Der Chef vom Weihnachtsmann

Hein Gas präsentiert: Menschen in der 2. Reihe

(aus Hinz&Kunzt 118/Dezember 2002)

Bambi, Oskar, Bundesverdienstkreuz – immer werden die ausgezeichnet, die sowieso schon im Rampenlicht stehen. In unserer Serie stellen wir „Menschen in der 2. Reihe“ vor. Diesmal: Weihnachtsmann Werner Killian.

Der Jüngste der Familie versteckt sich hinter seiner Mutter. Seit Wochen freut er sich auf den berühmten Besuch. Aber als der leibhaftig im Wohnzimmer steht, ist er für den Jungen nur ein fremder, bärtiger Mann, der zu allem Überfluss einen riesigen Sack aufhält. Dem großen Bruder ist es zu verdanken, dass es keine Tränen gibt. Der geht schon zur Schule und hat vor fast gar nichts mehr Angst. An seiner Hand traut sich der Jüngere hervor.

Der Weihnachtsmann, unter dessen weißen Brauen etwas zu junge Augen blitzen, schlägt sein „goldenes Himmelsbuch“ auf. Dort liest er, dass der Kleine zu viele Süßigkeiten isst. Mami lächelt zufrieden – als hätte sie selbst dafür gesorgt, dass der Hinweis ins Himmelsbuch aufgenommen wird. Eltern können grausam sein. Aber als die Geschenke aus dem Sack verteilt werden, ist sowieso alles egal. Der Gescholtene zieht sich in eine Ecke zurück, das Geschenkpapier fliegt in Fetzen durch die Luft, und der Weihnachtsmann ist komplett vergessen.

Nach ein paar Minuten drängt Papi, weil er nur für eine Viertelstunde bezahlt hat: „Der Weihnachtsmann muss gleich weiter, kommt doch noch mal her.“ Schließlich soll der Junior das Tannenbaumbild nicht umsonst gemalt haben. Der Bärtige bedankt sich, lehnt den Schnaps zum Aufwärmen ab – auch Rentierschlitten lenken sich nicht von allein – und ist wieder auf der Straße.

Weihnachtsmann Werner Killian muss sich sputen. Das nächste Kind wartet ein paar Straßen weiter. Die Adresse steht im Himmelsbuch, einem alten in Goldpapier eingeschlagenen Fotoalbum, Killians Tochter hat es mit ein paar Aufklebern verziert. Bei der Adresse ist auch vermerkt, wo vorm Haus die Eltern die Geschenke versteckt haben. Der Weihnachtsmann springt in seinen dunkelblauen Golf und reißt den Bart runter: „Der ist beim Autofahren zu warm, da beschlagen sofort die Scheiben. Aber man muss aufpassen, dass die Kinder nicht am Fenster stehen und das mitkriegen.“ Am 24. Dezember, dem stressigsten Tag im Jahr, fährt er manchmal einen heißen Reifen. Auch wenn die anderen Verkehrsteilnehmer den rasenden Santa Claus irritiert angucken.

Wie er flitzen an diesem Abend 20 weitere Weihnachtsmänner auf minutiös durchgeplanten Touren durch Hamburg. Killian hat sie eingestellt, als das „Weihnachtsmann-Geschäft“ vor ein paar Jahren zu boomen begann. Die „heiße Phase“ beginnt am Mittag. Killian hat einen großen Raum in der Nähe seiner Wohnung gemietet. Alles liegt hier voller Mäntel und Bärte, Rot und Weiß, wohin man schaut. Nur der „Glücksmantel“ vom Chef ist nicht mehr weiß, sondern rosa gefüttert. „Ich habe die Mäntel zum ersten Mal selbst gewaschen, und außgerechnet meiner verfärbt sich!“, ärgert er sich. Das Kostüm bedeutet ihm viel, er trägt es seit 15 Jahren bei jedem Auftritt.

Damals besuchte er nur ein paar Familien in Pinneberg. Heute steht er zwischen seinen 20 Weihnachtsmännern, die überall nördlich der Elbe auf Tour gehen. Seine Frau schminkt im Akkord: das Gesicht braun, die Wangen rot. Auf die Augenbrauen schmiert sie Deckweiß aus dem Farbenkasten der Tochter. Deckweiß verläuft nicht, egal wie viel geschwitzt wird.

Denn beim ersten Auftritt haben alle Lampenfieber, und viele sind zum ersten Mal dabei. Weil Killian seine Männer von der Uni rekrutiert, gehen sie oft nur einmal mit auf Tour. „Wenn ich im nächsten Jahr wieder anrufe, durchwandert der eine gerade eine Wüste, der nächste ist fertig mit dem Studium oder längst in eine andere WG gezogen, und keiner kann mir die Adresse sagen“, so Killian.

