Wahre Geschichten

Bruno Schrep erzählt von Schicksalen, die zu schlimm sind, um erfunden zu sein. Vier Bücher mit seinen Sozialreportagen sind bereits erschienen.

(aus Hinz&Kunzt 206/April 2010)

„Nun beginnt ein neuer Lebensabschnitt“, prophezeit munter der Zivildienstleistende, der Herrn Lipowschek  in den Krankenwagen hievt. „Davor habe ich Angst“, entgegnet der 86-Jährige. Er zieht heute ins Altersheim.
Autor Bruno Schrep begleitet Herrn Lipowschek. Er ist am Tag des Umzugs dabei, hat ihn vorher in seiner Wohnung besucht und wird ihn später im Heim treffen, wo der alte Mann es „viel schlimmer als befürchtet“ findet, obwohl es objektiv dort viel besser für ihn ist.

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(Foto: Benne Ochs)

Schreps Artikel „Die letzte Station“ erschien 2005 im Nachrichtenmagazin Der Spiegel und bei Hinz&Kunzt. Herrn Lipowschecks Geschichte und 19 weitere seiner Spiegel-Reportagen hat Schrep 2009 im Sammelband „Nebenan“ veröffentlicht. Die Geschichte vom Umzug ins Altenheim ist die, die Schrep „am meisten beeindruckte“.
Dabei drehen sich andere Erzählungen dieses Bandes um durchaus drastischere Ereignisse: Da ist die 76-jährige Anna D., die ihre schwerst behinderte Tochter nach 52 Jahren Pflege erstickt. Da sind Martina und Elisabeth, die acht- und sechsjährig den Tod ihres Vaters mit ansehen müssen. Und da ist Arne Buckenauer, der – einst erfolgreicher Macher – durch alle sozialen Netze fällt und einsam in einem Zelt stirbt.
Alle Geschichten verbindet für Bruno Schrep, „dass sie vor unseren Augen passieren, eben nebenan“. Der Autor stellt anhand von Einzelschicksalen aktuelle soziale Themen dar und kann für jede seiner Geschichten ein Stichwort nennen: Alter, Sterbehilfe, Vernachlässigung von Kindern, sozialer Abstieg.
Jede Erzählung ist so besonders wie bezeichnend, „im persönlichen Schicksal einzigartig, dabei typisch für eine gesellschaftliche Entwicklung“, so Schrep. Seit 1980 schreibt der gelernte Bankkaufmann für den Spiegel. Für seine Bücher hat der 64-Jährige Artikel aktualisiert und weiter ausgeführt. Anstoß zu den Veröffentlichungen gaben stets Verlage. „Ich freue mich über die Anerkennung“, sagt Schrep. „Ich nehme das als Bestätigung und als Ansporn.“
Wie er selbst zu den Problematiken steht, die er aufzeigt,  lässt Schrep in den Büchern nur dezent durchblicken: „Der Leser soll eine Haltung entwickeln und nicht vorgekaut bekommen, was er für eine zu haben hat.“ Leichter gesagt als getan, denn nicht nur gehen die Schicksale dem Leser gehörig an die Nieren, auch dürfte den meisten ihre Einordnung schwer fallen. Denn Schrep ist kein Schwarz-Weiß-Maler. Hier Opfer, dort Täter, hier Problem, dort Lösung – das gibt es für ihn nicht. „Für mich liegt der Reiz einer Geschichte auch in der Möglichkeit, Vorurteile zu überprüfen und zu hinterfragen.“ Im Klappentext von „Nebenan“ heißt es über Schreps Schilderungen, sie seien karg, nie würde Sentiment ausgestellt. Da widerspricht der Autor: „Unsentimental ist es nicht. Aber es ist doch so: Die Realität ist erschütternder als jede Phrase darüber, wie schrecklich alles ist.“

Beatrice Blank

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„Die letzte Station“– Schwerer Abschied: der Umzug vom eigenen Zuhause ins Altersheim. SPIEGEL-Reporter Bruno Schrep und Fotograf Jörg Modrow begleiteten zwei Hamburger auf ihrem Weg (erschienen in Hinz&Kunzt 148/Juni 2005)
und
Aufopfern als Lebensinhalt
– „Spiegel“-Reporter Bruno Schrep u ber eine 76-jährige Mutter, die 52 Jahre lang ihre schwerbehinderte Tochter pflegte – und sie dann tötete (erschienen in Hinz&Kunzt 194/April 2009)

Aufopfern als Lebensinhalt

„Spiegel“-Reporter Bruno Schrep über eine 76-jährige Mutter, die 52 Jahre lang ihre schwerbehinderte Tochter pflegte – und sie dann tötete

(aus Hinz&Kunzt 194/April 2009)

Um ihr einen Heimaufenthalt zu ersparen, tötete die 76-jährige Anna D. ihre hilflose Tochter Johanna. Zuvor hatte sie die körperlich und geistig schwer behinderte Tochter über 52 Jahre lang gepflegt. Jetzt wurde die Frau wegen Totschlags zu zwei Jahren auf Bewährung verurteilt.

