„Theaterspielen macht mich stark“

Das Leben ist zu schön, um einfach zu sein – so lautet der Untertitel des Simple Life Festivals auf Kampnagel. Neben vielen internationalen Schauspielgruppen stehen auch zehn selbstbewusste Hamburger Jugendliche mit Migrationshintergrund auf der Bühne.

01_HK213_Titel_RZ2.inddDies ist kein Liebeslied. Doch, natürlich, es heißt sogar „Kissing you“ und stammt aus dem Soundtrack von Romeo und Julia. Aber als die Musik einsetzt und Bianca zu tanzen beginnt, spiegelt sich in ihrem Gesicht keine Spur von Verliebtheit. Auch ihre Bewegungen drücken andere Gefühle aus: erst Schmerz und Sehnsucht, dann Kraft und Entschlossenheit. Bianca schließt die Augen, konzentriert sich, geht ganz in ihrer Rolle auf.

Das 19-jährige Mädchen aus Kolumbien feilt auf Kampnagel gemeinsam mit neun anderen Jugendlichen an einer Choreografie für die Theaterproduktion „Lady Lady on the sea-shore“. Mitte November ist Premiere – auch für Bianca: „Es ist das erste Mal, dass ich vor Publikum spiele.“ Doch nicht nur das: Bianca hat wie die anderen Teilnehmer das Stück sogar mit geschrieben. Es sind größtenteils ihre eigenen Biografien, die hier erzählt, gespielt, getanzt werden: Die Lebensgeschichten von zehn Hamburgern mit Migrationshintergrund, deren Gefühlswelt zwischen Heimweh und Zerrissenheit, vor allem aber Abenteuer und neuem Glück pendelt. „Jeder bringt seine Erinnerungen, Erlebnisse und Emotionen ein“, fasst Regisseur Evgeni Mestetschkin zusammen. Er ließ die Jugendlichen ihre Alltagserfahrungen und Gefühle aufschreiben, aus den Texten entwickelte die Gruppe dann gemeinsam das Stück – das ausdrücklich kein „Rührstück“ werden soll: „Jeder Teilnehmer ist eine starke Persönlichkeit“, betont Evgeni, „wir brauchen kein Mitleid.“
Bindeglied zwischen den einzelnen Passagen sind verschiedene Abzählreime, deswegen wählte Evgeni auch den englischen Kinderreim „Lady Lady on the sea-shore“ als Titel. „Fast jedes Kind, egal in welchem Land, wächst mit Abzählreimen auf“, erklärt er. „Sie gehören zur eigenen Geschichte und der der ganzen Familie, da sie meist durch die Eltern oder Großeltern weitergegeben werden. Außerdem haben sie einen schönen Rhythmus, passend zu unseren Choreografien.“
Beim Simple Life Festival auf Kampnagel, einem zehntägigen Festival mit na­tionalen und internationalen Produktionen, führt die Gruppe ihr Stück auf. Während „Lady Lady on the sea-shore“ selbstbewusste junge Mig­ranten zeigt, geht es in den anderen Produktionen um Menschen am Rande der Gesellschaft, um die Themen Armut und Isolation. Deshalb der Untertitel: „Das Leben ist zu schön, um einfach zu sein.“ Auch das Leben mit Behinderungen
bildet einen Schwerpunkt: In einer französischen Gruppe arbeiten geistig beeinträchtigte Schauspieler mit, und in einer afrikanischen Gruppe präsentieren körperbehinderte Darsteller eine aufwendige Tanzchoreografie.
„Alles hochprofessionell“, schwärmt Jutta Schubert, die künstlerische Leiterin des Festivals. Vor sechs Jahren veranstaltete sie mit dem Verein Eucrea, einem Netzwerk für behinderte Künstler, bereits eine erfolgreiche Simple-Life-Ausgabe in Berlin: „Es war wie ein Rausch, wir hatten fast immer volles Haus.“ Nun hofft sie auch in Hamburg auf guten Publikumszuspruch. Und darauf, dass es bald nicht mehr wichtig ist, ob Berufsschauspieler, Laiendarsteller, Obdachlose, Arbeitslose oder Behinderte auf der Bühne stehen: „Wenn Aufführungen von Behinderten stattdessen extra gekennzeichnet sind, und ausschließlich andere Behinderte hingekarrt werden – das finde ich ganz furchtbar.“ Jutta Schubert geht es um Qualität, um gutes Theater, „egal, von wem“.
