Die Nonne von St. Pauli

Im Haus Bethlehem arbeitet Schwester Marie-Claire vom Mutter-Theresa-Orden

(aus Hinz&Kunzt 130/Dezember 2003)

Heiraten wollte sie eigentlich und Kinder haben. „Viele Kinder“, sagt Schwester Marie-Claire enthusiastisch. „Ich liebe Kinder.“ Aber alles kam anders. Heute lebt die 52-Jährige als Schwester im Mutter-Theresa-Orden und leitet bis Ende des Jahres die Übernachtungsstätte Haus Bethlehem auf St. Pauli.

Palmen für St. Pauli

Wünschen hilft doch – der Traum von einem Park wird Wirklichkeit

(aus Hinz&Kunzt 125/Juli 2003)

Palmen sind auf St. Pauli nicht vorgesehen, eigentlich. Aber schön wäre es schon, dachte sich vor sieben Jahren so mancher aus der Nachbarschaft, einige wünschten sich „verschiebbare Inseln“, andere Plattformen, auf jeden Fall mit Palmen. Und tatsächlich: Seit ein paar Wochen wachsen aus dem Dach der neu gebauten Turnhalle am Pinnasberg drei meterhohe Palmen. Sie sind aus Stahl, schließlich liegt St. Pauli nicht in der Südsee, sondern gegenüber vom Blohm+Voss-Dock. Doch von weither sichtbar grüßen sie Einheimische wie Fremde und erinnern daran, dass das Wünschen auch heutzutage manchmal hilft.

Jedenfalls, wenn man es so hartnäckig und phantasievoll betreibt wie die Gruppe Park Fiction. Die errang im vergangenen Sommer die Aufmerksamkeit der internationalen Kunstwelt, weil ihr Projekt zur documenta nach Kassel eingeladen wurde. Jetzt ist die Ausstellung mit Film-, Bild-, und Ton-Dokumenten, Park-Modellen, Briefwechseln und Texten wieder in Hamburg zu sehen. Das freut die Aktivisten wie den 36-jährigen Dirk Mescher. Doch viel mehr freuen ihn und all die anderen, die im Laufe der Jahre für einen Park gearbeitet und gestritten haben, dass die Wirklichkeit nur noch 500 Meter Luftlinie von der Fiktion entfernt liegt. „Als ich die Palmen das erste Mal gesehen habe, musste ich mich kneifen, um mir sicher zu sein, dass ich nicht träume“, lacht Dirk Mescher, der um die Ecke in der Detlev-Bremer-Straße wohnt. Jessica David sagt, dass ihr die Tränen kamen, als sie sah, dass Bauarbeiter am Antonipark „wirklich Palmen aufgestellt und Rollrasen verlegt haben“.

Jessica ist zwölf und lebt im Kinderhaus am Pinnasberg. Mit anderen „Kinder-Guides“ führt sie durch die Park Fiction-Ausstellung. Als das Projekt begann, war sie gerade geboren. Als sie sechs war, fragte die Filmemacherin Margit Czenki sie und andere aus dem Kinderhaus nach ihren Park-Wünschen. Jessica malte ein Bild, das sie jetzt aus dem „Wunscharchiv“ der Ausstellung zieht. Darauf sieht man ein Hausdach mit einer Rutsche und ein riesiges Klettergerüst, „mindestens fünf Meter hoch, damit die Kinder ihre Höhenangst überwinden können“, erläutert sie ihre Idee von damals. Daneben hat sie zwei Schaukeln gemalt: „Eine für die Jungs und eine für die Mädchen, damit alle genug Platz haben und sich nicht ständig in die Quere kommen.“