„Ich hab mein Kind nie allein gelassen“, beteuert die kleine, zerbrechlich wirkende Frau mit leiser Stimme, „ohne mich war sie doch völlig hilflos.“ Und, etwas lauter: „Was wissen denn schon die andern?“
Zusammengesunken sitzt Anna D. in einem Anwaltsbüro in der Hamburger Hochhaussiedlung Steilshoop, auf dem Schoß eine blaue Akte, neben sich ihren hochbetagten Ehemann. 76 Jahre ist sie alt, angeklagt wegen Totschlags.
Ende vorigen Jahres erstickte Anna D. ihre schwerbehinderte Tochter Johanna mit einer Plastiktüte. Zuvor hatte sie die Tochter ein Leben lang betreut und gepflegt, über 52 Jahre. Von morgens bis abends, Tag und Nacht. Ohne fremde Hilfe. Immer. Als sie nicht mehr konnte, als die Kraft nicht mehr reichte, sah sie für sich und Johanna keinen Ausweg mehr.
Die Tragödie bahnte sich lange an, mehr oder weniger vor den Augen der Öffentlichkeit. Viele wussten um die Probleme der Familie D.: Ärzte, Juristen, Behördenmitarbeiter, Hausbewohner. Doch niemand traute sich, Alarm zu schlagen. Nicht aus Feigheit oder Gleichgültigkeit, sondern weil sich Anna D. seit vielen Jahren jede Einmischung verbat. Sie wollte sich nicht helfen lassen.
Der tragische Fall, schon von der zeitlichen Dimension wohl einmalig in Deutschland, erweitert die Diskussion um das Thema Sterbehilfe um ein weiteres Kapitel. Wann hört das Schicksal von Behinderten und ihren Angehörigen auf, Privatsache zu sein? Hätte von außen eingegriffen werden sollen? Und wenn ja, wann und wie? Warum hat nicht ein Profi die Betreuung übernommen? Hätte die Tochter in einem Heim untergebracht werden müssen, gegen den Willen der Mutter?
Johanna kommt im Mai 1956 zur Welt. Die Hausgeburt in dem kleinen nordhessischen Ort verläuft problemlos, Arzt und Hebamme gratulieren zu einem gesunden Baby.
Doch als das Neugeborene zwei Tage später plötzlich zittert, um sich schlägt, Schaum vor dem Mund bekommt, nicht mehr zu schreien aufhört, ist klar, dass etwas nicht stimmt. Über ein Vierteljahr wird Johanna in einem Kasseler Krankenhaus untersucht, die Diagnose ist nicht eindeutig. „Wahrscheinlich ein Sauerstoffmangel bei der Geburt“, vermutet einer der Kinderärzte und raubt den Eltern gleichzeitig jede Hoffnung: „Dieses Kind wird bald sterben.“

„Aber sie ist nicht gestorben“, sagt Anna D. heute, „ich habe sie nicht sterben lassen.“
Die gelernte Schneiderin kennt ab sofort nur noch ein Ziel: der Tochter das Überleben zu sichern, ihr das Dasein so schön wie möglich zu gestalten. Alle anderen Zukunftspläne sind plötzlich zweitrangig. Weitere Kinder, wie eigentlich geplant, werden gestrichen. Das Sparen für ein eigenes Haus ist Vergangenheit.
Johannas Entwicklung rechtfertigt alle Befürchtungen. Je älter sie wird, desto deutlicher werden ihre schweren körperlichen und geistigen Mängel. Das Mädchen zieht das rechte Bein nach, bewegt sich nur mit fremder Hilfe und mühsam hinkend vorwärts. Es kann nicht räumlich sehen, stolpert oft. Versucht zu sprechen, schafft aber außer Mama und Papa nur wenige undeutlich gestammelte Worte. Lernt nie lesen oder schreiben, bleibt zeitlebens im Stadium einer Zwei- bis Dreijährigen.
Auch die Bewältigung des Alltags bedeutet eine tägliche Herausforderung. Johanna kann sich nicht allein waschen, nicht allein anziehen, nicht allein zur Toilette gehen. Ihr Schicksal spricht sich herum. Im Ort wird über das komische Mädchen getuschelt, das so seltsam geht und noch seltsamer aussieht, immer von der Mutter geführt werden muss. Die D.s sind plötzlich Außenseiter.
Vier Jahre nach Johannas Geburt halten es die Eltern in der Provinz nicht mehr aus. Vater Karl-Heinz D., ein Zollbeamter, lässt sich nach Hamburg versetzen. In der Hansestadt, hat die Mutter in einer Zeitschrift gelesen, gebe es neue Förderungsmöglichkeiten für behinderte Kinder, bessere Behandlungsmöglichkeiten, sogar spezielle Schulklassen.
Hamburger Ärzte und Universitätsprofessoren untersuchen die Kleine, können jedoch nicht helfen, wirken ratlos. Diagnose- und Therapiemöglichkeiten sind Anfang der 60er- Jahre längst nicht so weit wie heute, Erfolge in der Medizin werden im aufstrebenden Nachkriegsdeutschland vor allem an chirurgischen Pioniertaten, wie etwa spektakulären Organverpflanzungen, gemessen.
Auch die Eingliederung von Behinderten in Kindergärten, Schulen und den Berufsalltag steht noch ganz am Anfang, die meisten leben unter Ausschluss der Öffentlichkeit in Heimen. Immerhin: Anna D. macht für die Tochter eine Schule ausfindig, in der Kinder mit einem Handicap gemeinsam unterrichtet werden. Weil die meisten Mitschüler jedoch weniger schwer beeinträchtigt sind, wird Johanna oft gehänselt und drangsaliert, kann nicht bleiben.

„Sie haben ihr die Finger rumgedreht, bis es geknackt hat“, erinnert sich Vater Karl-Heinz D.

