Raumschiff Rote Flora

Fremdkörper oder Herzstück des Schanzenviertels? Das Stadtteil- und Kulturzentrum feiert 20. Geburtstag – und sorgt sich um seine Zukunft

(aus Hinz&Kunzt 201/November 2009)

Vom anderen Stern

Warum der Schanzenpark ohne ein Hotel im Wasserturm viel schöner ist

(aus Hinz&Kunzt 130/Dezember 2003)

Für Parks werden ja bislang noch keine Sterne verteilt. Doch wenn es welche gäbe, dann würde der Schanzenpark wahrscheinlich mit fünf Sternen ausgezeichnet – jedenfalls von denen, die ihn nutzen. Zwar gibt es hier keine Springbrunnen, keine raffinierten Rabatten wie in Planten un Blomen und auch keine weitschweifige Wegeführung mit spektakulären Aussichten wie im Jenischpark. Nein, der Schanzenpark besteht aus drei Rasenflächen, die am Ende des Sommers ziemlich abgeschabt sind, Bäumen, die alt genug sind, um Schatten zu werfen, es aber auch nicht übel nehmen, wenn sie mal einen Ball an die Krone kriegen, zwei eingezäunten Spielplätzen und zwei Fußballfeldern. Und natürlich aus dem fast 100 Jahre alten Wasserturm, immerhin der größte Europas. Der soll nun ein Vier-Sterne-Hotel werden.

Bis jetzt thront er als eine Art Wahrzeichen fürs ganze Viertel mitten im Park auf dem Hügel und versucht, sich nicht anmerken zu lassen, dass weder die städtische Denkmalpflege noch sein stolzer Besitzer in letzter Zeit viel für ihn getan haben. An seinem Fuß entsteht in den seltenen schneereichen Wintern eine der längsten Rodelbahnen der Stadt. Im Sommer findet unter seinen Augen all das statt, was den Park zur Fünf-Sterne-Anlage macht: Menschen jeden Alters, meist männlich, rennen Bällen unterschiedlichster Größe hinterher, werfen mit Boule-Kugeln oder Frisbee-Scheiben. Andere rennen sich die Lunge aus dem Leib. Auf dem Hang sitzen Trommler, Jongleure, Biertrinker, Kaffeetrinker, Teetrinker und auch Kiffer. Kinder erproben die Geländetauglichkeit von Bobbycars, Dreirädern und ihrem ersten Fahrrad, Hunde lernen zu apportieren – oder auch nicht. Männer, Frauen und Kinder sammeln sich um Feuerstellen mit riesigen Fleischstücken. Einzelgänger lesen, Pärchen liegen stundenlang bewegungslos auf dem Rasen. Manche, zu wenige eigentlich, küssen sich auch. Dazwischen laufen von Zeit zu Zeit Männer umher, die so unauffällig aussehen, dass sie nur Zivil-Polizis-ten sein können.

All das passiert auf insgesamt knapp acht Hektar, ohne dass es zwischen den unterschiedlichen Nutzern bisher zum offenen Krieg gekommen wäre. Manche glauben deshalb, der Park verfüge über geheimnisvolle Kräfte und dehne sich bei schönem Wetter vielleicht einfach aus. Ein Gutachten von 1996 stellt nüchterner fest, der Park sei gewissermaßen „übernutzt“.

Jürgen Mantell, Leiter des zuständigen Bezirksamts Eimsbüttel, weiß das. Er hat nämlich auch keinen Garten und läuft „des öfteren auch privat durch den Park“. Trotzdem findet er es kein Problem, ausgerechnet hier ein Vier-Sterne-Hotel zu bauen, sondern freut sich, „dass jetzt endlich was passiert mit dem Turm“. Schließlich hatte man den schon 1990 für 39.000 Mark an den Münchner Investor Ernst Joachim Storr verkauft. Der sollte ihn nutzen und dadurch erhalten, ließ ihn aber so lange weiter verrotten, dass einige im Bezirk schon darüber nachdachten, ihm die Baugenehmigung zu entziehen.

Doch bevor es soweit kam, tat Storr sich mit dem Schweizer Hotel- und Gastronomie-Unternehmen Mövenpick und der Augsburger Immobilien-Gruppe Patrizia AG zusammen. Die wollen im nächsten Frühjahr die Bagger anrücken lassen. 16 hundertjährige Bäume werden gefällt, und mindestens eine Saison lang wird der Hügel dann Baustelle sein. Denn im Wasserturm sollen auf 16 Stockwerken 226 Zimmer entstehen, darunter acht Juniorsuiten und zwei Towersuiten. Natürlich wird es ein Fitnesscenter geben, ein Restaurant mit 150 Plätzen und Terrasse, eine Tiefgarage und einen unterirdischen Zugang von der zur Bahn hin gelegenen Seite. Dort, am Rande des Parks, soll sich die Hotellobby befinden, von der aus die Hotelgäste auf 75 Meter langen Rollbändern ins eigentliche Turm-Gebäude gebracht werden.