Diesen Wunsch kann man gut verstehen, wenn man weiß, dass Jessica, wie viele Kinder auf St. Pauli, immer nur den Spielplatz an der Silbersackstraße hatten, einen der wenigen in einem Viertel, das zu den dichtbesiedeltsten in der Stadt zählt. Ein Viertel, in dem auch Erwachsene wenig Auslauf haben: die größte zusammenhängende Grünfläche ist bislang das Millerntorstadion. Kein Wunder also, dass es schon 1959 St. Paulianer gab, die einen Park forderten. Der Wunsch blieb eine Utopie, die Anfang der neunziger Jahre, nach dem erfolgreichen Kampf um die Hafenstraße, vom „Hafenrandverein für selbstbestimmtes Leben auf St. Pauli“ wieder aufgegriffen wurde. Damals drohte eine Blockbebauung allen Grünträumen den endgültigen Riegel vorzuschieben. Sie wurde verhindert, und anders als andere Stadtteil-Initiativen beschränkten sich die Park-Aktivisten dabei nicht auf die üblichen Rituale von Protest und Mitbestimmung. „Nur damit hätten wir niemals so lange durchgehalten“, ist sich Dirk Mescher sicher.

Mit Theaterstücken, Filmen, symbolischen Baumpflanzungen, Grillaktionen, Festen und irgendwann dem ,Park-Fiction-Container‘ am Ort „haben wir immer schon ein Stück Utopie wirklich werden lassen, und dadurch sind natürlich auch wieder neue Ideen entstanden“. Park Fiction eben, an der Künstler wie Christoph Schäfer und die Filmemacherin Margit Czenki maßgeblichen Anteil hatten. „Aber als wirklich Beteiligte“, als Anwohner, die genauso hier leben wie die Kinder vom Pinnasberg, die Nachbarn, die sich in der Gemeinwesenarbeit St. Pauli Süd engagieren, die Lehrer an der Schule Friedrichstraße oder die Gastronomen am Hein-Köllisch-Platz.

Oder eben der Anwohner und Sozialwissenschaftler Dirk Mescher, der jetzt vor der leuchtend bunt gemalten Bautafel steht und erklärt, wie die Wünsche Wirklichkeit wurden. Das Tartan-Sportfeld mit dem Tulpenmuster beispielsweise, eine Idee der damals 17-jährigen Nesrin Biegün. „Sie wollte Platz für Sportarten wie Basketball oder Badminton, ließ sich von den Teppichmustern ihrer türkischen Heimat inspirieren und entdeckte dabei schließlich die Tulpe als Symbol für einen aufgeklärten, toleranten Islam wieder.“ Sabrina hatte sich als Kind eine riesige Erdbeere gebaut, „die soll ein Baumhaus sein. In das dürfen nur Kinder rein und keine Erwachsenen. Damit wir die Erwachsenen endlich mal loshaben.“ Auch die Erdbeere wird demnächst wohl gebaut, aber Sabrina ist inzwischen kein Kind mehr, sondern ein Teenager, die ihre Idee von damals kindisch und uncool findet, erzählt Dirk Mescher.

So etwas passiert eben, wenn es so lange dauert, bis Wünsche wahr werden. Wie lange und mühselig es war, dokumentieren die Ak-tenordner voller Anträge und Gegen-Anträge, Bürgerschafts- und Bezirksversammlungs-Beschlüsse in dem Teil der Ausstellung, der „Mit der Bürokratie im Bett“ heißt.

Doch nicht nur die Bürokratie steht den Wünschen im Weg, manchmal sind es auch die Menschen selbst, vor allem die Älteren, die gar nicht mehr wissen, wie das Wünschen überhaupt geht. Vielleicht, weil sie lange nicht danach gefragt worden sind. Wie viele andere ist Dirk Mescher von Haus zu Haus gegangen, damit der Park nach den Vorstellungen der Leute Gestalt annimmt.

Ausgerüstet mit dem „Action Kit“, einer Art Bastelkoffer mit Knete, Buntstiften und einem Panorama der Gegend. „Ein älterer Mann meinte zum Beispiel, es müsse etwas für Kinder geben. Aber für ihn selbst fiel ihm erst mal gar nichts ein.“ Schließlich habe er sich Bänke gewünscht, weil er nicht mehr so gut zu Fuß war, „wie Bänke eben so aussehen“. Doch am Ende habe er eine Art Bank-Schlange durch den ganzen Park entworfen, „so dass man sich jederzeit setzen kann“.