Die Mutter, damals Anfang 30, glaubt zu diesem Zeitpunkt noch an einen gemeinsamen Kampf mit Schicksalsgefährten. Sie organisiert eine private Behindertengruppe, versucht andere Mütter zum Mitmachen zu motivieren, entwirft Programme, hat große Pläne. Als das Projekt nach einem Jahr scheitert, reagiert sie verbittert. Der etappenweise Rückzug beginnt.
Zwar versuchen die Eltern noch zwei-, dreimal, die Tochter zumindest vorübergehend in einem Heim unterzubringen, zumindest für ein paar Stunden, ein paar Tage. Kein Haus genügt jedoch nur annähernd den Ansprüchen von Anna D. Die Enttäuschung über vermeintlich mangelnde Pflege und Betreuung sitzt tief.
Vor allem bei der Mutter, die ohnehin die Hauptlast trägt, verfestigt sich mehr und mehr die Überzeugung, dass nur sie allein genau weiß, was für Johanna gut und richtig ist. Tatsächlich kennt niemand besser die Bedürfnisse der Tochter, vermag sie niemand schneller zu trösten oder zu beruhigen.
Anna D. lässt sich zum Vormund einsetzen, kann seitdem über das Schicksal der Tochter allein bestimmen. 1978 bricht sie die Kontakte zu Behörden und Behinderteneinrichtungen weitgehend ab. Da ist Johanna 22 Jahre alt.
„Sicher keine gute Entscheidung“, glaubt Martin Eckert, Geschäftsführer des Vereins „Leben mit Behinderung Hamburg“, einer Selbsthilfeorganisation von über 1300 betroffenen Angehörigen. Eckert, selbst Vater einer 33-jährigen behinderten Tochter, versteht zwar noch im Nachhinein den Frust der Familie D., kennt die Erfahrung, sich mit seiner Not weitgehend allein gelassen zu fühlen. Trotzdem glaubt er: „Die Eltern haben zu früh resigniert.“
Tatsache ist: Ausgerechnet 1978, als Anna D. sich jede Hilfe von außen verbittet, wird in Hamburg eine der ersten Wohngruppen für junge Behinderte gegründet. Und spätes­tens seit den 80er-Jahren setzt sich in Deutschland mehr und mehr die Erkenntnis durch, dass die Chancen von Behinderten steigen, wenn sie auch außerhalb der Familie gefördert werden.
In Großstädten wie Hamburg entstehen neue Werk- und Tagesstätten, versuchen speziell ausgebildete Lehrer, verborgene Fähigkeiten zu wecken, auch Schwerbehinderten Möglichkeiten zu eröffnen, sich unabhängig vom Elternhaus weiterzuentwickeln, mit Gleichaltrigen zusammenzuwohnen, zusammenzuarbeiten.
„Ein 20-Jähriger ohne Behinderung kann sich aus eigener Kraft von den Eltern freibeißen“, sagt Experte Eckert, „ein behinderter 20-Jähriger kann das nicht.“ Deshalb sei Loslassen so wichtig – für beide Seiten. „Auch ihr habt ein Recht auf ein eigenes Leben“, bläut Eckert klammernden Eltern ein, „denkt auch an euch, denkt an eure Partnerschaft.“ Immer wieder warnt er auch vor Selbstaufgabe:

„Hört auf, das Aufopfern zum Lebensinhalt zu machen.“

Genau auf diesen Punkt steuert die Familie D. zu. Jahrzehntelang dreht sich das Leben nur noch um die behinderte Tochter.
Wenn Vater Karl-Heinz D. nach dem Dienst nach Hause kommt, liest er Johanna erst mal zwei Stunden vor, später löst ihn seine Frau ab. Um die längst erwachsene Tochter nicht zu irritieren, bleibt die Lektüre fast immer gleich: die Märchen der Brüder Grimm und die Geschichten von Astrid Lindgren, vor allem die „Kinder aus Bullerbü“. „Nach 30 Jahren kannte sie jede Zeile auswendig“, berichtet der Vater, „wenn ich einen Fehler machte, protestierte sie sofort.“
Mutter Anna D. packt noch mit über 50 Jahren die Führerscheinprüfung, kauft ein Auto. Zweimal pro Woche fährt sie mit der behinderten Tochter zum Schwimmen, einmal zur Krankengymnastik, einmal zur Massage. Mehr schafft sie nicht.
Weil Johanna Unterhaltungsmusik liebt, bei Schlagerklängen entspannt wie sonst nie jauchzt und lacht, scheuen die Eltern keine Kosten, um ihr eine Freude zu machen. Wenn im Hamburger Congress Center die Blaskapellen vom „Musikantenstadl“ aufspielen oder das „Fest der Volksmusik“ gastiert, sitzt Anna D. mit ihrer Tochter immer in der ersten Reihe.
Vater und Mutter leben äußerst bescheiden, das Geld von der Pflegeversicherung und andere Einnahmen gehen fast ausschließlich für Johanna drauf. In ihrem Zimmer stapeln sich Schallplatten, Filme und handgefertigte Puppen, es gibt hochwertige Lautsprecherboxen, ein teures Fernsehgerät.

„Das Beste ist für Johanna gerade gut genug“, sagt die Mutter, „das hat sie verdient.“

Die Kontakte zu anderen werden immer weniger. Weil sich die Tochter vor Fremden fürchtet, laden die Eltern keine Freunde mehr ein. Die einzigen Verwandten leben in Hessen, sind weit weg. Mit den Nachbarn im vierstöckigen Mehrfamilienhaus grüßt man sich nett, mehr nicht. „Es war eine sehr, sehr eingeschränkte Existenz“, sagt Anna D. rückblickend.
Hilfsangebote lehnt sie freundlich, aber bestimmt ab. Die Familie lebt zwar inmitten vieler Menschen, dennoch isoliert in einer total abgeschotteten eigenen Welt. Als beide Eltern krank werden, gerät diese Welt in Unordnung. Die Familie driftet unaufhaltsam auf das düstere Finale zu.
Anna D., vom jahrelangen Heben und Stemmen der Tochter gezeichnet, bekommt ein chronisches Rückenleiden. Die schmächtige Frau, keine 1,60 Meter groß, kann nicht mehr gerade gehen, braucht ein Spezialbett, schluckt ständig Schmerzmittel. Täglich wird es ihr mühsamer, Johanna aus dem Bett zu hieven, anzukleiden, zu führen. Hausbewohner kriegen mit, wie endlos lange es dauert, wenn sich Mutter und Tochter die Treppe heraufquälen, Johanna schwer auf die Mutter gestützt.
Hinzu kommt, dass Vater Karl-Heinz D., inzwischen längst pensioniert, immer mehr abbaut, seine Frau nicht wie früher bei der Pflege unterstützt. Obwohl er zuckerkrank ist, starke Medikamente einnehmen muss, keinen Alkohol trinken soll, greift er immer häufiger zur Flasche, will das Elend um ihn herum vergessen. Manchmal schafft er es nicht mehr von der Straße bis zur Wohnung, die Ehefrau muss ihn nach oben bringen.
Im Rausch kommt es vor, dass er, früher undenkbar, seine behinderte Tochter lautstark beschimpft, in der Wohnung herumbrüllt. Bei einem Krankenhausaufenthalt im Oktober 2008 diagnostizieren die Ärzte bei dem 80-Jährigen eine beginnende Demenz. „Plötzlich hatte ich zwei Pflegefälle“, erinnert sich Anna D., „das war nicht mehr zu schaffen.“
Die inzwischen 76-Jährige zieht Bilanz, ganz allein, ohne mit irgendjemandem zu sprechen. Beschließt, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Und die Tochter? Die soll mit ihr zusammen sterben.