Bianca macht es vor, übt selbstbewusst ein und dieselbe Tanzszene, bis alles perfekt sitzt. Wie die anderen Teilnehmer von „Lady Lady on the sea-shore“ kam sie über das Projekt „Jumbo“ (Junge MigrantInnen – Beruf und Orientierung) von Mook wat e.V. in die Theatergruppe. „Es macht unglaublich viel Spaß“, sagt sie. Schauspielerin möchte sie allerdings nicht werden, sie hat andere Pläne: „Ich will Jura studieren.“
Für diesen Wunsch verließ sie vor gut anderthalb Jahren ihre Heimat und zog gemeinsam mit ihrem Bruder nach Hamburg – ohne ein Wort Deutsch zu sprechen: „Das hatte ich nie gelernt, obwohl mein Großvater aus Deutschland kommt.“ Heute beherrscht sie die Sprache bereits perfekt. „Na klar“, sagt sie, „ich habe sofort einen Kurs gemacht und jeden Tag geübt.“ Es sei ein gutes Gefühl, sich schnell alleine zurechtzufinden und unabhängig zu sein. Und sie glaubt: „Mit einem Studium in Deutschland habe ich bessere Zukunftschancen.“
„Natürlich vermisse ich meine Eltern“, erzählt sie, „aber wir telefonieren fast jeden Tag oder schreiben E-Mails. Und zu Weihnachten und im Sommer besuchen wir uns.“ Wenn sie sich trotzdem einsam fühlt oder die kolumbianische Sonne vermisst, hilft ihr das Theaterspielen: „Da kann ich alles rauslassen, das macht mich stark.“
Meist ist sie sowieso fröhlich: Migration bedeutet für sie in erster Linie, in neue Kulturen einzutauchen und neue Spra­chen zu lernen – „das ist doch super!“ Deshalb legt Bianca sich auch noch nicht fest, ob sie dauerhaft in Hamburg bleiben, irgendwann nach Kolumbien zurückkehren oder ganz woanders leben möchte. „Ich bin da offen. Auch Australien reizt mich.“ Sie überlegt. „Oder Afrika.“
Ihr Mitspieler Kiril hingegen hat in Hamburg seine neue Heimat gefunden. Der 18-Jährige sagt: „Ein Wochenende ohne Fischmarktbesuch kann ich mir gar nicht mehr vorstellen.“ Kiril war fünf, als seine Eltern mit ihm und seinem älteren Bruder von Moldawien aus nach Deutschland flohen – in Moldawien herrschte damals Krieg und Kirils Bruder sollte als Soldat eingezogen werden: „Das wollten meine Eltern nicht.“ In Hamburg lebten sie anfangs in einer kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung auf der Reeperbahn, später zogen sie nach Horn. In der Schule fand Kiril schnell neue Freunde, seinen Eltern fiel die Eingewöhnung schwerer: „Mein Vater hatte BWL studiert, fand hier aber nur Arbeit als Tankwart. Das war schon bitter.“ Seine Mutter jobbte anfangs in einer Dönerbude, heute arbeitet sie als Redakteurin für russischsprachige Zeitungen.
Kiril selbst ging nach seinem Realschulabschluss zur Höheren Handelsschule, machte dann verschiedene Praktika. „Ich wollte erst mal herausfinden, was mir überhaupt liegt.“ Jetzt weiß er es, und deshalb nutzt er das Theaterprojekt vor allem, um an seiner Koordination und Beweglichkeit zu arbeiten. Nebenbei lernt er eifrig schwimmen. Schließlich muss er sportlich topfit sein, um die Aufnahmeprüfung für seinen Traumjob zu bestehen. Schon jetzt freut er sich auf „einen sicheren Arbeitsplatz, Karriere, gute Bezahlung“. Er grinst. Und verrät: „Ich will Polizist werden.“

