(aus Hinz&Kunzt 182/April 2008)
Das Wilhelmsburger Bandoneonorchester ist es eines der letzten seiner Art, seine Zukunft ist unsicher. Die Spielfreude ist dennoch ungebrochen
Hilde Meier ist so ’ne Zittrige. Sagt sie selber, legt den Kopf dabei ein wenig schräg und zieht die Schultern hoch. „Aber wenn der erste Ton gespielt ist, ist die Aufregung vorbei und alles geht gut.“ So wird es auch heute sein, wenn ihr Orchester zum sonntäglichen Tanztee im Carstens Stift im Herzen von Wilhelmsburg aufspielt. Hilde Meier sitzt in der zweiten Reihe, hält ihr Akkordeon auf ihrem Schoß. Vor ihr die Bandoneonspieler, hinter ihr die Rhythmusgruppe: Schlagzeug, Bass, Perkussion. Blaue Jacke, weißes Hemd, blaue Hose – kerzengerade sitzen sie da, verziehen keine Miene und schauen auf die große Uhr mit den schwarzen Zeigern, bis es exakt 15 Uhr schlägt. Ihr Mann tritt hinter seinem Notenständer hervor, reckt den Kopf und sagt mit lauter Stimme: „Im Namen unserer Orchestermitglieder möchte ich Sie hiermit recht herzlich begrüßen!“ Alles dreht sich zu ihm hin: Ältere und alte Menschen, einige in Rollstühlen, alle in helles Neonlicht getaucht. Vor ihnen ein schlichtes Kaffeegedeck, die Bedienung hastet durch den Saal, bringt weitere quadratische Sahnestückchen. „Das hier ist unser Fanclub“, wird Hans Meier später sagen und milde lächeln – in der Pause, wenn die Musiker ihre schweren Instrumente auf den Boden stellen, sich ein wenig die Beine vertreten oder ins Publikum gehen, um Freunde und Bekannte zu begrüßen, ihnen dabei meistens den Arm um die Schulter legen und sie herzhaft drücken: Gut, dass wir es mal wieder geschafft haben zusammenzukommen.
Ein Tusch, los geht’s. „Bandoneonklänge“ heißt das Eröffnungsstück, forsch und schmissig; wenn man will, zum Mitklatschen geeignet. Es folgt etwas ruhiger das Lied vom Bananenpaul, vom Jung’ mit dem Tüdelband. Ab und an erzählt Hans Meier kurze Anekdoten auf Plattdeutsch, erntet einige Lacher, muss nur einmal die vom Tisch ganz links zur Ruhe ermahnen – die haben mit ihrer Digitalkamera ein Lied mitgefilmt, spielen sich das Stück nun laut vor, sind ganz begeistert. Und dann das Lied, warum es so schön ist am Hafen und mit den Mädels, auch wenn anschließend die Männer alle Verbrecher sind. Es folgt „Am Rio Negro“, dort liebt man den schmissigen Tango, eine Rumba schließt sich an, ein zackiger Marsch. Die ersten Paare haben vor der Bühne getanzt, andere kommen hinzu, so soll es sein. Hans Meier ist zufrieden, er lächelt glücklich. Seine Frau hat den ehemaligen Angestellten von MAN im Hafen einst ins Orchester geholt. Er ist ein Jahr älter als seine Frau Hilde, und die wird dieses Jahr 81.
Ein wenig länger gibt es das Orchester schon – aber nicht viel. Seine Geschichte erzählt von Erfolgen und Rückschlägen, von Krisen und überraschenden Wendungen. Alles beginnt im Frühjahr 1929. Fünf junge Wilhelmsburger Arbeiter wollen sich einem der örtlichen Musikvereine anschließen, in denen sich die Hafenarbeiter und die örtlichen Handwerker damals von der schweren körperlichen Arbeit erholen. Doch man ist nicht an Zuwachs interessiert, wimmelt sie unfreundlich ab. Dann machen sie eben ihren eigenen Laden auf! Zur Gründung ihres Bandoneonorchesters kommen am 5. April 1929 in der Gaststätte „Stübens Volksgarten“ am Reiherstiegkanal zehn weitere Interessierte hinzu. Sie besorgen sich gebrauchte Instrumente, üben einmal die Woche, wachsen an auf 20, auf 25 Mitglieder. Bald sind sie eine Institution in Wilhelmsburg, keine Feier ohne ihre Musik.