Auch Jessica sagt von sich, dass sie durch die ganzen Park-Ideen überhaupt erst gelernt habe, „mir Sachen vorzustellen. Früher konnte ich das überhaupt nicht.“ Heute ist sie eine der Engagiertesten in der Theatergruppe ihrer Schule, und das soll später auch mal ihr Beruf werden, wünscht sie sich ganz selbstbewusst. Auch wenn am Ende längst nicht alles verwirklicht werden kann: Dass so viele die Kraft der Wünsche überhaupt wieder entdeckt haben, das ist wahrscheinlich die größte Kunst an Park Fiction. Margit Czenki sagt es in ihrem Film mit einem wunderbaren Satz, der vor Ort fast schon ein geflügeltes Wort ist: „Die Wünsche verlassen die Wohnung und erobern die Straße.“

Abgesehen davon freuen sich der balkonlose Dirk Mescher und die von Mallorca träumende Jessica jetzt erst mal wahnsinnig auf das erste Sonnenbad in ihrem Park. Und wenn auf St. Pauli schon Palmen wachsen, wer weiß, was dann noch alles möglich ist. Zu wünschen bleibt jedenfalls genug.

Sigrun Matthiesen

Geborene Wilde

Sau rauslassen im Lehmitz auf der Reeperbahn

(aus Hinz&Kunzt 122/April 2003)

Gleich werden sie wieder dort oben auf dem Tresen stehen, die Gitarren in den Händen und unten das Publikum direkt vor den Füßen. Partytime im Lehmitz auf der Reeperbahn, auch diese Nacht spielt nachher die Band so, als wäre sie live im Fernsehen. Noch gehört der Tresen nur dem Publikum und all den vielen Bierflaschen. Doch bald springen dort die Musiker umher und versuchen, dabei nicht auszurutschen in glitschigen Pfützen. Mit Cowboystiefeln, sagt Otto aus der Band, darfst du nie dort hochsteigen. Und immer schön im Auge behalten, wo gerade erschöpfte Häupter schlafen.

Dem Burschen, der hier vorne auf einem Barhocker hängt, ist längst der Kopf durch die Hände und bis auf den Tresen gerutscht. Auch sein Schal klebt in einer Lache verschütteter Reste von Bier und Tequila. Morgen ist großer Fußball im Viertel. Aber heute, hofft Rudi, der Mann neben dem Kopf im Bier, „woll’n wa nur lustig sein“. Auch er trägt schreiendes Rot über dem Pullover, ein Trikot seines Berliner Lieblingsvereins. Und bestimmt ganz doll puppenlustig kommt ihm inzwischen der Abend vor, so angestrengt wie er jetzt versucht, mit den Augen bloß noch etwas Halt zu finden irgendwo an der gegenüberliegenden Wand.

Dann rutscht auch Rudi vom Hocker; und nachdem er seinen Körper wieder gerichtet hat, belohnt er sich erst mal mit neuem Bier. „ßvei Wlaschen“, befiehlt Rudi der Bedienung, die sogleich versteht, und dann beschließt er mit starrem Blick auf den willenlos betäubten Kopf links: „Schaff ich ooch alleene.“ Auf der Reeperbahn, nachts um halb elf im Lehmitz. Alle sind sie wieder erschienen an diesem Samstag, die Trinker und die Träumer, erlebnishungrige Pistengänger aus den Szenevierteln ebenso wie vereinsamte Herzen aus entfernteren Vororten. Junge und ältere Menschen, manche aus gutem Hause und andere, die schon länger ohne wirkliche Heimat sind. Und jedes zweite Wochenende auch die auswärtigen Fußballfans. Die schon mit Schals und Shirts verkleidet angereist kommen aus Berlin, Frankfurt oder Braunschweig.