Text: Maren Albertsen
Foto: Cornelius M. Braun

Tanzen gegen die Armut

Jugendliche aus Kolumbien zum Workshop auf Kampnagel

(aus Hinz&Kunzt 117/November 2002)

Álvaro Restrepo ist Kolumbiens bekanntester Tänzer. Statt international Karriere zu machen, hat er sich entschlossen, Kinder und Jugendlichen aus Cartagenas Elendsviertel im zeitgenössischen Tanz zu unterrichten. Jetzt tritt ein Teil der Truppe auf Kampnagel auf.

Santiago wischt sich den Schweiß mit dem rechten Arm von der Stirn. Lächelnd nimmt er den Beifall der anderen entgegen, die ihn für sein Solo feiern. „Immer hatte ich Hunger“, heißt es da, und die Kette und der Bilderrahmen, mit denen er tanzt, sind Symbole für eine gefesselte Jugend. Eine Jugend, die sich nicht entfalten darf.

Santiago stammt aus Kolumbien, aus Cartagena de las Indias, und begann vor fünf Jahren, seinen eigenen Körper und dessen Ausdrucksfähigkeit zu entdecken. „Der Tanz hat mein Leben und mein Denken verändert“, sagt der 19-Jährige mit den kurzgeschorenen dunklen Locken. „Ich habe gelernt, nicht nur meinen eigenen, sondern auch den Körper der anderen zu respektieren.“

Keine Selbstverständlichkeit in einem von Bürgerkrieg, Selbstjustiz und Wirtschaftskrise geprägten Land. Und Cartagena, wo Santiago geboren ist, gilt landesweit als die Stadt mit der höchsten Flüchtlingsquote. Jeder siebte der rund 700.000 Einwohner ist auf der Flucht vor dem Bürgerkrieg in der Karibikstadt gestrandet – vor allem Frauen und Kinder, die sich oft ohne jede Hilfe eine neue Existenz aufbauen müssen.

Die meisten von ihnen leben im Barrio Nelson Mandela, dem riesigen Flüchtlingsviertel der Hafenstadt. Das Geld für die Schuluniform, die Hefte und Stifte ist da oft nicht drin. „In Nelson Mandela müssen viele Kinder zum Unterhalt der Familie beitragen“, erzählt Yorneis, ein Kollege von Santiago. „Sie verkaufen in den Straßen Essen oder Kaugummis.“ Respekt vor dem Körper ist da eher selten. Das Leben ist oft reiner Überlebenskampf – vor allem bei den Straßenkindern.

Diese Kinder und Jugendliche sind es, die das von Álvaro Restrepo gegründete Colegio del Cuerpo (Schule des Körpers) besuchen und dort zum Tanzen animiert werden. „Der gemeinsame Tanz ist wie eine Ruhepause von Elend und Angst für die Kinder“, sagt Santiago.

Das Colegio ist ein einzigartiges Projekt in Kolumbien und allein dem Engagement von Álvaro Restrepo zu verdanken. Der kleingewachsene Mann genießt einen exzellenten Ruf in der internationalen Tanzszene. Trotzdem hat er sich gegen eine Karriere und für den Aufbau seiner Schule entschieden. Für Restrepo kein Widerspruch, denn für ihn gehört „die soziale Arbeit zu den zentralen Aufgaben eines aktiven Künstlers“.