„Ich konnte sie doch nicht in ein Heim geben, nach 52 Jahren“, rechtfertigt die Mutter ihre Entscheidung, „dazu hab ich sie zu sehr geliebt.“

Am 29. November, einem Samstag, gucken Mutter und Tochter abends gemeinsam Fernsehen, es gibt das „Adventsfest der Volksmusik“ mit dem Sänger Florian Silbereisen, den Johanna besonders mag. Sie ist gut gelaunt, versucht sogar mitzusingen. Wie immer wird sie von der Mutter zu Bett gebracht, wie immer bekommt sie noch eine Geschichte vorgelesen, wie immer bekommt sie ihre blonde Lieblingspuppe in den Arm gelegt. Dann geschieht etwas, das sie nicht kennt.
Schon seit vielen Jahren ist Anna D. Mitglied bei der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben, einer Organisation, die in Broschüren und im Internet Infos zum selbstbestimmten Suizid verbreitet, Patientenverfügungen verschickt, Sterbebegleitung anbietet. Über diese Organisation hat sie sich eine „Exit Bag“ schicken lassen, einen durchsichtigen Plastiksack mit verschließbarer Halskrause, der bei vorschriftsmäßiger Anwendung zunächst Atemnot auslöst, später infolge Sauerstoffmangels zum Tod führt. Diese Tüte stülpt Anna D. der Tochter über den Kopf, zieht den Verschluss fest zu. „Sie lag ganz still da, hat sich nicht gewehrt“, erinnert sich die Mutter, „sie hielt das Ganze wohl für ein Spiel. Ich konnte durch die Tüte noch ihr Gesichtlein sehen, sie hatte die Augen offen.“ Der Vater, der auf dem Wohnzimmersofa schläft, kriegt von alledem nichts mit.
Als Johanna nicht mehr atmet, schneidet sich Anna D. mit einer Schere und einem Küchenmesser die Pulsadern auf, wartet auf den Tod – vergebens. Die Blutung lässt schon bald nach, auch ein zweiter Versuch misslingt. Die Mutter muss weiterleben.

„Das ist die schlimmste Strafe“, sagt sie heute.

Erst am Montagmorgen, 36 Stunden nach ihrer Tat, informiert Anna D. ihren Hausarzt. „Ich habe was ganz ganz Schlimmes gemacht“, gesteht sie, bittet ihn, die Polizei zu alarmieren. „Warum haben Sie denn so lange gewartet?“, fragt eine der Beamtinnen. Antwort: „Ich hatte Angst, Johanna könnte wiederbelebt werden.“
Der Haftrichter lässt die Mutter, die alles gesteht, nach ausführlicher Vernehmung frei, sie darf – nach kurzem Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik – schnell wieder nach Hause. Vater D., der auf die Polizisten einen verwirrten Eindruck macht, nicht orientiert scheint, kommt in ein Seniorenheim. Wie lange er dort bleiben muss, ob er eventuell wieder zurück in die Wohnung kann, ist noch offen. Zum Termin beim Anwalt hat er Ausgang bekommen.
„Niemand will doch im Ernst, dass diese alte Frau noch mal ins Gefängnis muss“, glaubt Norbert Müller, der Hamburger Verteidiger von Anna D. Als Indiz dafür wertet der Jurist, dass die Hamburger Staatsanwaltschaft seine Mandantin nicht wegen Mordes, sondern nur wegen Totschlags anklagte, sogar das Mordmerkmal der Heimtücke ausdrücklich verneinte.
Zur Heimtücke gehöre mindestens, dass ein Täter in „feindseliger Willensrichtung“ agiere, argumentierte der Staatsanwalt. Anna D. dagegen habe zweifelsfrei „aus altruistischen Motiven“ und „zum vermeintlich Besten ihrer Tochter“ gehandelt. Wegen der „außergewöhnlichen Umstände“ und der „Persönlichkeit der Beschuldigten“ beschränkte sich der Ermittler deshalb auf eine Anklage wegen Totschlags in einem minder schweren Fall.
Anna D. hat ihre Tochter auf dem Hamburger Hauptfriedhof anonym bestatten lassen.

Die Geschichte meines Lebens

(aus Hinz&Kunzt 157/März 2006)

Hamburger Journalisten schreiben die Reportage, die sie am meisten bewegt oder verändert hat. Teil 3: Spiegel-Redakteur Bruno Schrep schrieb über zwei verlorene Söhne, den Terroristen Wolfgang Grams und den Bundesgrenzschützer Michael Newrzella, die bei einem Schusswechsel in Bad Kleinen umkamen.

Die letzte Station

Schwerer Abschied: der Umzug vom eigenen Zuhause ins Altersheim. SPIEGEL-Reporter Bruno Schrep und Fotograf Jörg Modrow begleiteten zwei Hamburger auf ihrem Weg

(aus Hinz&Kunzt 148/Juni 2005)

Die 30 Meter vom Haus bis zum Sanitätsauto möchte Herr Lipowschek unbedingt allein bewältigen. Gestützt auf seinen Gehwagen schlurft er langsam, ganz langsam vorwärts, den Rücken tief nach vorn gebeugt, den Kopf fast auf der Brust. Schritt für Schritt für Schritt. Während der endlos scheinenden fünf Minuten, die er für den kurzen Weg braucht, dreht er sich nicht einmal um. Blickt nicht zurück auf die Gründerzeitvilla, in der er 37 Jahre gewohnt hat, will nichts mehr sehen von der Vergangenheit.