Es ist wieder einmal überfüllt im engen Raum; nur wer frühzeitig erscheint, hat vielleicht Aussicht auf einen der Barhocker. Deren Sockel stecken starr verankert im Betonboden, und auch beim Spiel mit dem Tischfußballgerät gleich an der Eingangstür verhindern Gitterstäbe vor dem Münzeinwurf Manipulationen. Der Kicker ist mit einer dicken Glasplatte versiegelt, was sich immer wieder als ganz praktisch erweist. Verschüttete Biere können so niemals das Spielfeld verkleben. Sie fließen lediglich seitwärts ab, nur ab und zu auf Hosen oder Schuhe.

Der Laden ist wie ein Handtuch geschnitten, keine hundert Quadratmeter groß. Längs durch den Raum windet sich ein wuchtiger Tresen in Form zweier Hufeisen. Dazwischen ein paar schmale Korridore mit Platz für das Publikum. Bier wird in Flaschen ausgeschenkt, und die Bedienung kommt manchmal kaum nach mit der Beseitigung des Leerguts.

„Tequila!“, singt Offel, ein Wort Text nur in diesem Song der „Champs“ aus den fünfziger Jahren, einer schnellen und rockigen Instrumentalnummer. Offel ist Sänger und Gitarrist der Hausband im Lehmitz, und das Stück ist heute der Opener, ein klassischer Warmmacher zu Beginn ihres Auftritts. Genau genommen eröffnet die Hausband jede Samstagnacht mit „Tequila“, so wie sie das auch später an den Abenden bei jedem weiteren Set macht. Ein Gläschen Tequila wird dann jedem aus der Band gereicht, auch gemeint als Trinkanregung für das Publikum.

Der Berliner Fan mit dem Schal um den Hals hat diese Aufforderung nicht mehr nötig. Schwerfällig versucht er, ganz langsam den Kopf zu heben. Und sinkt doch gleich wieder kraftlos zurück zu seinen leeren Flaschen. Rudi sitzt kerzengerade schwankend und sucht Blickkontakt mit der Wand.

Oben auf der Tresenbühne covern sich derweil Otto und Offel, die zwei Gitarristen, durch die Geschichte der Rockmusik, von Hendrix zu den Doors, über die Chilli Peppers zurück zu Chuck Berry. Davor ergibt sich das Publikum trinkend und rauchend, lärmend oder schlafend der Nacht. Draußen könnte es tote Vögel regnen – vermutlich bliebe das Leben im Lehmitz davon gänzlich unberührt.

Jan sitzt am Schlagzeug, aufgebaut auf einem winzigen Fleckchen Raum direkt beim Abgang zum Klo. „The Devil“ nennen sie ihn, weil er die Trommeln so schnell schlägt wie jemand aus einer anderen Welt. Er ist der jüngste im Quartett, 25 Jahre alt, und er trommelt immer dann, wenn Jörg, Lehmitz-Besitzer und ebenfalls Schlagzeuger, pausiert. Er ist glücklich, dass bisher noch niemand die Idee hatte, auch ihn inmitten seiner Trommeln über dem Tresen zu platzieren. „Bei meinem ersten Auftritt“, sagt Jan, „da hab ich gedacht: Wer ist hier nicht durchgeknallt? Und was ist normal?“

Die musikalische Magie des „Roadhouse Blues“ von den „Doors“ zieht an diesem Abend eine junge Frau hinauf auf den Tresen. Da tanzt und rappt sie jetzt ganz ohne Scheu. Neben sich die zwei Jungs mit den Gitarren, dort unten die anderen, ihr Publikum. „Ich wollte, dass mich alle mal sehen“, sagt sie später, „alle haben plötzlich zu mir nach oben geschaut. Das war ein schönes Gefühl.“ Wenn nicht Samstagnacht, wann sonst schon kann der Mensch auch mal ein wenig seine Moral vergessen? Am Montag wird sie wieder die unauffällige Studentin sein, und ihr blonder Freund gesteht ganz schnell, doch immer noch irritiert: „Klar, ich fand das schon ganz gut. Aber eifersüchtig war ich auch.“

