Kantinenklatsch vom Kenner

„50 Jahre Thalia Kantine“ heißt das Revuestück mit viel Musik aus fünf Jahrzehnten und vielen Anekdoten und Geschichten, die keiner besser kennt als er: Peter Maertens, der durch das Stück führt. Unter sieben Intendanten hat er gespielt. Einer davon war sein Vater.

(aus Hinz&Kunzt 212/Oktober 2010)

„Theaterspielen macht mich stark“

Das Leben ist zu schön, um einfach zu sein – so lautet der Untertitel des Simple Life Festivals auf Kampnagel. Neben vielen internationalen Schauspielgruppen stehen auch zehn selbstbewusste Hamburger Jugendliche mit Migrationshintergrund auf der Bühne.

01_HK213_Titel_RZ2.inddDies ist kein Liebeslied. Doch, natürlich, es heißt sogar „Kissing you“ und stammt aus dem Soundtrack von Romeo und Julia. Aber als die Musik einsetzt und Bianca zu tanzen beginnt, spiegelt sich in ihrem Gesicht keine Spur von Verliebtheit. Auch ihre Bewegungen drücken andere Gefühle aus: erst Schmerz und Sehnsucht, dann Kraft und Entschlossenheit. Bianca schließt die Augen, konzentriert sich, geht ganz in ihrer Rolle auf.