Als er im April 1967 hier einzog, blühte vor dem Fenster seiner kleinen Parterrewohnung ein alter Kastanienbaum, inzwischen längst gefällt. Jetzt ist es Winter, Herr Lipowschek muss sich enorm konzentrieren, um nicht auf dem feuchten Laub auszurutschen.

„Nun beginnt ein neuer Lebensabschnitt“, prophezeit munter der Zivil-dienstleistende, der Herrn Lipowschek in den Krankenwagen hievt. „Davor habe ich Angst“, entgegnet der 86-jährige Mann.

Nein, in ein Altersheim hat er nie gewollt, der Doktor jur. Anton Lipow-schek, Experte für osteuropäisches Recht, Herausgeber wissenschaft-licher Publikationen und Bücher, ehemaliger Dozent an der Hamburger Universität. Doch seit er sich nach einem komplizierten Oberschenkel-halsbruch kaum noch rühren kann, weiß er keine Alternative mehr.

„Freiheit ist die Einsicht in das Notwendige“, zitiert er frei den Philo-sophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Eine Freiheit, die wehtut. Lipowschek muss sich von fast allem trennen, was ihm wichtig und wertvoll ist: von der abgewetzten Ledergarnitur, nicht mehr sehr an-sehnlich, aber doch so vertraut, von den alten Regalen, für die im Heim kein Platz mehr ist, vom Großteil der Bilder an den Wänden. Drei Tage vor dem Umzug ins Heim stehen auf dem Fußboden blaue Müllsäcke, gefüllt mit Haushaltsutensilien, mit alten Kissen und Teppichen. Auf dem Couchtisch türmen sich zum Wegwerfen bestimmte Akten und Fachbücher, darunter vergilbte Gutachten über komplizierte Rechtsfra-gen und die kompletten Jahrgänge einer wissenschaftlichen Zeitung. „Das war mal mein Leben“, sagt Lipowschek, deutet auf den Tisch: „Jetzt ist es nur noch Ballast.“

„Das war einmal mein Leben“, sagt Herr Lipowschek. Die paar Dinge, die er unbedingt mitnehmen will, passen in einen Karton: ein kleines Album mit Fotos von der Verabschiedung als Uni-Dozent; ein gezeichnetes Porträt von ihm aus den sechziger Jahren; sein Doktordiplom; das Faksimile einer slowenischen Bibel von 1581; ein paar Wörterbücher; vier dicke Bände mit dem Titel: „Die Ehre des Herzogthums Crain“. Noch heute spricht der Hamburger Jurist, geboren in der Steiermark, der in Rom promoviert hat, fließend Slowenisch, Ita­lienisch und Englisch. „Mein Geist hat nicht gelitten“, versichert er mit lauter, noch immer vom österreichischen Tonfall geprägter Stimme. Wenn da nur nicht dieser verdammte alte Körper wäre.

Zusammengesunken sitzt der 86-Jährige auf seinem Bett, dem ein-zigen Möbel, auf dem keine Umzugskiste steht, sortiert die Medika-mente auf seinem Nachttisch: Novalgin, Cosmopor, Bepanthen-Salbe, Sinupret. Langsam zählt er seine Krankheiten auf: Bluthochdruck, Diabetes, durch Bechterew hervorgerufene Verkrümmung der Wirbelsäule, die seinen Kopf schief nach unten drückt. Fast totale Versteifung der Hüfte. Sehen und hören kann Lipowschek nur noch ganz schlecht, die kleinste Bewegung kostet ihn größte Anstrengung. „Jeder Tag ist eine Last, die man ertragen muss“, klagt er.

Seine alte Putzfrau hat ihm beim Aussortieren geholfen, assistiert von der Ehefrau des einzig verbliebenen Freundes. Die wenigen anderen Freunde sind entweder tot oder lassen sich, seit der alte Wissenschaftler so hinfällig ist, nicht mehr blicken. Zu ein paar entfernten Verwand-ten besteht kein Kontakt. Als die Heimleitung bei seiner Anmeldung wissen wollte, wer im Fall seines Todes erben soll, hat er lange gegrübelt.

Anton Lipowschek war immer ein Einzelgänger. Nie verheiratet, nie liiert. Am liebsten auch am Wochenende in seine Fachbücher vergraben; ungestört in den eigenen vier Wänden. Und so wollte er es eigentlich halten bis zum Schluss. Unabhängig, selbstständig, ohne fremde Hilfe.

Schon dass ihm zuletzt morgens und abends ein Zivi von der Diakonie beim An- und Ausziehen helfen musste, fand er schwer erträglich. Und „Essen auf Rädern“ hat er bis zuletzt abgelehnt, sich lieber täglich eine warme Mahlzeit vom Italiener um die Ecke bringen lassen. Aber das ist nun auch vorbei.

Jetzt, so kurz vor dem Umzug, hat die Furcht vor dem Neuen die Trauer um den Verlust des Gewohnten fast verdrängt. Herr Lipowschek kann vor Aufregung kaum noch schlafen, selbst Tabletten helfen nicht. Immer wieder denkt er an die vielen Menschen, die er kennen lernen muss, und an die fremde Umgebung. Ihm graut vor beidem. „Die Nerven liegen blank“, gesteht er.

Verblüfft schaut sich Marianne Lierow bei ihrer Ankunft in Zimmer 14 um. An den Wän-den hängen ihre alten Bilder von Königsberg und der Marienburg, in der Ecke steht ihr alter Schreibtisch mit der elektrischen Schreib-maschine obendrauf. Ihr Lieblingssessel ist auch schon da, nebst Kissen. Und auf dem Nachttisch steht das Telefon, bereits umge-meldet, liegen die neueste Tageszeitung und die Fernbedienung für den Fernseher.