Eines fällt auf: Viele der Studenten, die sich hier in Weihnachtmänner verwandeln, sind türkischer Abstammung. Denn als Moslems müssen sie den Weihnachtstag nicht bei ihrer Familie verbringen. Außerdem ist Killian mit den Weihnachtsmännern vom Bosporus sehr zufrieden: „Die türkischen Männer können oft besser mit Kindern umgehen als die deutschen.“

Kurz vor 16 Uhr geht es los, die Weihnachtsmänner verlassen das Haus. Jeder wirft noch einen Blick auf die Zubehör-Check-Liste, die Killian an die Tür gepinnt hat („Bart? Sack? Himmelsbuch?“). Zu oft ist es vorgekommen, dass einer seiner Weihnachtsmänner ohne Sack mit Geschenken vor den Kindern stand.

Jetzt kann Killian nur noch hoffen, dass alles gut geht. Zwar muss vorher jeder seine „Weihnachtsmannschule“ durchlaufen, Videos von gelungenen Darbietungen ansehen und dem Chef ein paarmal den Weihnachtsmann vorspielen. Aber auf die eigentliche Herausforderung wird niemand vorbereitet: das Hamburger Familienleben, das zu Weihnachten an einem dünnen Faden hängt. Hinter jeder Haustür erwartet den Weihnachtsmann etwas anderes. Meist stehen Killian und seine Leute in geschmückten Wohnzimmern, vor herausgeputzten Familien und festlich gedeckten Tafeln.

Aber es ist auch schon vorgekommen, dass ein Vater im Unterhemd und mit einer Dose Bier in der Hand die Tür geöffnet hat. Oder die Mutter ohne Kinder da saß, weil ihr geschiedener Mann die zu Weihnachten nicht rausgerückt hat. Schwierig, da Feststimmung zu verbreiten.

Der Vortrag aus dem Himmelsbuch hat auch seine Tücken. Telefonisch wird mit den Eltern abgesprochen, was das Kind zu hören kriegt. Leicht ist es, wenn nur Kleinigkeiten beanstandet werden sollen: Geh früher zu Bett, schau nicht so viel fern, konzentrier dich mehr in der Schule. Aber manche Familien faxen mehrere Din-A-4 Seiten mit Unarten durch, bei denen eigene Erziehungsbemühungen scheitern. Killian macht nicht alles. Einem kleinen Jungen sollte er Grüße vom kürzlich verstorbenen Vater übermitteln. Da hat er sich geweigert.

Wehe, einer der Weihnachtsmänner verspätet sich. Dann steht in Killians Wohnung das Telefon nicht still. Und irgendeine Tour geht jedes Jahr schief. Ein Himmelsbuch bleibt liegen, der Sack wird vergessen, das Auto gibt den Geist auf. Oder der Verkehr macht der Zeitplanung einen Strich durch die Rechnung. Vor allem wenn es mal schneit.

„In vielen Familien ist Weihnachten genau durchgeplant. Erst kommen die Großeltern, dann geht’s in die Kirche, danach kommt der Weihnachtsmann, und dann wird gegessen. Da darf nichts durcheinander geraten“, so der 43-Jährige. Den wüsten Anrufen mit Kinderweinen im Hintergrund entgeht der Chef der Weihnachtsmänner, weil er selbst unterwegs ist. Bis er heimkommt, haben sich die Gemüter wieder beruhigt.

Den Spaß an der Arbeit hat Werner Killian nie verloren: „Wenn man ins Wohnzimmer kommt, steht man oft in einem richtigen Blitzlichgewitter, da fühlt man sich wie ein kleiner Star. Und alle freuen sich auf dich, das ist schon toll.“

Obwohl es der arbeitsreichste Tag im Jahr ist – mit seiner Tochter feiert er auch noch, „kurz, aber intensiv“. Sie ist sechs und glaubt an den Weihnachtsmann. Zwar weiß sie, dass ihr Vater ihm zur Hand geht, weil es so viel zu tun gibt. Aber der, der jedes Jahr bei der Bescherung zu ihr kommt, ist der Echte. Dafür hat sie den Beweis, schließlich sitzt Papa auf dem Sofa.

Marc-André Rüssau

(K)ein Tag wie jeder andere

Weihnachten auf der Platte

(aus Hinz&Kunzt 118/Dezember 2002)

Es wird wohl so sein wie immer am 24. Dezember. Morgens herrscht eine riesen Hektik in der City. Gegen Mittag verschwinden die Menschen. Ruhe senkt sich über die Straßen. Zurück bleiben die, die dort „wohnen“. Hinz & Künztler erzählen.

