Deutsch nicht flüssig sprecht und kein Englisch könnt, dann steht ihr ganz weit unten in der Skala. Das Zweite: Wenn ihr etwas habt, was euch wirklich Spaß und Freude macht, dann fangt jetzt an, euch zu kümmern. Interessiert euch! Macht Praktika! Du findest Frisieren toll, dann arbeite doch samstags im Frisiersalon. Egal ob sie dir Geld geben oder nicht. Du fängst an zu fegen. Und wenn die sehen, du fegst sehr gut, dann werden sie dich auch mal Haare waschen lassen. Du wächst in die Umgebung rein. Und wenn es dann um einen Ausbildungsplatz geht, dann hast du ’ne Chance.

H&K: Und was außer dem Schulischen würden Sie einem jungen Menschen noch mitgeben?
Raue: Am Anfang steht immer, dass man in den Spiegel guckt und sich hinterfragt: Wer bin ich? Wo komm ich her? Wo will ich hin? Und was kann ich tatsächlich leisten? Was sind meine Parameter? Und: Dass es immer wieder Rückschläge im Leben gibt. Das habe ich auch gehabt, teilweise ganz fiese. Wo man flennend im Bett liegt und sich fragt: Geht das Leben überhaupt noch weiter? Und es ist so erstaunlich: Ja, es geht weiter.

H&K: Wie haben Sie selbst das geschafft?
Raue: Wenn es mir schlecht geht, auch heute noch, denke ich an den guten, alten Dynamo. Den bewegt man langsam wieder, und durch die langsame Bewegung entsteht Schwingung, durch die Schwingung eine innere Kraft und Stabilität. Und eine innere Kraft und Stabilität bekommt man durch Routine, jeden Tag einfach aufzustehen, jeden Tag 15 Minuten Yoga zu machen, jeden Tag etwas Gesundes zu essen, und dann in den Tag zu gehen. Diese Routine kann natürlich helfen, aber man muss dann auch wieder die Schönheit sehen. Es muss nicht die Sonne scheinen, damit die Sonne für dich scheint, du musst auch an den Tagen, an denen es schneit und scheißekalt ist und du frierst, die Schönheit darin sehen. Dann merkt man, dass sich auch das Innere füllt mit Freude. Ich möchte nicht behaupten, dass das so einfach ist, aber es ist das, was mir hilft.

Das Buch zum Koch heißt: „Ich weiß, was Hunger ist – Von der Straßengang in die Sterneküche“, Piper Verlag, 19,95 Euro

Text: Birgit Müller
Foto: Judith Glaubitz / Maria Heidepriem