Es klopft. Eine Schwester bringt einen Blu-mentopf, begrüßt die neue Bewohnerin von Haus G im Namen der Direktion. Willkommen im Hospital zum Heiligen Geist, dem größten Altenheim der Stadt Hamburg. Willkommen auf der Endstation.

Die beiden Söhne von Frau Lierow haben den reibungslosen Übergang bewerkstelligt, haben Möbel geschleppt, Behördengänge erledigt, das neue Zimmer eingerichtet. Hauptsache, Mutter übersteht den Umzug gut.

„Ohne meine Kinder wäre ich aufgeschmissen“, sagt die 84-Jährige, die weißen Haare sorgsam gebürstet, über dem weinroten Pullover eine silberne Perlenkette. Mit ihren lebhaften braunen Augen prüft sie jeden Winkel, scheint zufrieden. „Geschafft“, seufzt sie erleichtert.

Und doch. Das nette kleine Zimmer im netten großen Heim ist nur die zweitbeste Lösung. Aber das weiß außer Marianne Lierow niemand. Als sie zusehends schwächer wurde, ihr Kochen, Waschen, Saubermachen immer schwerer fielen, liebäugelte sie mit einer Idee. Will der jüngste Sohn nicht bauen? Und wäre es nicht schön, wenn er dabei eine kleine Einliegerwohnung für sie einplanen würde?

Gesagt hat sie jedoch kein Wort. Und der Sohn, ein sehr besorgter und hilfsbereiter Sohn, hat sein Haus ohne Einliegerwohnung fertig gestellt. „Wenn er die gleiche Idee gehabt hätte, dann hätte er anders gebaut“, glaubt Marianne Lierow.

Zum Bitten ist die 1920 geborene Preußin zu stolz, selbst dem Sohn gegenüber. Auf dem langen Weg vom westpreußischen Marienwerder bis zum Zimmer 14 im Haus G wurde ihr wenig geschenkt.

„Niemand hat mich gezwungen“, sagt Frau Lierow. Nach der Flucht vor den Russen 1945 schlägt sie sich jahrelang als Hilfskraft auf einem niedersächsischen Bauernhof durch. Sie zieht nach Hamburg, einge-fädelt haben das Verwandte, lernt Stenografie und Schreibmaschine, sitzt plötzlich im Büro. Da ist sie fast 30. Sie heiratet einen pensionierten Wehrmachtsoffizier aus ihrer alten Heimat, der nirgends mehr Fuß fassen kann, zieht mit ihm in eine riesige Parterrewohnung im Stadtteil Harvestehude, die sie mit ihrem Gehalt als Kontoristin und mehreren Untermietern finanziert. Zwölf Tage nachdem das jüngste ihrer drei Kinder geboren ist, eine Tochter, stirbt der Ehemann an einem Herzinfarkt.

Marianne Lierow schafft es trotz eines angeborenen Hüftleidens, ihre Kinder ohne fremde Hilfe großzuziehen und die Wohnung zu halten. Zwar braucht sie bereits mit Mitte 40 einen Stock, kann sich kurz darauf, nach mehreren Operationen, auf der Straße nur noch mit zwei Krücken vorwärtsbewegen. Sie hält jedoch eisern durch, kauft täglich ein, hilft mittags bei den Hausaufgaben, entlässt sich selbst nie aus der Pflicht.

Erst spät, im hohen Alter, lässt die Spannung nach. Die alte Dame packt es nicht mehr, allein die Wohnung zu verlassen, selbst mit Gehhilfe nicht. Sie spürt, wie die Kraft nachlässt, sie will sich nicht mehr quälen. Ist es leid, sich an neue Untermieter zu gewöhnen, hat es satt, wegen der kleinsten Besorgung um Hilfe zu bitten.

Wenige Tage vor dem Umzug, die meisten Möbel sind schon verkauft, im Schlafzimmer steht ein halb gepackter Koffer mit Bettzeug, trifft sich die Familie noch einmal in der alten Wohnung. Die Söhne, eine Schwiegertochter und drei Enkel sind da, Tochter Irene ist sogar aus Kanada gekommen.

Abschied von 175 Quadratmetern, sieben Zimmern und tausend Erinnerungen. Ein bisschen Wehmut kommt auf, ein paar Fotos werden geknipst, ein paar Anekdoten erzählt. Zum Beispiel von dem Untermieter, der häufig mitten in der Nacht klingelte, polternd und randalierend in sein Zimmer wollte, obwohl er längst rausgeschmissen worden war.

Marianne Lierow, die wegen ihrer Schwerhörigkeit wenig versteht, lacht nicht mit. Sie sorgt sich um den Verbleib von liebgewordenen Gegenständen. „Diesen Teppich nimmst du doch“, bedrängt sie ihren älteren Sohn. „Und die Tischdecke da ist für die Nachbarin oben.“ Das Teeservice mit Zuckerdose soll die Schwiegertochter mitnehmen, den Topf mit der Amaryllis doch bitte auch. „Sie ist schon fast aufgeblüht. Wäre doch zu schade drum.“

53 Jahre hat Marianne Lierow hier gewohnt, die Trennung macht sie nicht unglücklich. „Weil es meine eigene Entscheidung war“, sagt sie. „Niemand hat mich dazu gezwungen.“

„Viele hier wissen nicht, wo sie sind“, sagt die Krankengymnastin Christiane Korfant. „Und die es wissen, sind nicht freiwillig hier.“

Das Heim, in dem die 50-Jährige an diesem Nachmittag mehrere Patienten besucht, liegt auf einem Hügel mitten in Hamburg. Doch die meisten Bewohner der Pflegestation leben längst in einer anderen Welt. Im Gegensatz zu Frau Lierow und Herrn Lipowschek können sie so gut wie nichts mehr selbst entscheiden. Herr S., seit über eineinhalb Jahren bettlägerig, öffnet kaum noch die Augen, spricht schon lange nicht mehr. Er wird über eine Sonde ernährt, hängt am Tropf. Manchmal, wenn er im Bett umgedreht wird, stöhnt er leise. Ob er noch mitkriegt, wenn Schwestern ihm beruhigend zureden, weiß niemand.