Das 19-jährige Mädchen aus Kolumbien feilt auf Kampnagel gemeinsam mit neun anderen Jugendlichen an einer Choreografie für die Theaterproduktion „Lady Lady on the sea-shore“. Mitte November ist Premiere – auch für Bianca: „Es ist das erste Mal, dass ich vor Publikum spiele.“ Doch nicht nur das: Bianca hat wie die anderen Teilnehmer das Stück sogar mit geschrieben. Es sind größtenteils ihre eigenen Biografien, die hier erzählt, gespielt, getanzt werden: Die Lebensgeschichten von zehn Hamburgern mit Migrationshintergrund, deren Gefühlswelt zwischen Heimweh und Zerrissenheit, vor allem aber Abenteuer und neuem Glück pendelt. „Jeder bringt seine Erinnerungen, Erlebnisse und Emotionen ein“, fasst Regisseur Evgeni Mestetschkin zusammen. Er ließ die Jugendlichen ihre Alltagserfahrungen und Gefühle aufschreiben, aus den Texten entwickelte die Gruppe dann gemeinsam das Stück – das ausdrücklich kein „Rührstück“ werden soll: „Jeder Teilnehmer ist eine starke Persönlichkeit“, betont Evgeni, „wir brauchen kein Mitleid.“
Bindeglied zwischen den einzelnen Passagen sind verschiedene Abzählreime, deswegen wählte Evgeni auch den englischen Kinderreim „Lady Lady on the sea-shore“ als Titel. „Fast jedes Kind, egal in welchem Land, wächst mit Abzählreimen auf“, erklärt er. „Sie gehören zur eigenen Geschichte und der der ganzen Familie, da sie meist durch die Eltern oder Großeltern weitergegeben werden. Außerdem haben sie einen schönen Rhythmus, passend zu unseren Choreografien.“
Beim Simple Life Festival auf Kampnagel, einem zehntägigen Festival mit na­tionalen und internationalen Produktionen, führt die Gruppe ihr Stück auf. Während „Lady Lady on the sea-shore“ selbstbewusste junge Mig­ranten zeigt, geht es in den anderen Produktionen um Menschen am Rande der Gesellschaft, um die Themen Armut und Isolation. Deshalb der Untertitel: „Das Leben ist zu schön, um einfach zu sein.“ Auch das Leben mit Behinderungen
bildet einen Schwerpunkt: In einer französischen Gruppe arbeiten geistig beeinträchtigte Schauspieler mit, und in einer afrikanischen Gruppe präsentieren körperbehinderte Darsteller eine aufwendige Tanzchoreografie.
„Alles hochprofessionell“, schwärmt Jutta Schubert, die künstlerische Leiterin des Festivals. Vor sechs Jahren veranstaltete sie mit dem Verein Eucrea, einem Netzwerk für behinderte Künstler, bereits eine erfolgreiche Simple-Life-Ausgabe in Berlin: „Es war wie ein Rausch, wir hatten fast immer volles Haus.“ Nun hofft sie auch in Hamburg auf guten Publikumszuspruch. Und darauf, dass es bald nicht mehr wichtig ist, ob Berufsschauspieler, Laiendarsteller, Obdachlose, Arbeitslose oder Behinderte auf der Bühne stehen: „Wenn Aufführungen von Behinderten stattdessen extra gekennzeichnet sind, und ausschließlich andere Behinderte hingekarrt werden – das finde ich ganz furchtbar.“ Jutta Schubert geht es um Qualität, um gutes Theater, „egal, von wem“.
Bianca macht es vor, übt selbstbewusst ein und dieselbe Tanzszene, bis alles perfekt sitzt. Wie die anderen Teilnehmer von „Lady Lady on the sea-shore“ kam sie über das Projekt „Jumbo“ (Junge MigrantInnen – Beruf und Orientierung) von Mook wat e.V. in die Theatergruppe. „Es macht unglaublich viel Spaß“, sagt sie. Schauspielerin möchte sie allerdings nicht werden, sie hat andere Pläne: „Ich will Jura studieren.“
Für diesen Wunsch verließ sie vor gut anderthalb Jahren ihre Heimat und zog gemeinsam mit ihrem Bruder nach Hamburg – ohne ein Wort Deutsch zu sprechen: „Das hatte ich nie gelernt, obwohl mein Großvater aus Deutschland kommt.“ Heute beherrscht sie die Sprache bereits perfekt. „Na klar“, sagt sie, „ich habe sofort einen Kurs gemacht und jeden Tag geübt.“ Es sei ein gutes Gefühl, sich schnell alleine zurechtzufinden und unabhängig zu sein. Und sie glaubt: „Mit einem Studium in Deutschland habe ich bessere Zukunftschancen.“
„Natürlich vermisse ich meine Eltern“, erzählt sie, „aber wir telefonieren fast jeden Tag oder schreiben E-Mails. Und zu Weihnachten und im Sommer besuchen wir uns.“ Wenn sie sich trotzdem einsam fühlt oder die kolumbianische Sonne vermisst, hilft ihr das Theaterspielen: „Da kann ich alles rauslassen, das macht mich stark.“
Meist ist sie sowieso fröhlich: Migration bedeutet für sie in erster Linie, in neue Kulturen einzutauchen und neue Spra­chen zu lernen – „das ist doch super!“ Deshalb legt Bianca sich auch noch nicht fest, ob sie dauerhaft in Hamburg bleiben, irgendwann nach Kolumbien zurückkehren oder ganz woanders leben möchte. „Ich bin da offen. Auch Australien reizt mich.“ Sie überlegt. „Oder Afrika.“
Ihr Mitspieler Kiril hingegen hat in Hamburg seine neue Heimat gefunden. Der 18-Jährige sagt: „Ein Wochenende ohne Fischmarktbesuch kann ich mir gar nicht mehr vorstellen.“ Kiril war fünf, als seine Eltern mit ihm und seinem älteren Bruder von Moldawien aus nach Deutschland flohen – in Moldawien herrschte damals Krieg und Kirils Bruder sollte als Soldat eingezogen werden: „Das wollten meine Eltern nicht.“ In Hamburg lebten sie anfangs in einer kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung auf der Reeperbahn, später zogen sie nach Horn. In der Schule fand Kiril schnell neue Freunde, seinen Eltern fiel die Eingewöhnung schwerer: „Mein Vater hatte BWL studiert, fand hier aber nur Arbeit als Tankwart. Das war schon bitter.“ Seine Mutter jobbte anfangs in einer Dönerbude, heute arbeitet sie als Redakteurin für russischsprachige Zeitungen.
Kiril selbst ging nach seinem Realschulabschluss zur Höheren Handelsschule, machte dann verschiedene Praktika. „Ich wollte erst mal herausfinden, was mir überhaupt liegt.“ Jetzt weiß er es, und deshalb nutzt er das Theaterprojekt vor allem, um an seiner Koordination und Beweglichkeit zu arbeiten. Nebenbei lernt er eifrig schwimmen. Schließlich muss er sportlich topfit sein, um die Aufnahmeprüfung für seinen Traumjob zu bestehen. Schon jetzt freut er sich auf „einen sicheren Arbeitsplatz, Karriere, gute Bezahlung“. Er grinst. Und verrät: „Ich will Polizist werden.“