Dann kommen die Nazis – und die Musiker dürfen die jüdischen Schlager nicht mehr spielen; müssen auf Kameradschaftsabenden auftreten. Der Krieg kommt. 1943 muss das Orchester sein Spielen einstellen, nach Kriegsende sind 14 seiner Musiker nicht mehr unter den Lebenden. Mühsam berappelt sich das Orchester wieder. Sie üben in ungeheizten Räumen, kratzen die letzten Pfennige zusammen für Noten und gebrauchte Instrumente. Bald zählt das Orchester wieder 20, 30, schließlich bis zu 40 Musiker, führt wieder ein eigenes Kinderorches-ter: „Die Leute waren ja hungrig, die wollten was erleben, und es gab ja nichts“, erzählt Hans Meier aus der Nachkriegszeit. Einen Saal mit 500, 600 Plätze zu füllen ist kein Problem. Der absolute Hit sind die Karnevalsfeiern, die damals in jedem Wilhelmsburger Verein veranstaltet werden, ob Kaninchenzüchter oder Freiwillige Feuerwehr. Von Anfang Januar bis Ende März geht die Saison, jedes Wochenende wird dazu aufgespielt. „Aber das war nicht wie heute, wo ein Auftritt zwei Stunden dauert, höchstens“, sagt Hilde Meier: „Da wurde die Nacht durchgespielt, von abends um acht bis drei, vier Uhr morgens. Waren wir mit dem Programm durch, na, dann ging’s eben wieder von vorne los.“
Das sie in jenen Tagen zum Orchester stößt, hat sie ihrem Schwiegervater zu verdanken: Großspurig erzählt der eines Abends im Lokal: „Ach, so Lieder spielen, das kann meine Schwiegertochter auch.“ Das will bewiesen werden. Man ruft Hilde Meier an, holt sie mitten in der Nacht dazu. Was der damalige Leiter des Orchesters anschließend zu hören bekommt, gefällt ihm außerordentlich: „Mensch Mädchen, willst du nicht bei uns mitspielen?“ Er muss nicht lange bitten.
An ihren ersten Auftritt kann sich Hilde Meier noch gut erinnern: „Gezittert hab ich am ganzen Leibe wie sonst was; hab nur so getan, als würde ich spielen. Bei so einem großen Orchester, wie wir das damals waren, merkte man das ja nicht.“
Lange ist sie die einzige Frau. Steht einerseits im Mittelpunkt, doch sie hat auch ihre Mühe mit den Kerlen. Besonders die Sauferei nach den Übungsabenden und nach den Auftritten geht ihr gehörig gegen den Strich: „Manchmal wollte ich schon abspringen“, gibt sie zu. Sie hält durch, und die Herren werden langsam ruhiger.
Leider wird es insgesamt gemächlicher – das Publikumsinteresse schwindet. Statt ins Lokal, in einen der Biergärten am Reiherstiegkanal zu gehen, schauen die Leute daheim immer öfter Fernsehen. Auch die Wochenenden werden anders verbracht: „Die Leute haben sich ein Auto gekauft, haben Camping gemacht, weg waren sie“, erinnert sich Hans Meier. Erst recht der Nachwuchs bleibt aus. Das ist nicht nur in Wilhelmsburg so. „Wissen Sie“, sagt er, „wenn sich im Gewerkschaftshaus die großen Arbeiterorchester trafen und aufspielten, das konnte man sich damals gar nicht vorstellen, dass es das eines Tages alles nicht mehr gibt.“
Dann und wann können sie wieder aufstocken, nehmen Musiker auf, die aus sich auflösenden Bandoneonorchestern aus ganz Hamburg zu ihnen kommen. Von drüben von der Veddel, wo es seit 1905 ein Orchester gibt, bringen die letzten Spieler den Namen„Harmonie“ mit.