Wie viele Millionen dieser aufwendige Umbau genau kostet, will die Patrizia AG nicht verraten, aber es sei auf jeden Fall teurer als ein Neubau. Auf schriftliche Nachfrage – denn zum Telefonieren hat er keine Zeit – lässt Projektleiter Jürgen Kolper dann noch wissen, dass kein Zaun, sondern nur ein Sichtschutz die Hotelterrasse vom Park trennen soll. Und dass er den Park natürlich kenne und schätze, und zwar ganz besonders die Spielplätze und die Schanzenspiele.

Nein, natürlich solle die bisherige Nutzung des Parks durch das schicke Hotel nicht beeinträchtigt werden, versichert auch Bezirksamtsleiter Mantell. Das habe er extra in den Vertrag schreiben lassen, „da ist der Trommler sogar als Beispiel wörtlich erwähnt.“ Klingt fortschrittlich. Allerdings nur, wenn man nicht weiß, dass in dem Vertrag auch mal stand, dass der Käufer des Wasserturms verpflichtet ist, mindestens 50 Prozent des Gebäudes für öffentliche Nutzung zur Verfügung zu stellen. Ja, dieser Passus habe leider geändert werden müssen, sagt der Bezirksamtsleiter. „Mitte der 90er-Jahre sagte Herr Storr, wegen der gesunkenen Gewerbemieten könne er den Turm nur noch finanzieren, wenn er ihn zu 100 Prozent als Hotel nutzen dürfe.“ Deshalb habe man den städtebaulichen Vertrag geändert und den Investor verpflichtet, zwei Millionen Mark, also eine Million Euro für den Stadtteil bereitzustellen.

„Was sind solche Verträge denn wert, wenn sie jederzeit geändert werden können“, regt sich Ralf auf. Ralf wohnt seit 20 Jahren im Viertel, und seine Tochter ist quasi im Schanzenpark groß geworden. Zusammen mit anderen hat er sich im vergangenen Sommer erfolgreich darum gekümmert, dass der kleine Park hinter der Flora wieder von den Anwohnern genutzt wird. Jetzt sorgt er sich, dass all die Versprechungen von „Bestandsschutz“ nichts wert sind. „Wenn sich die Hotelbetreiber das erste Mal ernsthaft über Lärm oder sonst was beschweren, dann geben die Politiker doch sofort nach.“ Tatsächlich hat der Bauausschuss erst vor ein paar Wochen schon wieder einer Änderung zugestimmt: Der gläserne Anbau fürs Restaurant soll jetzt nicht vier, sondern acht Meter hoch werden und 25 Meter lang. Eine Kleinigkeit nur, aber symptomatisch dafür, dass dieses Hotel mehr Raum einnehmen wird, als die 3.000 Quadratmeter, die eigentlich dafür vorgesehen sind.

„Mindestens 30 Meter rund um die Anlage wird niemand mehr auf der Wiese liegen,“ meint Winfried Kölsch, der für die GAL im Planungsausschuss sitzt. „Auch wenn meine Kollegen immer betonen, man könne da trotzdem noch spazieren gehen. So ein Bau verändert den Charakter, das ist dann kein Park mehr, sondern eine Grünfläche.“ Trotzdem hat die GAL den Plänen zugestimmt, damit mit dem Wasserturm endlich etwas passiert. Jetzt berät jedenfalls der Kerngebietsausschuss darüber, an welche Projekte die Euro-Million verteilt wird. Doch egal wer sie bekommt, man wird davon weder die Schäferkampsallee zur Liegewiese umbauen, noch andere Freiflächen schaffen können. Hunde, Kinder, Jogger, Faulenzer, Griller, Boulespieler, Bobbycarfahrer und Fußballer werden im Schanzenpark noch enger zusammenrücken müssen. Und ob dessen geheimnisvolle Kräfte dann noch ausreichen, ernsthafte Konflikte zu verhindern, ist fraglich. Es sei denn, alle gemeinsam würden durch offensives Freizeitverhalten ihren Fünf-Sterne-Park vor dem Vier-Sterne-Hotel in Schutz nehmen. Bloße Grünfächen gibt es schließlich schon genug.

