Die Seemannsmission hilft Seeleuten an Bord und an Land
(aus Hinz&Kunzt 123/Mai 2003)
Wenn Kurt Robert Drobnik mit seinem Wagen durch den Hafen brettert und Autofahrer als Idioten oder Schlimmeres beschimpft, kann man kaum glauben, dass dieser Mann im Namen des Herrn unterwegs ist. Der 59-Jährige ist Seemannspastor. Etwa 5000 Schiffe hat er in den vergangenen Jahren besucht.
Morgens um sieben Uhr startet seine Tour. Die beste Chance, gesprächsbereite Seeleute anzutreffen, ist beim Frühstück. Dass viele Menschen an Bord ein Gespräch brauchen, davon ist der ehemalige Militärpfarrer überzeugt. Schließlich werden auf See doppelt so viele Selbstmorde verübt wie an Land. „Das Leben auf einem Schiff ist wie ein Leben im Gefängnis, auch wenn einen niemand dazu gezwungen hat“, sagt Drobnik. „Immer dieselben Menschen, immer zusammengepfercht.“ Zudem sind die Liegezeiten heutzutage so kurz, dass die Männer kaum noch von Bord kommen. „Da ist nichts mit Seemannsromantik, Land und Leute kennen lernen. Die meisten sind nur deshalb an Bord, weil sie Geld verdienen müssen.“
Das erste Schiff an diesem Morgen ist ein Containerriese. Der erste Offizier, ein Japaner, ist noch ziemlich jung und ganz irritiert über den Besuch. Der Seemannspastor muss sogar seinen Ausweis zücken, bevor er ins Innere des Schiffs vordringen darf. „Das ist mir ja noch nie passiert“, brummt Drobnik. Neuer Ärger wartet in der Mann-schaftsmesse. Die paar Seeleute, die gerade frei haben, stehen um einen Mann herum, der Geld in der Hand hält. Das sieht im ersten Moment aus wie ein Glücksspiel. Da ist der Pastor völlig uninteressant.
Drobnik schimpft vor sich hin und macht auf dem Absatz kehrt. „Der verkauft Telefonkarten“, sagt Drobnik genervt. Und das zu horrenden Preisen. „Ich hätte denen die Karte drei bis vier Dollar billiger geben können.“ Telefonieren spielt an Bord eine zentrale Rolle – es ist die beste Verbindung in die Heimat und zur Familie, die die meisten ein halbes bis ein ganzes Jahr nicht sehen.
Heimweh und Einsamkeit sind denn auch die häufigsten Probleme, die die Männer an Bord haben. Aber auch schwere Schicksalsschläge müssen sie normalerweise allein bewältigen und sind dann froh, einen Menschen zu haben, dem sie ihr Herz ausschütten können.
Wie etwa der philippinische Koch auf dem nächsten Containerschiff. Er sitzt in der Messe und trinkt einen Abschiedskaffee mit einem Freund und Kollegen. Der wird heute von Bord gehen, der Koch bleibt noch ein paar Monate. Traurig sieht er aus, und Kurt Robert Drobnik sieht ihm gleich an, dass ihn nicht nur der Abschied von seinem Kollegen schmerzt.
Zeit ist knapp an Bord, deshalb kommt er gleich zur Sache. Ob er verheiratet sei und Kinder habe, will er wissen. Stolz erzählt der Mann von seinen drei Kindern, aber sein Blick ist verhangen. „Er ist Witwer“, assistiert der Freund. Stockend erzählt der Koch, dass seine Frau vor drei Jahren gestorben sei. Drobnik nickt – und erzählt von sich. Seine erste Frau ist bei einem Autounfall gestorben. Mit den Toten könne man aber auch nach dem Tod im Gespräch bleiben, durch das Gebet.
Der Koch hängt an den Lippen des Pastors. Jeder im Raum spürt: Das ist sein Thema. „Du musst wieder eine neue Frau in dein Leben lassen“, hilft Drobnik. „Deine Kinder brauchen wieder eine Mutter.“ Schuldgefühle dürfe er nicht haben. „Ihr wart verheiratet, bis dass der Tod euch scheidet – und er hat euch geschieden.“ Mit Sicherheit sei seine Frau nicht böse darüber – im Gegenteil.
Der Koch nickt, lächelt. Drobnik macht noch einen kernigen Witz. Die Seeleute lachen. Der Abschied ist herzlich.