Für mich ist Weihnachten ein Tag wie jeder andere“, behauptet Motte. Und wie der 53-Jährige das so sagt, sieht er auf einmal irgendwie wehmütig aus. Klar, da kochen sein Kumpel Peter und er was Besonderes. Gulasch und Rotkohl beispielsweise, und klar, da wird der Platz vor C&A geschmückt mit einem Tannenzweig und Teelichtern. „Aber sonst“, Motte schüttelt entschieden den Kopf, „sonst ist alles wie immer.“

Babsi steht in der Küche ihrer Einzimmerwohnung in der Ritterstraße. Der Duft des Puters, der im Backofen schmort, breitet sich in der ganzen Wohnung aus. Die Hinz & Kunzt-Verkäuferin hat es geschafft. Seit drei Jahren hat die 47-Jährige wieder eine Wohnung. Mehr als fünf Jahre hat sie vorher zusammen mit ihrem Freund „Platte“ gemacht – vor dem Briefmarkengeschäft in der City. Babsi beobachtet den Puter, bereitet die Kartoffeln und das Rotkraut vor. Neben ihr steht eine Büchse Bier. Nicht die erste an diesem Morgen. „Ich bin schon froh, dass ich nur noch Bier trinke“, sagt sie. Auch an Weihnachten will sie das durchhalten. Ob sie’s schaffen wird? Mitte Dezember hat ihre Mutter Geburtstag. Da fährt Babsi immer zu ihr nach Bremen. Und von dem Moment an sitzt ihr die Familie im Nacken – mental. Ihre beiden Jungen sind Anfang 20. Mit dem Ältesten telefoniert sie – manchmal.

„Weihnachten ist dazu da, sich dicht zu saufen und die drei Tage schnell zu vergessen“, sagt Peter. Der 48-Jährige kommt vom Dorf, aus einer Großfamilie. Eigentlich, so hat der Katholik gelernt, war Weihnachten „das Fest der Besinnlichkeit und der Familie“. Wunderschön sei das gewesen. Mit Großeltern, Eltern und Geschwistern saßen sie rund um den Tisch. Peter lächelt. „Da wurde getafelt, nur vom Feinsten.“ Dann verdüstert sich sein Gesicht. Im Dezember 1999 starb seine Frau an Leukämie. „Dahingesiecht ist sie, überall diese Schläuche – da hab ich angefangen, mir die Kante zu geben.“ Peter macht eine wegwerfende Handbewegung. „Seitdem mache ich Platte, und seitdem hat Weihnachten keine Bedeutung mehr für mich.“ Um die bösen Gedanken zu verscheuchen, zeigt er auf Motte, mit dem er Platte macht. „Er kriegt ne Dose Bier und ich ne Flasche Schnaps.“ Peter lacht – eine Spur zu laut.

„Weihnachten ist das Fest der Heuchler“, sagt Rolf bitter. „Da gehen alle einmal im Jahr in die Kirche, und das wars.“ Natürlich kriegen auch Obdachlose an jenem Tag mehr als sonst. Oft sind es dieselben Menschen, die sonst grußlos an ihm vorübergehen, die ihn plötzlich ansprechen, ihm ein schönes Fest wünschen. Das verletzt Rolf. „Da ist plötzlich das Herz offen, sonst nicht.“ Zu viel will der 42-Jährige aber nicht über Weihnachten nachdenken. Das macht ihn traurig. Vier Kinder hat er. Kontakt hat er keinen mehr zu ihnen. Seine Stimme wird etwas weicher. „Früher haben wir zusammen gefeiert, richtig mit Gedichte aufsagen und allem drum und dran. Und wir sind in den Michel gegangen, wenn Heinz Rühmann dort gelesen hat.“

„Na ja“, sagt Motte und wiegt bedächtig den Kopf. „Weihnachten, das schlägt schon auf die Stimmung.“ Er will es gar nicht, aber plötzlich schieben sich andere Bilder vor sein inneres Auge. „Meine Frau“, sagt er und schluckt. „Der Tannenbaum – meine Töchter – wie sie fröhlich auf ihre Trommeln schlagen und um den Baum laufen.“ Vor zwölf Jahren starb seine Frau. Damals ging es mit ihm bergab. Seine Töchter sieht er kaum noch. Neulich war er kurz in Berlin zur Einschulung seiner Enkelin. Aber Weihnachten, da will er mit seiner Familie nichts zu tun haben. „Die leben ihr Leben, ich leb meins.“ Lieber den Kontakt nicht zu eng werden lassen. „Sie sollen nicht erfahren, dass ich auf der Straße lebe“, sagt Motte leise.