Und die Musiker? Wie spielt es sich dort oben auf dem Tresen vor 70, manchmal mehr als 100 Leuten, von denen nur ein Teil wegen der Band gekommen ist? „Oft kriegen wir sie zu fassen mit unserer Musik“, sagt Offel, der 34-jährige Sänger. Und Otto, der kahl geschorene 44 Jahre alte Gitarrist, fügt hinzu: „Bei einigen tut es schon weh, zu sehen, wie fertig sie sind. Die haben ein Scheiß-Leben hinter sich und meist auch noch vor sich. Aber Anerkennung kriegen wir irgendwann von jedem.“

So wie jetzt von dem jungen Mann mit dem langen, schwarzen Haar. Den ganzen Abend hat er vorne am Tresen gesessen, inmitten all der anderen und dabei doch nur für sich. Ein wenig bierschwer fällt ihm nun das Gehen, nachdem er aufsteht, das ist nicht zu übersehen. Doch dann ergreift er vor der Bühne das Mikrofon und singt mit Werner, dem Bassisten, erstaunlich stimmsicher „Born to be wild“. „Mir gefällt, wie die Band sich und die Musik präsentiert“, sagt er später, „zum Quatschen könnte ich auch zu McDonalds gehen.“

„Man muss sich arrangieren können, wenn man so eng zu dem Publikum steht“, sagt Otto irgendwann, „man schwitzt den Leuten ja direkt in die Bierflasche.“ Früher hat er schon auf den ganz großen Bühnen gestanden, unter anderem mit seiner eigenen Gruppe „Ottodox und die Reformierten“ oder auch bei „Charly Schreckschuss“ in der Bluesband. Sie alle sind professionelle Musiker, basteln gerade an neuen Gruppen oder helfen aus in befreundeten Kapellen. „Die Arbeit hier hilft uns, künstlerische Routine zu bewahren“, sagt der 39-jährige Werner, der früher mit seinem Bass bei „Cats“ im Orchestergraben gegenüber auf der anderen Straßenseite anzutreffen war.

Trotz anderer Träume kommen die Musiker gerne jede Samstagnacht ins kleine verräucherte Lehmitz. Der da vorhin mitgesungen hat, sagt Otto, der hat Spaß gemacht. „Aber ob wir nun dort stehen und Musik machen oder nicht“, fügt Otto nach einer Weile hinzu, „wer im Leben einfach nur noch röcheln kann, der wird das sicher auch ohne uns tun.“

Peter Brandhorst

Am Tresen daheim

Ein Besuch in Hamburger Eckkneipen

(aus Hinz&Kunzt 119/Januar 2003)

Vielleicht ist es ja nur das Unbekannte, dieses Nicht-wissen-was-kommt-Gefühl, was zunächst etwas Beklemmung verursacht. Noch von draußen, von der Straße her, kein einstimmender Blick möglich auf das, was einen drinnen gleich wohl erwartet. Eckkneipen sind öffentliche Orte, die dennoch dem Fremden als allererstes Distanz signalisieren.

Fensterbrettlange Gardinen oder doppel-wandige Buntglasscheiben entziehen Tische und Tresen – und die Menschen drumherum – der allgemeinen Aufmerksamkeit, anders als in all den modernen Caféhäusern oder Szenekneipen. Der fremde Besucher spürt sofort, er könnte stören. Wer an diesen Orten nicht fremd bleiben will, muss schnell dazugehören wollen. Und wer einkehrt, tut dies zumeist schon länger mit jener gewohnten Routine, mit der etwa auch das häusliche Wohnzimmer betreten wird.