Frau F., die nach einem Schlaganfall direkt von der Klinik auf die Pflegestation kam, will in ihren wenigen wachen Augenblicken sofort zurück in ihre Wohnung, die längst aufgelöst ist. Damit sie nicht wieder schwer stürzt, wie kürzlich, wird die allein stehende Frau mit Einwilligung ihres behördlichen Betreuers zeitweise in ihrem Bett festgebunden.

„Besuche von Angehörigen sind selten“, hat Korfant festgestellt. „Verdrängung“, vermutet sie. Der Anblick so vieler Hilfloser löse Ängste vor einem ähnlichen Schicksal aus. Nicht von ungefähr: So desorientiert und hinfällig wie auf dieser Pflegestation dämmern schon jetzt Zehntausende Deutsche ihrem Ende entgegen.

Die Krankengymnastin kennt fast alle Patienten der Station. Einigen hat sie geholfen, wieder eine Tasse oder einen Löffel zu halten, anderen geduldig beigebracht, wieder langsam die Schultern zu bewegen oder den Kopf zu drehen. Sie weiß jedoch auch, dass viel mehr getan werden könnte. Frau T. zum Beispiel, die nach mehreren Stürzen von ihrem Sohn gedrängt wurde, doch endlich ins Heim umzuziehen, war anfangs noch geistig rege, löste Kreuzworträtsel, erzählte von ihrer früheren Betriebsratstätigkeit. Seit sie fast nur im Bett liegt, von dort oft stundenlang aufs Klo in ihrem Badezimmer starrt, baut sie rapide ab. Um sie mehrmals täglich vom Bett in den Rollstuhl, vom Rollstuhl in den Sessel und wieder zurückzuheben, was eigentlich nötig wäre, fehlt es an Personal.

„Besuche von Angehörigen sind selten“, sagt Frau Korfant. Frau M. dagegen braucht keine körperliche Pflege, die 70-Jährige ist verwirrt. „Eigentlich ist sie hier an der falschen Stelle“, glaubt Christiane Korfant. Aber wo soll sie sonst hin? Auf die Frage, wie sie im Heim zurechtkomme, reagiert die schlanke, mit Schlafanzughose und grünem Pullover bekleidete Frau verständnislos. „Das ist hier kein Heim“, versichert Frau M. überzeugt. Im Übrigen komme sie gerade vom Ballettunterricht und suche ihr lilafarbenes Cape. Wo das denn sei, sie friere nämlich. „Vielleicht in Ihrem Zimmer“, vermutet die Krankengymnastin. „Welchem Zimmer?“

Über den langen Flur kommt Herr P. mit seinem Rollstuhl gefahren, den er mit den Füßen bewegt, tap-tap, tap-tap, tap-tap. Der 69-Jährige, seit drei Jahren auf der Station, lebt hauptsächlich in der Vergangenheit. „Ich bin so traurig“, schluchzt der frühere Bürobote. Warum? Antwort: „Meine Eltern haben mich nie Fußball spielen lassen. Immer haben sie mir alles verboten.“ Auch jetzt seien alle viel zu streng mit ihm. Ob nicht der Pfarrer mal vorbeikommen könne? Und ins Bett, das sage er gleich, lasse er sich heute nur von Schwester Verena bringen. Von sonst niemandem.


„Wer hat Lust, mit mir Schach zu spielen?“
„Biete meine Gesellschaft an für Spaziergänge, Spiele, Vorlesungen, Gespräch. 12 Euro die Stunde.“ Die Aushänge am schwarzen Brett interessieren Herrn Lipowschek noch wenig. Der Neue im Altenheim am Mittelweg hat fürs Erste weder Sinn für eine Schachpartie noch für Zerstreuung gegen Stundenlohn. Er hat genug mit sich selbst zu tun.

Die ersten Tage igelt sich der 86-Jährige ein, spricht kaum, isst fast nichts, wird zeitweise bettlägerig. Hält den Verlust der alten Umgebung kaum aus. „Ich habe die Veränderung unterschätzt“, gesteht er nach einer Woche. „Es ist viel schlimmer, als ich befürchtet habe.“

Objektiv ist alles viel besser. Das Zimmer, hoch oben im fünften Stock, wirkt heller und freundlicher als die alte Parterrewohnung, die Aussicht vom kleinen Wintergarten aus ist phantastisch. Die Ehefrau des Freundes hat ein paar neue Möbel gekauft, zwei Sessel, ein kleines Bücherbord, einen Schreibtisch. Auf dem steht ein großer, neuer Apparat, eine von der Krankenkasse finanzierte Lesehilfe.

Alles wunderbar. Aber alles schrecklich unvertraut. Dazu die vielen fremden Gesichter: ein neuer Arzt, neue Schwestern, neue Zivis. Und neue Regeln: feste Essenszeiten, feste Schlafenszeiten – für den alten Wissenschaftler, der früher oft bis spät nachts arbeitete, erst mittags frühstückte, ist das ein Gräuel, zu ertragen nur im Tausch gegen die größere Sicherheit: Wenn er auf die Alarmtaste drückt, die an einem Band um seinen Hals hängt, kommt innerhalb kürzester Zeit Hilfe. Und die kann ganz schnell nötig sein. Wäre es klüger gewesen, früher ins Heim umzuziehen? „Vielleicht“, sinniert der Neuankömmling. Andererseits: „Dann hätte ich meine Selbstständigkeit noch eher verloren.“ Immerhin: Weil er stets bescheiden lebte, fürs Alter sparte, ist er finanziell unabhängig. Solange er nicht auf die teure Pflegestation muss, bleiben ihm monatlich 200 Euro übrig.