Text: Maren Albertsen
Foto: Cornelius M. Braun

„Die wollen aus dem Elend raus“

Feridun Zaimoglu im Hinz&Kunzt-Gespräch über Einwandererkinder, den Islam und das kreative Potenzial von Jugendlichen aus sozialen Brennpunkten

(aus Hinz&Kunzt 196/Juni 2009)

Feridun Zaimoglu kam mit seinen Eltern aus der Türkei nach Deutschland. Heute ist er bildender Künstler und Schriftsteller und arbeitet mit deutschen Kids mit ausländischen Wurzeln am Theater.

Der alte Mann und das Mehr

Weltenbummler Hardy Krüger hat einen Roman geschrieben, ein Bühnenstück verfasst und feiert am Ernst-Deutsch-Theater die Uraufführung. Petra Neumann traf den Filmstar in Hamburg

Bühne, Business, Humor

Theater für Unternehmen: „Scharlatan“-Schauspieler schulen Hinz & Kunzt-Verkäufer

(aus Hinz&Kunzt 140/Oktober 2004)

„Junger Mann, hallo, hallo“, ruft Eckhardt im Ballonseidenanzug und hält den Passanten am Arm fest. „Hinz & Kunzt, das Stadtteilmagazin! Ist nicht der ,Stern‘, ist was für Obdachlose!“ „Kenne ich schon“, erwidert der junge Mann und versucht, seinen Weg fortzusetzen. Aber Eckhardt lässt nicht los: „Pass mal auf, das ist die neueste Ausgabe.“ „Die hab’ ich schon.“ „Aber die ist mit CD.“ „Wie CD?“ „Das ist’ ne Zeitung mit CD drin.“ „Ach, hab’ ich schon gehört.“ „Aber haste noch nicht gekauft, kostet nur vier Euro.“ „Ich brauch’ die aber gar nicht.“ „Ist mir doch egal.“ „Bitte …?!“

Solo für zwei

Die Zwillinge Otto und Jirí Bubenícek tanzen bei John Neumeier

(aus Hinz&Kunzt 124/Juni 2003)

Da weiß man doch sofort, welcher der Zwillingsbrüder Bubenícek welcher ist: Der da im blauen T-Shirt, der da so ruhig und manierlich mit seinen Tänzerkollegen am Kantinentisch sitzt und parliert, muss Otto sein, Erster Solist am Hamburg Ballett, Entdeckung von John Neumeier. Und der da, der gerade reinkommt, sich schwungvoll hinsetzt und gleich den ganzen Tisch zum Lachen bringt, ist natürlich sein Zwillingsbruder Jirí, ebenfalls Erster Solist am Hamburg Ballett und natürlich auch eine Entdeckung von John Neumeier. Denn Otto, so weiß der Experte, ist der Zurückhaltendere von beiden, der oft die melancholischeren oder tieferen Rollen bekommt, Jirí der Quirligere, der jetzt auch eigene Choreografie-Projekte hat.

Pustekuchen, natürlich ist es genau umgekehrt. Aber später beim Gespräch in der Bibliothek des Ballettzentrums rückt alles wieder an seinen Platz. Jirí, der gerade eine Miniskusoperation hinter sich hat, trommelt mit den Fingern auf die Tischplatte, antwortet schnell und man spürt, da will einer ganz schnell wieder auf die Bühne. Otto dagegen sinniert den Bruchteil einer Sekunde länger – und kommt deswegen oft nicht ganz so schnell zu Wort.