Sigrun Matthiesen

Ein ganz normaler Held

„Jesus von St. Pauli“: Streetworker Erich Esch

(aus Hinz&Kunzt 122/April 2003)

Um den Hals von Erich Esch baumelt ein langes Band. Daran, gut sichtbar, ist ein Kreuz befestigt. Der 59-Jährige trägt seine religiöse Überzeugung deutlich vor sich her. „Jesus von St. Pauli“ nennen die Leute den Streetworker deswegen, der im Schanzenviertel arbeitet und am Schanzenbahnhof auch einen Kiosk betreibt. Die Kunden bekommen dort alles – nur keinen Alkohol, überhaupt keine Drogen. Noch vor zehn Jahren hätte Esch wohl selbst am lautesten gelacht, hätte man ihm eine solche Zukunft vorausgesagt. Damals war er obdachlos und drogenabhängig. Und sein Leben schien keinen Pfifferling mehr wert. Aber er hat den Teufelskreis durchbrochen.

Abgeschrieben, auf verlorenem Posten, war Erich Esch schon als er auf die Welt kam. Sicher ist, dass er ausgesetzt wurde. Unsicher ist, wo und wann genau. Denn Erich Esch war ein Findelkind. Die Schwestern, die ihn fanden, schätzten „so Pi mal Daumen“, dass er drei Monate alt sein müsse. Das Amt legte sein Geburtsdatum auf den 28. Januar 1944 fest. Ausgesetzt wurde er – vermutlich – in Gardelegen in der ehemaligen DDR. Kompletter Fehlstart ins Leben.

Und so ging es weiter: Im Waisenhaus bei Moers wurde er oft geschlagen und mit neun Jahren von einem Erzieher vergewaltigt. „Und alles unter dem Mäntelchen des Christentums“, sagt Esch. Kurz darauf begann er, Alkohol zu trinken und Aceton zu schnüffeln. Manchmal, wenn er ganz traurig war, legte er sich nachts zu einem anderen Kind ins Bett, weinte und ließ sich trösten. Aber der arme Kerl musste seine Hilfe bitter büßen. „Am anderen Tag habe ich ihn garantiert verprügelt“, so der vermutlich 59-Jährige. „Ich konnte es nicht ertragen, schwach zu sein und Hilfe anzunehmen.“

Dabei habe er sich immer so nach Liebe und Zuneigung gesehnt. „Aber menschlicher Kontakt hat mir regelrecht Schmerzen bereitet“, sagt er. „Körperliche Schmerzen.“ Der Grund dafür war wahrscheinlich die Vergewaltigung. Der Erzieher missbrauchte ihn auch weiterhin. „Ich war ihm hörig. Er war der einzige, der sich um mich kümmerte.“ Kümmerte – das Wort klingt makaber. Denn der Mann schickte Erich auf den Kinderstrich. Sah zu, wie er immer mehr in einen Strudel der Abhängigkeit geriet: Alkohol, Drogen – Erich nahm alles, was er in die Finger bekam.

Mit 17 Jahren eine Verschnaufpause. Er schaffte es, sich von seinem Peiniger und Freund loszusagen, lebte ein paar Jahre bei Pflegeeltern in Moers und machte sich mit ihnen zusammen auf die Spurensuche. Vergeblich. Zwar fand er heraus, dass seine Mutter mit einem Herrn Heilmann verheiratet war, er jedoch wahrscheinlich aus dem Verhältnis mit einem Besatzungssoldaten stammte. Aber Kontakt zu seiner Mutter bekam er nicht. Bis heute nicht.

Immer tiefer driftete Erich in die Sucht und in die Kriminalität. Wenn er gut drauf war, hielt er sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser, wenn er schlecht drauf war, lebte er auf der Straße, schnorrte, soff und prügelte sich. Selbst als er einen Saufkumpanen so zurichtete, dass der an den Folgen starb, machte er weiter wie gehabt. Bis 1994. Da ging es ihm körperlich so schlecht, dass er zum Arzt ging. Die Diagnose war tödlich: Leberzirrhose im Endstadium und Magen- und Darmgeschwüre. „Ich mach mich weg“, beschloss er und versuchte, seinem Leben ein Ende zu bereiten. Aber er wurde gefunden und lag im Koma in einem Krankenhaus in Gütersloh. Die Ärzte hatten ihn aufgegeben.