Schon als junger Mann arbeitete er in Bogotá mit Straßenkindern. Dann entdeckte er den Tanz, brach sein Studium der Philosophie und Literatur in Bogotá ab und studierte in New York zeitgenössischen Tanz. Doch die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen ließ den 44-Jährigen nie los, und als er 1991, nach zehn Jahren im Ausland, nach Kolumbien zurückkehrte, kam er mit dem festen Ziel, in Cartagena seine eigene Schule aufzubauen.

Einige Jahre sollte es allerdings noch dauern, bis der Traum in Erfüllung ging. Für die Anschubfinanzierung sorgte der Bürgermeister, für Räume eine private Stiftung, und über einen Kooperationsvertrag mit einer großen Schule, dem Colegio Inem, kamen die Schüler. „480 waren es am Anfang, das war 1997. Mit 90 von ihnen haben wir begonnen, systematisch zu arbeiten“, erinnert sich Wilfram Barrios, die rechte Hand Restrepos.

Aus nahezu allen Stadtvierteln Cartagenas kommen die insgesamt 20 Schüler, die nahezu alle seit fünf Jahren am Colegio zeitgenössischen Tanz lernen. Zu ihnen gehört auch Santiago, der von einer internationalen Tanzkarriere träumt und nur zu gern in Europa bei einer Kompanie anheuern würde. „Wenn ich professionell tanzen will, habe ich in Kolumbien keine Chance, denn moderner Tanz ist dort weitgehend unbekannt“, gibt sich Santiago realistisch.
Der ausdrucksstarke Tänzer stammt aus einer Mittelklassefamilie. Sein Vater ist Lithograph, die Mutter arbeitet als Verwaltungsangestellte im Gesundheitssystem. Damit kommt er aus besseren Verhältnissen als viele seiner Tanzkollegen aus der „Grupo Piloto Experimental“.

Yorneis stammt hingegen aus ärmlichen Verhältnissen. Sein Vater ist Arbeiter, seine Mutter Hausfrau. Erst als sie eine Vorführung des Colegio besuchten, begriffen sie, was ihr Junge hier lernt und was es ihm bedeutet. „Vorher haben sie mich immer gefragt, ob ich heute Cumbia oder Vallenato getanzt habe“, sagt Yorneis lachend. Doch mit den beliebten kolumbianischen Populärtänzen hat der sympathische 16-Jährige genauso wenig am Hut wie die übrigen Mitglieder der Kompanie.

Rund 100 Kinder aus Nelson Mandela sind es, die einmal pro Woche gemeinsam mit Restrepo und seinen Schülern tanzen. Weitere 100 kommen aus anderen Armenvierteln der Stadt. „Es ist in einem Land wie Kolumbien besonders wichtig, den Körper als eigenes Territorium zu entdecken und zu entfalten. Inneren Frieden zu finden ist die Vorraussetzung, um Frieden innerhalb der Gesellschaft zu säen“, sagt der mager wirkende Mann mit der schmucklosen Nickelbrille.

Pasión, Leidenschaft, gehört für ihn zum Tanzen. „Ohne Leidenschaft und Begeisterung ist das Leben nur die Hälfte wert“, sagt Restrepo, der aus den Kindern und Jugendlichen seinen Enthusiasmus schöpft: „Für mich sind sie menschliche Diamanten, die nur ein wenig Hilfe brauchen, um zu strahlen. Poliert man sie nicht, dann entwickeln sie sich vielleicht wie so viele, die in den Krieg ziehen oder in die organisierte Kriminalität.“

Klar ist Restrepo, dass nicht alle Schüler Profi-Tänzer werden können. Aber für einige ist es eine reale Perspektive. Die Kooperation mit dem Tanzzentrum im französischen Angers ist deshalb besonders wichtig. Zwei bis drei Jahre sollen sich die Mitglieder der „Grupo Piloto“ nach ihrem Schulabschluss in Frankreich weiterqualifizieren. Die einen als Tänzer, die anderen als Choreograph, Theatertechniker oder Kostümschneider. Aber auch Schnupperkurse in Tanztherapie, Dokumentation oder Presse kann sich Restrepo gut vorstellen.
Knut Henkel