„N’Abend“, ruft Anni, und am Tresen drehen sich drei Männerköpfe synchron von ihren Bierflaschen weg hin zur Eingangstür. „O-Saft?“, fragt Anni dann irritiert zurück. „Nee. Das gab’s hier früher mal. Ist aber immer schlecht geworden.“ Dabei lacht Anni erfrischend schrill scheppernd, und links am Tresen sagt Jürgen: „Flaschenbier geht am schnellsten. Auf Fassbier müsste man fünf Minuten warten.“

Die Wände sind brusthoch mit bonbonroter Lackfarbe gestrichen. Darüber zahlreiche Fotos, große wie kleine, zumeist mit lachenden oder trinkenden Menschen, offensichtlich Gästen. In einer Ecke Fahne und Fanabzeichen des Stammtischs der St. Pauli-Anhänger. Schräg gegenüber Kuckucksuhr und eine Kuhglocke. Und dann die vielen Katzen: fotografierte Katzen an den Wänden und Porzellankatzen in der prall gefüllten meterhohen Vitrine auf dem Tresen. „Ich liebe Katzen“, sagt Anni, „manchmal verirren sich Fremde hierher, junge Leute vor oder nach einem Konzert in der ‚Fabrik‘. Die können das alles nicht fassen und fragen: Wohnen Sie auch hier drinnen?“

Anni Geniffke betreibt an der Barnerstraße sechs Abende pro Woche die Eckkneipe „Min Jung“, zunächst zusammen mit Ehemann Rudi und nach dessen Tod vor 16 Jahren allein. Im Oktober feierte Altonas älteste aktive Wirtin ihren 78. Geburtstag. „Auch wenn die Einrichtung in den Augen junger Leute alt aussieht“, sagt Anni, „hier wird nichts verändert. Man muss es den Gästen doch gemütlich lassen.“ „Ja“, sagt Reiner, „wir sind zueinander wie eine gemütliche Familie. Und Anni ist unsere Mutti.“ Reiner ist auch schon 70 und Stammgast seit 25 Jahren.

Insgesamt 4800 gastronomische Betriebe arbeiten in Hamburg, gut 1000 zählen zu den Stamm- oder Eckkneipen. Als Treffpunkte des „kleinen Mannes“ sind sie für viele von ihnen diejenige Einrichtung des täglichen Lebens, in der soziale Kontakte noch möglich sind. „Privat hab ich keine Bekannten“, sagt Reiner, seit vier Jahren Witwer, „zu mir nach Hause kommt niemand. Meine Bekanntschaften treffe ich nur in der Kneipe.“ Anni sagt: „Einer passt auf den anderen auf.“ Und dann erzählt sie die Geschichte von vor ein paar Monaten, als Reiner mal sechs Wochen lang nicht zu ihr kam. Den Dieter, sagt Anni, habe sie dann vom Tresen weg voller Besorgnis zu Reiners Wohnung geschickt. Und, als dort niemand öffnete, gleich noch die Polizei hinterher. „Es wissen ja alle, dass es mit meiner Gesundheit nicht so gut ist“, sagt Reiner, „ich hab mich über das Sorgen-Machen sehr gefreut.“

So trifft man sich am Tresen immer wieder als miteinander vertraute Gemeinschaft, kennt meistens die Vornamen voneinander und weiß manchmal auch ein wenig von Krankheiten oder anderen Kümmer-nissen. Das Leben wird dann diskutiert, das manchem nur wenig Anlass bietet zur Hoffnung, und vor allem die wirklich komplizierten Dinge des Alltags. Fußball zum Beispiel, am Tresen selten ein simples Spiel, sondern stets hochkomplex. Oder Politik. Da kann es dann schon mal passieren, dass man irgendwann vorstößt auf den wahren Kern einer Sache, auf den Nukleus eines Geflechts. So wie Post-Gerd, jahrzehntelang eingefleischter Sozialdemokrat, wie Anni sagt, der irgendwann am Tresen erklärt habe, nun sei Schluss mit lustig mit der SPD. „Wegen dem Schröder“, erklärt Anni, „weil der schon drei Mal geschieden ist.“ „So’n Bock“, habe Post-Gerd dann noch gesagt, „so’n Bock wähl’ ich nicht mehr.“

