(K)ein Tag wie jeder andere

Weihnachten auf der Platte

(aus Hinz&Kunzt 118/Dezember 2002)

Es wird wohl so sein wie immer am 24. Dezember. Morgens herrscht eine riesen Hektik in der City. Gegen Mittag verschwinden die Menschen. Ruhe senkt sich über die Straßen. Zurück bleiben die, die dort „wohnen“. Hinz & Künztler erzählen.

Für mich ist Weihnachten ein Tag wie jeder andere“, behauptet Motte. Und wie der 53-Jährige das so sagt, sieht er auf einmal irgendwie wehmütig aus. Klar, da kochen sein Kumpel Peter und er was Besonderes. Gulasch und Rotkohl beispielsweise, und klar, da wird der Platz vor C&A geschmückt mit einem Tannenzweig und Teelichtern. „Aber sonst“, Motte schüttelt entschieden den Kopf, „sonst ist alles wie immer.“

Babsi steht in der Küche ihrer Einzimmerwohnung in der Ritterstraße. Der Duft des Puters, der im Backofen schmort, breitet sich in der ganzen Wohnung aus. Die Hinz & Kunzt-Verkäuferin hat es geschafft. Seit drei Jahren hat die 47-Jährige wieder eine Wohnung. Mehr als fünf Jahre hat sie vorher zusammen mit ihrem Freund „Platte“ gemacht – vor dem Briefmarkengeschäft in der City. Babsi beobachtet den Puter, bereitet die Kartoffeln und das Rotkraut vor. Neben ihr steht eine Büchse Bier. Nicht die erste an diesem Morgen. „Ich bin schon froh, dass ich nur noch Bier trinke“, sagt sie. Auch an Weihnachten will sie das durchhalten. Ob sie’s schaffen wird? Mitte Dezember hat ihre Mutter Geburtstag. Da fährt Babsi immer zu ihr nach Bremen. Und von dem Moment an sitzt ihr die Familie im Nacken – mental. Ihre beiden Jungen sind Anfang 20. Mit dem Ältesten telefoniert sie – manchmal.

„Weihnachten ist dazu da, sich dicht zu saufen und die drei Tage schnell zu vergessen“, sagt Peter. Der 48-Jährige kommt vom Dorf, aus einer Großfamilie. Eigentlich, so hat der Katholik gelernt, war Weihnachten „das Fest der Besinnlichkeit und der Familie“. Wunderschön sei das gewesen. Mit Großeltern, Eltern und Geschwistern saßen sie rund um den Tisch. Peter lächelt. „Da wurde getafelt, nur vom Feinsten.“ Dann verdüstert sich sein Gesicht. Im Dezember 1999 starb seine Frau an Leukämie. „Dahingesiecht ist sie, überall diese Schläuche – da hab ich angefangen, mir die Kante zu geben.“ Peter macht eine wegwerfende Handbewegung. „Seitdem mache ich Platte, und seitdem hat Weihnachten keine Bedeutung mehr für mich.“ Um die bösen Gedanken zu verscheuchen, zeigt er auf Motte, mit dem er Platte macht. „Er kriegt ne Dose Bier und ich ne Flasche Schnaps.“ Peter lacht – eine Spur zu laut.

„Weihnachten ist das Fest der Heuchler“, sagt Rolf bitter. „Da gehen alle einmal im Jahr in die Kirche, und das wars.“ Natürlich kriegen auch Obdachlose an jenem Tag mehr als sonst. Oft sind es dieselben Menschen, die sonst grußlos an ihm vorübergehen, die ihn plötzlich ansprechen, ihm ein schönes Fest wünschen. Das verletzt Rolf. „Da ist plötzlich das Herz offen, sonst nicht.“ Zu viel will der 42-Jährige aber nicht über Weihnachten nachdenken. Das macht ihn traurig. Vier Kinder hat er. Kontakt hat er keinen mehr zu ihnen. Seine Stimme wird etwas weicher. „Früher haben wir zusammen gefeiert, richtig mit Gedichte aufsagen und allem drum und dran. Und wir sind in den Michel gegangen, wenn Heinz Rühmann dort gelesen hat.“

„Na ja“, sagt Motte und wiegt bedächtig den Kopf. „Weihnachten, das schlägt schon auf die Stimmung.“ Er will es gar nicht, aber plötzlich schieben sich andere Bilder vor sein inneres Auge. „Meine Frau“, sagt er und schluckt. „Der Tannenbaum – meine Töchter – wie sie fröhlich auf ihre Trommeln schlagen und um den Baum laufen.“ Vor zwölf Jahren starb seine Frau. Damals ging es mit ihm bergab. Seine Töchter sieht er kaum noch. Neulich war er kurz in Berlin zur Einschulung seiner Enkelin. Aber Weihnachten, da will er mit seiner Familie nichts zu tun haben. „Die leben ihr Leben, ich leb meins.“ Lieber den Kontakt nicht zu eng werden lassen. „Sie sollen nicht erfahren, dass ich auf der Straße lebe“, sagt Motte leise.