Mehr schlecht als recht kommt man durch die Siebziger; denkt öfters ans Aufgeben. Erst Ende der Achtziger geht es allmählich wieder aufwärts: Zum einen entdeckt der NDR-Moderator und Volksmusikfreund Jochen Wiegand das Orchester, verhilft ihm zu Auftritten im Rundfunk und im Regionalfernsehen. Wichtiger aber ist das Aufblühen der Stadtteilkultur: Während die Innenstadt verödet, entdecken die Menschen ihr Viertel. Sie wollen dort nicht nur wohnen, sondern leben. Sie fühlen sich wieder als Barmbeker, als einer aus Winterhude, als Wilhelmsburger, und sie wollen dieses wiedergewonnene Heimatgefühl pflegen. „Wir wurden in Wilhelmsburg plötzlich – Kult“, sagt Hans Meier und grinst über dieses Wort. Auch das ist schon etwas länger her. Heute ist es wieder schwierig, einen Veranstalter zu finden, der für die Kosten aufkommt, für den Transport der Instrumente, für Fahrkosten und vor allem die Gebühren für die Musikrechte. Der dafür sorgen kann, dass auch genügend Publikum kommt, dass sich der Aufwand lohnt, sie sind ja nicht mehr die Jüngsten, und Nachwuchs ist erneut nicht in Sicht. Dabei ist ihre Spielfreude ungebrochen. „Ich dachte immer, eines Tages kann ich genug und dann hör ich auf“, erzählt Hilde Meier, „aber so ist das nicht: Denn du wirst immer besser, Jahr für Jahr.“ Und überhaupt: „Aufhören darf man nicht. Sonst vergisst man ja wieder alles, das ist ja auch beim Radfahren oder Schwimmen so.“ Sie übt jeden Tag. „Meine Frau probt – und ich staubsauge“, sagt Hans Meier.
Nicht aufhören zu hoffen, dass sie noch viele gemeinsame Auftritte haben werden, dass sie noch viel Spaß miteinander haben, das will auch Nicola Kaczmarek. Mit Ende 30 ist sie mit Abstand die Jüngste. Lange hat sie sich nicht für das Orchester interessiert, wusste nicht, was die überhaupt für Musik spielen, dabei hat ihr Urgroßvater es mitgegründet, ihr Großvater Alwin Kaczmarek, von Beruf Turbinenbauer, es jahrzehntelang geleitet: „Aber als dann mein Vater auch ins Orchester ging, da dachte ich: Du musst dir diese Rentnerband wenigstens einmal anhören und ansehen.“ Sie geht hin, und es ist der Tango, der sie mitreißt, überzeugt. Ihr Großvater kommt einmal die Woche zu ihr, zeigt ihr Griffe und Melodien. Sie übt die Woche über, spielt ihm beim nächs-ten Mal vor, lernt so das Instrument: „Ganz ernsthaft und dabei locker und ganz ohne Druck – er war ein guter Lehrer.“
Die Stimmung ist plötzlich gedrückt: Erst vor zwei Tagen haben sie Alwin Kaczmarek begraben; ihn, der nicht wegzudenken war. Bis zuletzt hatten sie gehofft, dass er vielleicht wieder auf die Beine kommt und wenigstens dabei sein kann, wenn sie sich treffen, wenn sie wie jeden Mittwochabend stramm ihre zwei Stunden üben und erst nach getaner Arbeit miteinander plaudern.
„Wir schrumpfen“, sagt Helmut Czajka, der aktuelle musikalische Leiter der Truppe, und er stapft zornig quer durch den Saal, raus vor die Tür. Hans Meier sieht ihm nach: „Er hat auf der Beerdingung gespielt, ein Solo, wunderbar. Das ist eine große Sache, das muss man können.“ Nächstes Jahr wird das Orchester 90 Jahre alt. Herr Meier klappt seinen Notenständer zusammen, schlüpft in seine Windjacke und knöpft sie sich langsam zu. Dann sagt er gedehnt und wieder ganz der Organisator: „Wir wollen mal hoffen, dass wir das noch erleben.“