Es ist zumeist die einfache Sprache, die Sprache der Straße, die in den Eckkneipen gesprochen wird. Die Sprache des kleinen Mannes, rau und direkt und manchmal auch verletzend. Mancher, der das Wort führt, macht sich dann gerne schon mal größer, als er tatsächlich klein ist. „Wenn Männer sich in die Wolle kriegen, dann gibt es Alarm“, sagt Bert in einer Kneipe an einer Wohnstraße auf St. Pauli, „meistens beleidigen wir uns nur, mal gibt’s auch eine Keilerei.“ Wichtig sei vor allem „das Hinterher: Entschuldigung! Bitte! Danke!“

Bert hat heute schon einige Flaschen Bier getrunken, seine Zunge liegt ihm hörbar schwer im Mund. Links daneben sitzt Horst, 58 Jahre alt, und nicht nur sein Pullover, den er an diesem frühen Abend trägt, strahlt in tiefem Blau. Bald wird Feierabend sein für diesen Tag, von zehn bis zehn ist hier geöffnet, eine Tageskneipe. „Noch’n Holsten“, versucht Horst jetzt zu rufen, und der Wirt versteht gleich die Bestellung, „morgen um fünf muss ich wieder im Hafen sein“, letzte Flasche für ihn auf seiner täglichen After-Work-Party. Bert sagt nun, er selbst könne ja nicht mehr arbeiten, sei unfähig geschrieben, aber morgen in der Frühe, da wär’ auch er rechtzeitig hoch. „So ab zehn bin ich hier in die Kneipe. Jedenfalls vielleicht, ich mach nämlich auch schon mal Pause.“

Den ganzen Tag nur in der Kneipe, fast jeden Tag, wie viel Geld kostet das? „Das ist wirklich eine dumme Frage“, raunzt Bert jetzt ganz böse und dreht sich verärgert zur Seite, „da antworte ich nicht mehr drauf.“ Einen Moment lang entsteht Stille am Tresen, und bald beginnt der Wirt langsam, leere Bierflaschen von einer Kiste in eine andere umzustecken. „So pauschal kann man das doch überhaupt nicht sagen“, antwortet Bert schließlich doch noch, aber weiterhin arg maulig wegen der Frage, „man kann ja auch mal krank werden.“

Peter Brandhorst

Nicht verpassen: Restakzent im Kaiserkeller

Gig der einzig wahren Hinz&Kunzt-Band auf dem Hamburger Kiez!

Restakzent spielen am 9. Juli ab 20 Uhr  im Kaiserkeller, Große Freiheit 36.

Eintritt: 3/2 Euro, ab dem 100. Besucher geht das Eintrittsgeld an die Band.

An diesem Abend auch zu sehen und zu hören: Die legendären Punkrocker Big Balls and the great white idiot!

Besuchen Sie die MySpace-Seiten der beiden Bands

–> Restakzent

–> Big Balls

Schauen Sie sich den Auftritt von Restakzent beim 15. Geburtstag von Hinz&Kunzt in der Fabrik in Hamburg an:


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Nicht verpassen: Eine prickelnde Märchenstunde

Skurril, bizarr, verrucht: Ein Erzählabend im Panoptikum

„Es wird prickeln. Sie werden sich gruseln“, verspricht Märchenerzählerin Alexandra Kampmeier. Sie lädt mit ihren Kollegen Lothar Schröer und Bluesmusiker Dieter Kropp ins Panoptikum zu „Das Lächeln der Margarete Andoux“.

Den besonderen Märchenabend können Sie miterleben am

Montag, 22. Juni; 20.30 Uhr (Einlass 20 Uhr)

im Panoptikum, Spielbudenplatz 3 in Hamburg.

Noch sind Karten für 12 Euro (ermäßigt 10 Euro) im Vorverkauf zu haben;

nur bei Hinz&Kunzt, Telefon 040-32 108 311.