In Graz treffen sich Wohnungslose aus 18 Ländern zu ihrer ersten Fußball-Weltmeisterschaft
(aus Hinz&Kunzt 125/Juli 2003)
Blondi keucht. Er ist aus der Puste. Die Sonne brennt, und die Beine sind schwer geworden nach dem 30-Meter-Spurt um die Kugel. Immerhin ist es eine Weile her, dass der 36-Jährige das letzte Mal Fußball gespielt hat. „Lass uns eine Pause machen!“, ruft der Hinz & Kunzt-Verkäufer seinem Kollegen Frank zu. Dem ist das recht. „Laufen ist nun mal etwas anderes als Fahrrad fahren“, sagt der 37-Jährige, der eine einfache Begründung dafür hat, warum er unbedingt beim Stelldichein der Straßenkicker dabei sein will: „Fußball ist Sport. Und Sport ist gut.“
Frank und Blondi gehören zur achtköpfigen deutschen Mannschaft, die im Juli in Österreich mit Wohnungslosen aus 18 Ländern um den Weltmeistertitel der Wohnungslosen kicken wird. Die Idee zum „Homeless World Cup“ hatten Mitarbeiter des Grazer Straßenmagazins Megaphon. Welcher Ort, so fragten sich die Kollegen vom H&K-Schwesterprojekt, bietet sich besser an für eine Obdachlosen-Weltmeisterschaft als die europäische Kulturhauptstadt 2003 – wo Fußball doch ein ebenso globales wie Kulturgrenzen überschreitendes Phänomen ist…
Die Resonanz ist überwältigend: Teams aus vier Kontinenten werden in Graz auflaufen. Vom Welt-Fußballverband UEFA bis zur US-Botschaft in Österreich reicht die Liste der Kooperationspartner und Sponsoren. Während die deutsche Mannschaft – je zwei Spieler kommen aus Freiburg, Stuttgart, Regensburg und Hamburg – auf die Gunst der Stunde setzen muss (siehe Interview), laufen anderswo seit Monaten die Vorbereitungen.
„Meine Jungs spielen Qualitäts-Fußball“, sagt Sigi Milchberger, Trainer der Gastgeber-Mannschaft, die zu den Favoriten zählt. „Black is beautiful“ könnte das Motto des jungen österreichischen Teams lauten. Denn die Ballkünstler stammen aus Nigeria, Kamerun oder Senegal – Flüchtlinge aus Krisenregionen, die auf verschlungenen Wegen die Stadt an der südlichen EU-Grenze erreicht haben und dort mit dem Verkauf des Straßenmagazins ihren Lebensunterhalt bestreiten.
Die US-amerikanischen Straßenfußballer trainieren sogar schon seit vergangenem Herbst in einer New Yorker Turnhalle. „Wir gelten als Außenseiter“, sagt Ron Grunberg, Herausgeber des Straßenmagazins BIGnews. „Doch wir haben den tiefen Glauben daran, dass wir gewinnen können.“ Prominente Unterstützung hat die Konkurrenz aus Spanien und Großbritannien erhalten: Star-Fußballer und Trainer der Spitzenclubs Real Madrid und Manchester United nahmen die Streetsoccer-Teams unter ihre Fittiche. Bewerber für die englische Auswahl mussten erst mal zum Vorspielen nach Manchester reisen. Nur die Besten wurden dort ausgewählt unter den Augen von United-Trainer Sir Alex Ferguson.
Auf der Insel hat der Kick unter Wohnungslosen bereits Tradition: Um die „Streetleague“ spielen sie dort seit Jahren, und kein geringerer als Gilberto Silva ist Schirmherr der besonderen Fußball-Liga. Silva, brasilianischer Nationalspieler in Diensten von Arsenal London, hat nicht vergessen, wo seine Wurzeln liegen: auf der Straße, in den Slums. Dort spielen die Kids Tag für Tag, von morgens bis abends.
Eine deutsche Straßenfußballer-Biografie sieht ein wenig anders aus: Blondi ist gelegentlicher Hobby-Kicker. Er setzt auf „gutes Stellungsspiel“ und darauf, „dass ich mit Alkohol und Zigaretten nichts am Hut habe“. Frank war als Kind „mehr für Leichtathletik“, wurde vom Vater für den Fußball gewonnen und hat später „in Kneipenmannschaften gespielt“. Doch das ist lange her. „An der Kondition müssen wir noch arbeiten“, bilanziert Blondi selbstkritisch. Übertreiben werden sie es aber nicht mit der Vorbereitung. Wie sagt Frank so schön: „Das Wichtigste ist der Spaß.“
„Schöne Freundschaften“
Interview mit Reinhard Kellner (53), Vorsitzender des Bundesverbandes Sozialer Straßenzeitungen und Trainer der deutschen Auswahl
H&K: Warum eine Straßenfußball-Weltmeisterschaft der Obdachlosen?
Reinhard Kellner: Wir wollen zeigen, dass sich Arme, Obdachlose, Sozialhilfeempfänger weltweit organisieren können, auch über die Straßenmagazine hinaus. Es geht darum, gemeinsam Sport zu machen und Kameradschaft zu erleben, aber auch, über Armutsbekämpfung weltweit zu diskutieren. Da kommen ja Menschen aus 18 Ländern zusammen.
H&K: Die deutsche Mannschaft spielt mit Wohnungslosen aus vier Städten. Wie bereitest du das Team auf das Turnier vor?
Reinhard Kellner: Ausschließlich mental. Wir treffen uns ja erst am Abfahrtstag. Da können wir höchstens noch neben der Autobahn trainieren. Aber Deutschland war immer schon eine Turniermannschaft.
H&K:Wer wird Weltmeister?
Reinhard Kellner: Ich geh davon aus, dass die Brasilianer gewinnen werden, weil die mit relativ jungen Leuten kommen und einfach gut spielen. Aber das ist nicht so wichtig. Ich hoffe, dass der Austausch der Spieler untereinander im Vordergrund stehen wird.
H&K: Gibt es wenigstens eine Außenseiter-Chance für die deutsche Mannschaft?
Reinhard Kellner: Unser Ziel ist es, die Vorrunde zu überstehen. Es gibt schon ein paar Teams, bei denen wir denken, dass wir mithalten können. Wir haben halt eine relativ alte Mannschaft, Durchschnitt 35, eher zu den 40 hingehend. Das Team der Österreicher zum Beispiel besteht ausschließlich aus jungen Modellathleten. Die werden uns wohl von der Bühne putzen.
H&K: Wird es künftig regelmäßig Weltmeisterschaften geben?
Reinhard Kellner: Ich kann mir das gut vorstellen. Kulturhauptstadt Europas wird ja immer wieder eine andere Stadt. Und das lässt sich gut miteinander verbinden.
H&K: Können wir auf eine Fußball-Bundesliga der Obdachlosen hoffen?
Reinhard Kellner: Also, eine süddeutsche Meisterschaft gibt es ja schon. Daraus sind schöne Freundschaften unter Verkäufern entstanden. Inwieweit sich die Nordlichter von so etwas anstecken lassen, werden wir sehen.
H&K: Warum trägt die deutsche Mannschaft eigentlich orangefarbene Trikots mit dem Schlachtruf „venceremos“?
Reinhard Kellner: Die Greenpeace-Designerin hat die Trikots entworfen und hatte bei der Farbe freie Hand. Von mir stammt die Idee mit „venceremos“. Das heißt ja: Wir werden gewinnen, und das tun wir auch. Wir werden nämlich alle gewinnen, weil wir uns sehen, treffen und austauschen.
Ulrich Jonas