Doch Drobnik kann auch anders. Vor einiger Zeit traf er einen ägyptischen Seemann. Er spürte gleich, mit dem stimmt etwas nicht. „Er redete wirr, ich hatte den Eindruck, dass er selbstmordgefährdet ist.“ Mit keinem Wort kam er auf die Probleme des Mannes zu sprechen. Im Gegenteil. Er vermied jeden Tiefgang. Stattdessen sprach er mit ihm über die ägyptische Hochkultur. Der Mann wurde immer stolzer. „Ich verstärkte ihn positiv“, sagt er fachmännisch. „Ich wollte nur, dass er bis Alexandria nicht über Bord springt. Mehr konnte ich für ihn nicht tun.“ Er informierte auch den Kapitän nicht. „Warum? Dann halten alle den Seemann für eine Pflaume – und er verliert auch noch seinen Job.“
Freundliche Begrüßung auf dem nächsten Schiff. Der italienische Offizier begleitet den Pastor sogar in die Messe. Auf dem Weg dorthin spricht Drobnik ein paar Philippinos an. Keiner kennt den Seemannsclub, der nur ein paar Meter entfernt ist, keiner war bislang von Bord, obwohl der Frachter schon zwei Tage da ist. Die Messe ist leer, der Offizier lässt extra einen Seemann kommen. Der grinst zwar, aber eher aus Verlegenheit. Sprechen will er eigentlich nicht. Auch er war noch nicht von Bord. „Keine Zeit, keine Zeit“, sagt er leise.
Drobnik vermutet, dass er keine Interna ausplaudern soll. Beispielsweise, dass hier nicht tarifgerecht bezahlt wird oder sonstige Dinge an Bord schief laufen. Ob er in solchen Fällen die Gewerkschaft einschalte? „Auf keinen Fall, dann bekommen die an Bord ja erst recht Ärger.“
Mitleid ist seine Sache nicht. Er will, dass es den Seeleuten durch seinen Besuch besser geht, dass sie fähig sind, weiterzumachen – nicht mehr und nicht weniger. Schließlich musste er das selbst schmerzhaft lernen, nicht erst beim Tod seiner ersten Frau. Mit 17 Jahren hatte er einen schweren Unfall, bei dem er sein Bein verlor. Nicht Mitlied half ihm damals, sondern Härte. Als er beim ersten Mal mit Krücken hinfiel und sich verzweifelt ins Bett verkriechen wollte, herrschte ihn der Pfleger an: „Du machst sofort einen neuen Versuch oder ich trete dir in den Hintern.“ Drobnik machte also weiter…
Zur Seemannsmission, deren Geschäftsführer der Pastor heute ist, gehört auch eine Unterkunft am Krayenkamp, gegenüber vom Michel. „Mutter“ des Hauses ist die 54-jähige Gisela Weber. Sie kümmert sich zum Beispiel darum, wenn Abu Bakari, ein Stammgast, verzweifelt ist. Seit 1982 fährt der Ghanaer auf deutschen Schiffen, seit Jahren für dieselbe Reederei. Wie jedes Jahr musterte er im Dezember ab und bekam ein Schreiben, dass er im April wieder dazusein habe.
Das war er auch, aber die Reederei brauchte ihn nicht und stellte ihm auch die Bescheinigung nicht aus, mit der er Arbeitslosengeld hätte beantragen können. Jetzt wartet Bakari im Seemannsheim und hofft, dass andere ihm mal was abgeben, wenn sie kochen. Die Seemannsmission stundet ihm die Miete.
Abu Bakari ist nicht der einzige, der in der Mission darauf wartet, endlich wieder an Bord gehen zu dürfen. Der Chilene Juan etwa ist 30 Jahre lang bei derselben deutschen Reederei gefahren. Auch er ist extra wieder nach Hamburg gekommen, weil er wieder anheuern sollte. Keiner hatte es für nötig gehalten, dem Maschinisten zu sagen, dass sein Schiff inzwischen ausgeflaggt wurde und er jetzt von einem billigeren Mann aus China ersetzt wird.
Für mindestens ein Drittel der Bewohner ist der Traum von der Seefahrt endgültig ausgeträumt. Sie sind zu alt, zu teuer, nicht fit genug für die moderne Seefahrt oder haben Alkoholprobleme. Viele von ihnen sind durch die Seefahrt völlig entwurzelt. Ihr Zuhause ist inzwischen das Seemannsheim geworden. Und hier können sie auch für immer vor Anker gehen. Dafür hat die Seemannsmission gesorgt.