„Dann geschah ein Wunder“, sagt Erich Esch. Er erwachte aus dem Koma – mit einem wahnsinnigen Schrei: „Lieber Gott, wenn es dich wirklich gibt, mach aus mir einen neuen Menschen.“ Aber Esch erwachte nicht nur: „Ich war auf einmal kerngesund.“ Keine Leberzirrhose, keine Geschwüre, nicht mal ein Leberschaden ist zurückgeblieben. Nichts, er war absolut gesund. „Es war ein Geschenk, eine Gnade“, sagt Erich Esch. „Ich war ein neuer Mensch.“ Kein Wunder, feixt er, schließlich sei er nur noch Haut und Knochen gewesen, selbst das Blut wurde ausgetauscht. „Es war alles neu an dem Kerl“, sagt er und deutet auf sich selbst. „Wie Schleudergang in der Waschmaschine“ kam ihm die Runderneuerung vor.

Nie wieder trank er einen Tropfen Alkohol. Von einem Tag auf den anderen änderte er sein Leben. Merkwürdig, alles ging auf einmal wie von selbst. „Ich bekam eine Wohnung und eine Arbeit.“ Drei Jahre lang arbeitete er in einer Arbeitslosenwerkstatt, brachte es dort sogar zum Projektleiter. „Aber irgendetwas fehlte“, sagt er. Den Glauben an Gott hatte er schon gefunden. „Der zog sich sowieso und trotz der Erfahrungen wie ein roter Faden durch mein Leben, er war nur noch nicht festgezurrt.“

Eines Tages hörte er vom Jesus Center in Hamburg. Ein christliches Zentrum in der Schanze, das Drogen- und Alkoholabhängigen hilft. Das faszinierte ihn. Nur zu Besuch wollte er mal wieder nach Hamburg fahren, wo er früher schon jahrelang gelebt hatte. Da saß er dann hinter der Roten Flora, unterhielt sich öfter mit einem drogenabhängigen Mädchen. Fast noch ein Kind war sie. Er brachte ihr Kaffee und hörte ihr zu. Plötzlich packte sie ihn an der Nase und drehte sie ihm um. Das war kein Spaß, das war die pure Verzweiflung. „Du willst mir also wirklich helfen?“, stieß sie ungläubig hervor. Ob er es vorgehabt hatte, weiß Erich Esch gar nicht mehr so genau. Auf jeden Fall wusste er auf einmal, was ihm gefehlt hatte und was er in Zukunft machen wollte: anderen, die in seiner Situation waren, helfen. Er fuhr nur noch einmal nach Gütersloh zurück – um seine Sachen zu packen.

Seit 1999 arbeitet er im Jesus Center, betreibt ausgerechnet den Kiosk am Schanzenbahnhof, an dem er früher selbst gesoffen hat. Allerdings verkauft er heute keinen Alkohol mehr. Buletten, Würstchen, Getränke gibts zu günstigen Preisen – und vor allem hört er all den Junkies und Alkis am Platz zu.

Eines Tages traf er einen jungen Mann wieder, den er sofort wiedererkannte: Der alte drogen- und alkoholabhängige Esch hatte ihn als Kind zum Trinken verführt. „Er musste mir am Kiosk Bier holen, dafür durfte er mittrinken.“ Der „neue“ Esch ging zu ihm hin und bat um Vergebung. Der junge Mann hatte ihn auch sofort wiedererkannt. „Er schaute mich nur mit großen Augen an – und weinte.“ Weinte, weil er in seinem Leben schon viel auf den Kopf bekommen hatte, aber niemand war bislang auf die Idee gekommen, sich dafür bei ihm zu entschuldigen.

Solche Begegnungen gehen Erich Esch unter die Haut. Auch wenn ihm ein Junkie oder Alki zitternd die Hand auf seinen Arm legt und sagt: „Danke!“ Egal wofür, für ein Gespräch, für eine Suppe oder nur für eine Tasse Kaffee. „Das konnte ich früher nicht, mich bedanken, ich war da wie verstockt.“

Die Junkies und Trinker der Umgebung lieben ihn oder schätzen ihn zumindest. Auch wenn sie selbst nicht gläubig sind. Auf jeden Fall, weil man sich auf sein Wort verlassen kann, weil er ihre Sprache spricht und auch nicht erwartet, dass andere das gleiche glauben wie er. Obwohl: Wenn er predigt, „dann bekommen die Jungs biblisch schon was auf den Sack“, sagt er. Und bei Totenfeiern am Kiosk lässt er auch gerne mal „Großer Gott wir loben dich“ singen. Das hört sich unglaubwürdig an? Esch lacht. „Von wegen! Die singen alle mit – ich wette, das wird noch zum Schanzenschlager.“

Birgit Müller