Der Puter ist fertig. Der Duft – einfach großartig. „Das Rezept stammt noch von meiner Omi“, sagt Babsi. Der Puter muss verpackt werden, die Kartoffeln, das Rotkraut. Die Soße darf nicht auslaufen. Jetzt aber schnell. Schließlich soll das Mahl warm auf die Platte kommen. Die Wahlverwandtschaft wartet schon: Motte, Peter, Rolf und die anderen. „Auch wenn ich jetzt eine Wohnung hab“, sagt sie. „Ich lass die doch nicht im Stich!“ Babsi lächelt, wenn sie an das Straßenmahl denkt. „Oft sind wir zehn Leute und mehr.“

Ganz egal ist Weihnachten ihm doch nicht, sagt Peter. Er hat sogar Einladungen. „Aber da fühle ich mich bloß geduldet.“ Auf der Straße dagegen ist er irgendwie zu Hause. „Wir sind ja auch so eine Art Großfamilie.“ Deshalb freut er sich auch schon auf Babsi und die anderen – und auf den Puter.

Die Kerze muss unbedingt angezündet werden, sagt Rolf. Nicht nur wegen der Feierlichkeit. „Für die gestorbenen Kollegen.“ Einen Moment lang schweigt er. „Besinnlichkeit auf Platte ist auch möglich. Zumindest solange man nicht allein ist. Und das sind wir ja zum Glück nicht.“

bim/abi/mar

Jesus auf St. Pauli

Mit der Kurverwaltung auf dem Kiez unterwegs

(aus Hinz&Kunzt 116/Oktober 2002)

Für die Zeit, in der das Weihnachtsgeschäft schon auf Hochtouren läuft, bietet die Kurverwaltung St.Pauli ein ungewöhnliches Event an: Am 31. Oktober wandeln wir auf Jesus‘ Spuren über den Kiez, machen Station bei der Heilsarmee und erklettern Kirchtürme. Wir erforschen die dunklen Seiten des irdischen Daseins und teilen Wein und Bier.

Das Ganze zum Vorweihnachts-Preis von 45 Euro. Und das Schöne daran ist: Ganz der christlichen Tradition folgend, geht ein Teil des Geldes an eine gemeinnützige Einrichtung: die St. Pauli-Kurverwaltung – und die verteilt den Erlös später an Projekte auf dem Kiez!
Tourguide oder – um im Jargon zu bleiben – Kurschatten an diesem Abend ist Sieghard Wilm, Pastor an der St. Pauli-Kirche am Pinnasberg. „Die Vorstellung, der Mann aus Nazareth gehe über die Reeperbahn, hat Unterhaltungswert“, sagt der Pastor. Und kennt zum Thema eine Menge Geschichten.

Vor ein paar Jahren beispielsweise erregte ein Oldenburger Künstler Aufsehen dadurch, dass er als Jesus verkleidet über den Kiez ging. An einem Ostermorgen verteilte der Aktionskünstler „Brian Divine“ gute Worte und Blumen an Obdachlose. Mit Bart, in langem Gewand und mit Jesuslatschen an den Füßen. „Alles nur Klamauk? Ein Witz, über den wir lachen, weil etwas Tragikkomisches darin steckt?“ Das findet der Kirchenmann vom Pinnasberg ganz und gar nicht.
Denn ausgerechnet auf dem Kiez, der als verruchtester Stadtteil ganz Deutschlands gilt, in dem Rotlicht und Blaulicht angeblich die vorherrschenden Farben sind, Rausch und Absturz näher als sonstwo beieinander liegen, da ist laut Wilm auch Jesus zu Hause. „Wo alle nur labern und gröhlen, ist da ein Mann, der einfach zuhört.“

Denn ausgerechnet dieses harte Pflaster hat von jeher Menschen gereizt, im Namen Jesu gestrandete Seeleute und gefallene Mädchen zu retten, Suppenküchen und Wärmestuben einzurichten, Gottes Liebe und Moral zu predigen. „Der Kiez war immer ein Ort, an dem sich der Glaube in Tat und Wort einem Härtetest stellen wollte“, sagt der Pastor.
Wer allerdings Sozialromantik und Gossenidyll sucht, wird schnell enttäuscht. „Auf St. Pauli kann man vom Glauben abfallen – von einem falschen Glauben. Alles, was unecht ist, fliegt hier auf“, sagt Wilm.

Durch diesen spannenden Stadtteil voller Gegensätze will er seine „Kurgäste“ führen. Und wo könnte der Abend am besten seinen kulinarischen Höhepunkt haben? Natürlich im „Abendmahl“ auf dem Hein-Köllisch-Platz.

tk/bim

Die neue Hinz&Kunzt ist da – und sieht anders aus!

Titel_202Ab morgen auf Hamburgs Straßen und Plätzen: Die Hinz&Kunzt-Dezemberausgabe. In neuem Look, aber immer noch Ihr Hamburger Straßenmagazin.

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