Zehn Jahre sind die 28-jährigen eineiigen Zwillinge jetzt bei John Neumeier in Hamburg. Der Ballettchef hatte die Brüder einige Zeit zuvor bei einem Wettbewerb in Lausanne entdeckt. Neumeier saß mit in der Jury, die beiden gewannen den ersten Preis, und Neumeier bot ihnen an, in seine Ballettschule nach Hamburg zu kommen. Aber die beiden zeigten gutes Selbstbewusstsein. „Wir gingen in Prag schon auf eine gute Schule“, sagt Jirí. „Die wollten wir zu Ende machen.“

Nach dem Konservatorium, beide waren inzwischen 18 Jahre alt, fragten sie nochmal bei Neumeier an und wurden ins Ensemble aufgenommen. Wieder mal ein Abschied. Das kannten die Gebrüder Bubenícek schon seit ihrer Kindheit. Otto fiel er immer besonders schwer.

Die beiden Brüder stammen aus einer tschechischen Zirkusfamilie. Bis sie acht Jahre alt waren, fuhren sie mit ihren Eltern, Akrobaten, mit den anderen Artisten und Tieren durch die Lande. Unterrichtet wurden sie mit acht anderen Kindern in einer Art Zwergenschule. „In der ersten Reihe saßen die Erstklässler, in der zweiten die Zweitklässler, in der dritten die Drittklässler“, zählt Jirí auf. Und so weiter. Für die Geschwister gabs allerdings kein Undsoweiter, sondern ihren ersten großen Abschied. Sie sollten auf eine richtige Schule gehen – und tanzen lernen. „Darauf legte unser Vater großen Wert“, sagt Jirí. Ballett galt zumindest in ihrer Familie nicht etwa als affektiert und als nur etwas für Mädchen. „Unser Vater war der Meinung, dass man so am besten eine elegante Haltung und Körperbeherrschung lernt.“

Richtig Lust dazu hatten die Jungs zuerst trotzdem nicht, denn sie mussten ihr Zirkusleben aufgeben und nach Prag zu ihrer Großmutter übersiedeln. „Das war zwar toll“, sagt Otto, aber er erinnert sich immer noch daran, dass die Eltern mal fünf Monate lang auf Tournee in Japan waren. „Ich hab sie schon sehr vermisst.“

Trotzdem: Das Tanzen wurde zur großen Leidenschaft. Prag zu verlassen und weg in die große Welt zu gehen, „war immer unser Traum“, sagt Jirí heute. Unbekümmert sagt er das. Auch den Umzug in den Westen hat er gut gewuppt. „Ich habe gerade anfangs meine Freunde sehr vermisst“, sagt Otto. „Und auch, dass ich nicht mehr in meiner Sprache sprechen konnte.“

Nicht nur in dieser Zeit waren sich die beiden eine große Stütze. Schließlich verbringen sie den ganzen Tag in der Ballettschule zusammen. Getrennt waren die Brüder höchstens mal für einen Monat. In den Ferien. Und selbst da reißt die innere Verbindung nicht ab: Vor ein paar Jahren waren sie beide – wieder mal – getrennt im Urlaub. Otto in Monte Carlo und Jirí in Florida. „Wir riefen gleichzeitig bei unserer Mutter an, der eine auf der einen Leitung, der andere auf der anderen, um sie zu fragen, wie es dem jeweils anderen geht.“ 

Wohnen tun die beiden allerdings nicht zusammen. Otto lebt in der Nähe der Schule in Hamm, Jirí in Winterhude. Und worauf alle Geschwister neidisch sein können: „So etwas wie Eifersucht gibt es zwischen uns nicht“, sagt Jirí, und sein Bruder nickt. Nicht mal in puncto Frauen. „Wir haben einen unterschiedlichen Geschmack“, sagt Otto. „Jirí hat immer ruhigere Freundinnen, ich eher verrückte.“ Davon hat Otto allerdings gerade genug. „Ich bin momentan Single.“ Natürlich streiten sich die beiden auch mal, „allerdings nur über die Arbeit.