Von den anderen Bewohnern bekommt Lipowschek zunächst nichts mit: Während der ersten 14 Tage verlässt er nicht einmal sein Zimmer. „Ich bin menschenscheu geworden“, sagt er. Als er sich nach drei Wochen erstmals in den Speisesaal traut, es gibt wahlweise gefüllte Paprikaschoten oder Hühnerfrikassee, wird er von allen Tischen aus neugierig beäugt: Männer sind, wie in den meisten Heimen, in der Minderzahl, am Mittelweg sind es – bei 70 Bewohnern – gerade mal acht.

Nach dem gemeinsamen Gebet – die Heimleiterin persönlich liest über Mikrofon den Psalm 23 – macht Lipowscheck an seinem Vierertisch erste Bekanntschaften. „Ich bin schon 80“, enthüllt ihm seine Nachbarin zur Linken. „Stimmt nicht, du bist schon 90“, verbessert die Nachbarin zur Rechten. Der Neue ist mit seinen 86 Jahren der Jüngste am Tisch.

Während die Heimbewohner nach dem Essen zum Ausgang drängen, wo Dutzende Gehwagen geparkt stehen wie Motorräder vor der Provinzdisco, bleibt Lipowschek noch sitzen, erleichtert. „Schwerhörig wie ich sind hier alle“, stellt er fest. „Und die meisten haben auch ähnliche Gebrechen.“ Die Teilnahme am bunten Nachmittag mit Musik und Basar sagt er jedoch ab – keine Zeit. Erstmals nach drei Wochen besucht ihn jemand im Heim: Die alte Putzfrau hat sich angesagt.

Manchmal, gegen Morgen, bekommt Marianne Lierow im Schlaf rasendes Herzklopfen. Sie träumt, sie wohnte wieder in ihrer alten, riesigen Wohnung und habe schrecklich viel zu erledigen. Müsste die Waschmaschine in Gang setzen, Einkäufe organisieren, das Mittagessen kochen. „Dann wache ich auf, und das Frühstück steht auf dem Tisch“, erzählt sie: „Und dann bin ich so unendlich erleichtert.“

„Ich bin so unendlich erleichtert“, sagt Frau Lierow. Drei Wochen nach ihrem Einzug ins Hospital zum Heiligen Geist kennt die 84-Jährige die meisten ihrer Flurnachbarn, von manchen sogar die Lebensgeschichte. Sie weiß auch längst, dass im Haus G noch 56 Mitbewohner leben, eine Frau über 100 ist. Und dass ihre Vorgängerin in Zimmer 14, alleinstehend, 92 Jahre alt, vor sechs Wochen an Herzversagen gestorben ist.

Gestern, zur Kaffeezeit, guckten zwei Enkel vorbei, die in der Nähe zur Schule gehen, vorgestern kamen Bekannte aus dem alten Stadtteil zu Besuch und fragten sie, wie sie sich eingewöhnt habe. Marianne Lierow hat einen Moment zur niedrigen Zimmerdecke geschaut, an die hohen Wände ihrer früheren Wohnung gedacht und einen kleinen Stich verspürt. Aber das ging ganz schnell vorbei.

Heute soll sie eine Großstadt mit F raten. „Frankfurt?“ Richtig. An welchem Fluss die liege? „Am Main, das ist ja kinderleicht.“ Das Gedächtnistraining, bei dem zehn Bewohner mitraten, gehört zum Freizeitangebot wie der Sitztanz und der Skatnachmittag. Wer fit ist, kann sogar Kegeln gehen. Frau Lierow hat sich zum Basteln, zum Singen und, vor allem, zum Englisch-Unterricht angemeldet. Sie will den Enkeln bei den Englisch-Hausaufgaben helfen. Und ärgert sich, dass die dazu keine Lust haben. Nach dem Abendessen zögert sie, wie geplant die Tochter in Kanada anzurufen. Die letzte Telefonrechnung war hoch, die Frau, die allein drei Kinder großzog, muss sparen.

Die Heimkosten, monatlich rund 2500 Euro, fressen trotz Zuschuss der Pflegekasse die Rente auf, für persönliche Extras wie Friseur oder Telefon bleibt so gut wie nichts übrig. Die beiden Söhne haben versprochen, zusammenzulegen und ein Taschengeld zu spendieren.

Beim Personal ist die Neue von Zimmer 14, Pflegestufe 1, sehr beliebt. Sie habe sich angepasst, sei immer so freundlich und bescheiden, lobt die Hausleiterin. Solches Verhalten erleichtere den harten, oft schwer auszuhaltenden Alltag gerade in Zeiten wie jetzt, wo doch gleich mehrere Heiminsassinnen kurz nacheinander verstorben seien. Auch im letzten Stadium sei jedoch niemand auf eine andere Station oder gar ins Krankenhaus verlegt worden. Im Haus G wird Wert darauf gelegt, dass die Bewohner in ihrem Zimmer sterben können.

Heimbewohner Lipowschek war es nicht vergönnt, in seinem Zimmer zu sterben. Er wurde eines Abends mit Magenschmerzen ins Krankenhaus eingeliefert, wo er tags darauf verstarb – ein halbes Jahr nach seinem Umzug.

Bruno Schrep ist SPIEGEL-Autor. Sein Buch „Jenseits der Norm – Reportagen über Grenzgänger und Außenseiter“ erschien im Hirzel-Verlag. Teile dieses Artikels sind im SPIEGEL spezial 4/2005 und im SPIEGEL Nr. 19 veröffentlicht worden. Mehr unter www.spiegel.de

Lesung: Schreps Sozialreportagen

Am Donnerstag, 15. April, liest der Spiegel-Reporter Bruno Schrep Geschichten aus seinem Buch „Nebenan. Wahre Geschichten“.