Der Puter ist fertig. Der Duft – einfach großartig. „Das Rezept stammt noch von meiner Omi“, sagt Babsi. Der Puter muss verpackt werden, die Kartoffeln, das Rotkraut. Die Soße darf nicht auslaufen. Jetzt aber schnell. Schließlich soll das Mahl warm auf die Platte kommen. Die Wahlverwandtschaft wartet schon: Motte, Peter, Rolf und die anderen. „Auch wenn ich jetzt eine Wohnung hab“, sagt sie. „Ich lass die doch nicht im Stich!“ Babsi lächelt, wenn sie an das Straßenmahl denkt. „Oft sind wir zehn Leute und mehr.“

Ganz egal ist Weihnachten ihm doch nicht, sagt Peter. Er hat sogar Einladungen. „Aber da fühle ich mich bloß geduldet.“ Auf der Straße dagegen ist er irgendwie zu Hause. „Wir sind ja auch so eine Art Großfamilie.“ Deshalb freut er sich auch schon auf Babsi und die anderen – und auf den Puter.

Die Kerze muss unbedingt angezündet werden, sagt Rolf. Nicht nur wegen der Feierlichkeit. „Für die gestorbenen Kollegen.“ Einen Moment lang schweigt er. „Besinnlichkeit auf Platte ist auch möglich. Zumindest solange man nicht allein ist. Und das sind wir ja zum Glück nicht.“

bim/abi/mar

Jesus auf St. Pauli

Mit der Kurverwaltung auf dem Kiez unterwegs

(aus Hinz&Kunzt 116/Oktober 2002)

Für die Zeit, in der das Weihnachtsgeschäft schon auf Hochtouren läuft, bietet die Kurverwaltung St.Pauli ein ungewöhnliches Event an: Am 31. Oktober wandeln wir auf Jesus‘ Spuren über den Kiez, machen Station bei der Heilsarmee und erklettern Kirchtürme. Wir erforschen die dunklen Seiten des irdischen Daseins und teilen Wein und Bier.

Das Ganze zum Vorweihnachts-Preis von 45 Euro. Und das Schöne daran ist: Ganz der christlichen Tradition folgend, geht ein Teil des Geldes an eine gemeinnützige Einrichtung: die St. Pauli-Kurverwaltung – und die verteilt den Erlös später an Projekte auf dem Kiez!
Tourguide oder – um im Jargon zu bleiben – Kurschatten an diesem Abend ist Sieghard Wilm, Pastor an der St. Pauli-Kirche am Pinnasberg. „Die Vorstellung, der Mann aus Nazareth gehe über die Reeperbahn, hat Unterhaltungswert“, sagt der Pastor. Und kennt zum Thema eine Menge Geschichten.

Vor ein paar Jahren beispielsweise erregte ein Oldenburger Künstler Aufsehen dadurch, dass er als Jesus verkleidet über den Kiez ging. An einem Ostermorgen verteilte der Aktionskünstler „Brian Divine“ gute Worte und Blumen an Obdachlose. Mit Bart, in langem Gewand und mit Jesuslatschen an den Füßen. „Alles nur Klamauk? Ein Witz, über den wir lachen, weil etwas Tragikkomisches darin steckt?“ Das findet der Kirchenmann vom Pinnasberg ganz und gar nicht.
Denn ausgerechnet auf dem Kiez, der als verruchtester Stadtteil ganz Deutschlands gilt, in dem Rotlicht und Blaulicht angeblich die vorherrschenden Farben sind, Rausch und Absturz näher als sonstwo beieinander liegen, da ist laut Wilm auch Jesus zu Hause. „Wo alle nur labern und gröhlen, ist da ein Mann, der einfach zuhört.“

Denn ausgerechnet dieses harte Pflaster hat von jeher Menschen gereizt, im Namen Jesu gestrandete Seeleute und gefallene Mädchen zu retten, Suppenküchen und Wärmestuben einzurichten, Gottes Liebe und Moral zu predigen. „Der Kiez war immer ein Ort, an dem sich der Glaube in Tat und Wort einem Härtetest stellen wollte“, sagt der Pastor.
Wer allerdings Sozialromantik und Gossenidyll sucht, wird schnell enttäuscht. „Auf St. Pauli kann man vom Glauben abfallen – von einem falschen Glauben. Alles, was unecht ist, fliegt hier auf“, sagt Wilm.

Durch diesen spannenden Stadtteil voller Gegensätze will er seine „Kurgäste“ führen. Und wo könnte der Abend am besten seinen kulinarischen Höhepunkt haben? Natürlich im „Abendmahl“ auf dem Hein-Köllisch-Platz.

tk/bim

Die neue Hinz&Kunzt ist da – und sieht anders aus!

Titel_202Ab morgen auf Hamburgs Straßen und Plätzen: Die Hinz&Kunzt-Dezemberausgabe. In neuem Look, aber immer noch Ihr Hamburger Straßenmagazin.

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