Wir sind schließlich zwei ganz unterschiedliche Persönlichkeiten.“ Und selbst eine Trennung können sich die beiden vorstellen. „Wenn wir beide Frauen haben“, sagt Otto. „Es ist schließlich leichter, nur für zwei Menschen zu entscheiden als für vier.“ Jirí hofft, dass das bald der Fall sein wird. Er wünscht sich eine Familie. Und: „Ich bin auch bereit, mein eigenes Leben zu leben. Und ich glaube jetzt schon manchmal, dass wir ein zu enges Verhältnis haben.“

Auf der Bühne allerdings kann es beiden nicht eng genug sein. „Ich will nicht besser sein als Otto“, sagt Jirí über gemeinsame Auftritte. „Aber ich will ihm ganz nah sein, nur mit ihm kann ich eine richtige Harmonie herstellen“, sagt er. „Deswegen können wir hervorragend synchron tanzen.“ Besonders macht sich das beim Pas de Deux bemerkbar. „Das ist schon sehr speziell“, sagt Jirí. Nicht zuletzt deshalb, weil diese Schrittfolge für Zwei normalerweise ein Mann und eine Frau tanzen.

Vorerst allerdings freuen sich die Brüder auf ihren Wiedereinstieg ins aktive Tanzen. Denn nicht nur Jirí war krank, sondern, wie es sich für einen Zwilling gehört, auch Otto. Wenn er auch etwas völlig anderes hatte: eine Entzündung am Fuß. In „Peer Gynt“ wird Otto den Eros tanzen und sein Bruder die Aggression. „Eine Pause, wie wir sie jetzt hatten, ist manchmal ganz wertvoll“, sagt Jirí. „Denn wer tanzt, lebt manchmal zu wenig – und ist erschöpft.“

Dazu braucht man unbedingt ein Privatleben. Dabei ist es ganz nützlich, dass die beiden auf der Straße nicht unbedingt erkannt werden. Nicht so wie eine von Ottos Freundinnen: eine gewisse Juliette, Ex-Superstar, die früher übrigens auch mal im Ballettzentrum tanzte. „Die muss jetzt ständig Autogramme geben“, sagt Otto. „Wer ein Privatleben hat, bekommt wieder neue Impulse“, sagt Otto und folgt Jirí in den Übungsraum. „Und wer erfüllt ist, dem merkt man das auch auf der Bühne an.“

Birgit Müller

Zwei Große im Schauspielhaus

Der Schauspieler Edgar Selge und der Statist Frank Kienitz stehen im „Menschenfeind“ gemeinsam auf der Bühne

(aus Hinz&Kunzt 122/April 2003)

„Ich will doch nur eins“, sagt Edgar Selge nachdrücklich, „um meiner selbst willen geliebt werden – und erfahre doch zu wenig Liebe.“ Ganz so persönlich, wie das jetzt klingen mag, meint Selge das allerdings nicht. Die Rede ist vom „Menschenfeind“, den der 54-Jährige gerade im Schauspielhaus gibt. Der Wunsch nach besonderer und einzigartiger Beachtung macht Alceste fast verrückt.

Besondere Beachtung erfährt allerdings ein ganz anderer. Alcestes Diener, gespielt von dem Statisten Frank Kienitz, der hinten auf der Bühne so groß über die Kulissenhecke hinausragt, dass einem ganz unheimlich zumute wird. Frank Kienitz ist in diesen Minuten auch ganz mulmig. Ein leichtes Gefühl der Panik beschleicht ihn, undeutlich zu sprechen, seinen Text zu vergessen oder gar seinen Einsatz zu verpassen. Als Alcestes Diener dringt er ein in diesen illustren Kreis, und der Zuschauer sieht, was er längst ahnt: Hier kommt ein ganz Großer. Frank Kienitz ist 2,20 Meter groß, und er spielt das Bindeglied zwischen der Außenwelt und dem Kreis um Alceste und Celimène. „Ich bin das Sinnbild für das Unheil, das überall hereinkommt“, sagt Frank Kienitz. „Keine Abgeschiedenheit ist groß genug.“

Dass er wegen seiner Größe abschreckend wirkt, hat Frank Kienitz schon häufig erlebt. „Die Menschen tuscheln, drehen sich nach mir um oder machen blöde Sprüche“, zählt er seine Erfahrungen auf. Bis 1996 sind ihm solche Erlebnisse tief unter die Haut gegangen. 1996 ist sein persönliches Wendejahr: Der Groß- und Außenhandelskaufmann wurde fürs Theater entdeckt. Er suchte in einer Buchhandlung gerade ein Geburtstagsgeschenk für seine Frau. Da sprach ihn der künstlerische Leiter vom Schauspielhaus an, „ob ich nicht irgendwo mitmachen will“. Frank Kienitz, gewohnt, dass sich die Leute über ihn lustig machten, wollte schon lospoltern.

Nach dem Motto: „Was wollen Sie von mir? Lassen Sie mich in Ruhe!“ Der 42-Jährige weiß immer noch nicht, was ihn damals geritten hat, dann doch nachzufragen… Auch Edgar Selge ist gewissermaßen entdeckt worden. Als Kind. Im Gefängnis. Sein Vater war nämlich der Direktor, und die Gefangenen suchten noch Mitspieler in ihrem Theater. Der kleine Edgar war ideal, zumindest vor seinem Stimmbruch. Auf Frauenrollen war er abonniert. Und genoss es. Hauptsächlich, weil er sich mal so richtig hervortun konnte. Denn ihn nervte, dass er bei seinen älteren Brüdern keine Anerkennung fand.

„Immer wurde ich den Kleinen zugeschlagen.“ Komik und Imitation, das merkte das Kind schnell, „sind Waffen und gleichzeitig Eintrittskarten in die Welt der Älteren“. So schnell fuhr dem Jungen, seit er mit den Großen auf der Bühne stand, jedenfalls „keiner mehr übers Maul“. Bis für Frank Kienitz das Gleiche galt, dauerte es ein Weilchen. Er ging also ins Schauspielhaus und fragte nach der Rolle. Einen Riesen sollte er spielen, ausgerechnet, neben Zwergen und Verkrüppelten, in einer Inszenierung von „Kasimir und Karoline“. Und was er nie geglaubt hätte: „Es machte mir wahnsinnig Spaß.“ Auf einmal war es ihm egal, das zu spielen, worunter er sein Leben lang gelitten hatte. Das lag wohl am Regisseur, glaubt er. „Der hat mir nahegebracht: Warum sollte ich seltsamer oder unnormaler sein als andere?“

Ja, warum eigentlich? Früher, da hatte ihn seine Größe allerdings klein gemacht. Ließ ihn in Deckung gehen vor anderen Menschen. Am liebsten hätte er sich in ein Mauseloch verkrochen. Seine Eltern, beide auch sehr groß, konnten ihm nicht helfen, im Gegenteil. Ihre Devise: bloß nicht auffallen. Einmal, da wagte er den Ausbruch, nahm an einem Wettbewerb teil und ließ sich zum größten Mann küren. Aber die Eltern freuten sich nicht über seinen Sieg, waren regelrecht sauer. Dabei hatte sich Frank so nach diesem Sieg gesehnt. Einmal jedenfalls wollte er belohnt und anerkannt werden. War wohl wieder nichts. Und so blieb er erst mal in seinem Gefängnis.

„Gefängnis“ – Edgar Selge lässt das Wort auf der Zunge zergehen. „Das ist ein Grundgefühl, das ich nicht mehr loswerde.“ Allein die Vorstellung, in einem Raum zu sitzen, der keine Türklinken hat, mit „schwedischen Gardinen“ vor den Fenstern. „Ich wusste als Kind schon, was es heißt, wenn die Tür zugeschlossen wird und man nicht mehr rauskommt.“ Frank Kienitz hat sein Gefängnis inzwischen verlassen, weitgehend jedenfalls. Ausgerechnet der Riese in „Kasimir und Karoline“ hat ihm das ermöglicht. Inzwischen hat er noch andere kleine Rollen gespielt. Einen Vorzeitmenschen beispielsweise, seine erste Sprechrolle.

„Wir brauchen keinen Fortschritt“, sagt Kienitz – das waren seine Worte im Stück, allerdings auch seine einzigen. Der Diener im „Menschenfeind“ ist für ihn tatsächlich ein Fortschritt. Mehrere Sätze muss er sprechen – und das auch noch in einem Stück, mit dessen Protagonisten er sich total identifiziert. Edgar Selge, sagt er, spreche ihm als Mensch und Rolle direkt aus der Seele.

Selge schätzt den großen Mann ebenso: „Er hat etwas Kostbares, was einem als Berufsschauspieler unter der eigenen Rauheit und Professionalität manchmal verloren geht.“

Besonders liebt Frank Kienitz den Satz: „Ich will erkannt und unterschieden sein.“ Das fordert Menschenfeind Alceste nicht nur von seiner Celimène, sondern auch vom Rest der Welt. Frank Kienitz kann diese Worte auswendig, mindestens so gut wie seinen eigenen Text. Auch Edgar Selge liebt das Stück. „Der Egoismus und der Wunsch nach besonderer Beachtung schlagen irgendwann in jeder Gesellschaft durch und bedrohen jede Gemeinschaft“, ist eine seiner Interpretationen. „Dem entkommt man nicht.“

Zum Schluss wünscht sich Alceste in die Wüste. Aber dieser Wunsch bleibt Illusion. „Es gibt keinen Wunsch, der außerhalb der Gesellschaft erfüllbar wäre“, sagt Selge. „Wir müssen miteinander zurechtkommen.“

Diesen in sich widersprüchlichen Alceste dem Publikum nahezubringen, das versucht er bei jeder Vorstellung aufs Neue. Das ist ja der Reiz beim Theater: „Eine gute Premiere heißt noch gar nichts“, sagt er. „Bei jeder Vorstellung muss man die Zuschauer erwischen.“ In diesem Stück ist der Anfang für ihn die Hürde. „Den würde ich am liebsten zweimal hintereinander spielen.“ Dann dieses Glück, die Entspannung, wenn der Funke übergesprungen und der Schlussapplaus aus vollem Herzen kommt. „Ich spüre, ob die Zuschauer einem die Gedanken schon von der Stirn ablesen.“

Der Schlussapplaus ist auch der große Moment von Frank Kienitz, dem Statisten. „Wenn die Zuschauer klatschen, habe ich das Gefühl, dass ein Teil davon mir gilt.“ Nach der Vorstellung entschwindet Edgar Selge wieder – bis zum nächsten Mal. Er probt in Frankfurt die „Frankfurter Verlobung“. In dem Stück spielt er einen Alt-68er, und Joschka Fischer kommt zumindest indirekt auch vor. Was bei Frank Kienitz als nächstes auf dem Spielplan steht, ist ungewiss. Er hofft, dass er bald wieder ein Angebot bekommt. Klar ist nur, dass er demnächst wieder bei „Kasimir und Karoline“ in Zürich und Berlin dabei ist. Das Drama bleibt sowieso für immer sein Lieblingstück. „Ich brauche den Namen des Stückes nur zu hören, dann kribbelts im Bauch“, sagt er. „Das ist wie mit der ersten Liebe, die vergisst man nie.“

Birgit Müller

Hornköppe spielen Stadtmusikanten

Es wird ernst: Ein halbes Jahr, nachdem die Hornköppe sich zum ersten Mal getroffen haben, stehen sie jetzt so richtig auf der Bühne.

Den ersten Durchlauf mit Kulissen, Kostümen und vor Publikum spielen die wohnungslosen Laienschauspieler vor Bewohnern der fördern und wohnen-Senioreneinrichtung in Groß Borstel. Die Senioren freuen sich über einen abwechslungsreichen Abend und eine originelle Interpretation des Märchens von den Bremer Stadtmusikanten – und nehmen es den Laienschauspielern kein bißchen übel, dass für die ein oder andere Szene vor der großen Premiere noch geprobt werden muss. Wir waren beim Kostüm-und-Kulissen-Durchlauf dabei…

DAS STÜCK

Die Fabel von den bremer Stadtmusikanten wird bei den Hornköppen zur Geschichte einer Hausbesetzung: