April-Ausgabe
Kunzt&Kult

Ein durch und durch angenehmer Typ

Hinz&Kunzt-Autor Frank Keil hat den Schauspieler, Autor und Vollzugshelfer Steffen Schroeder im Hamburger Schauspielhaus getroffen. Ein Gespräch über Freibadsommer in den 1980er Jahren, das deutsche Gefängnissystem und Mitgefühl.

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„Das halbe Leid“

Grenzerfahrung als Theater-Performance

Die Eintrittskarte für „Das halbe Leid“ führt mitten ins Elend von Menschen, die in Not sind.  Zwölf Stunden, eine ganze Nacht, werden die Zuschauer Teil des Geschehens. Hautnah erfahren sie Angst und Gewalt, obwohl Obdachlose und psychisch Kranke „nur“ Darsteller sind. 

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Benefiz-Lesung

Bewegende Monologe für zuhause

Unser Freundeskreismitglied Bjarne Mädel las zusammen mit seinen Schauspielkolleginnen Angelika Richter und Bettina Stucky zugunsten von Hinz&Kunzt aus „Bin nebenan. Monologe für zuhause“ von Ingrid Lausund.

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Charly Hübner

Ein total guter „Freihaber“

Wuchtig, kantig, nordisch: So kennt man Charly Hübner in seiner Rolle als Kommissar Bukow im Rostocker Polizeiruf. Aber der Schauspieler kann auch leise: ein Gespräch über Hübners Kindheit in Mecklenburg-Vorpommern, Ärger über Pegida und seinen Ruhepol – die Elbe.

Mann ohne Motto

Schauspieler August Diehl über Selbstzweifel, Applaus und Kritiker

(aus Hinz&Kunzt 135/Mai 2004)

Zwei Große im Schauspielhaus

Der Schauspieler Edgar Selge und der Statist Frank Kienitz stehen im „Menschenfeind“ gemeinsam auf der Bühne

(aus Hinz&Kunzt 122/April 2003)

„Ich will doch nur eins“, sagt Edgar Selge nachdrücklich, „um meiner selbst willen geliebt werden – und erfahre doch zu wenig Liebe.“ Ganz so persönlich, wie das jetzt klingen mag, meint Selge das allerdings nicht. Die Rede ist vom „Menschenfeind“, den der 54-Jährige gerade im Schauspielhaus gibt. Der Wunsch nach besonderer und einzigartiger Beachtung macht Alceste fast verrückt.

Besondere Beachtung erfährt allerdings ein ganz anderer. Alcestes Diener, gespielt von dem Statisten Frank Kienitz, der hinten auf der Bühne so groß über die Kulissenhecke hinausragt, dass einem ganz unheimlich zumute wird. Frank Kienitz ist in diesen Minuten auch ganz mulmig. Ein leichtes Gefühl der Panik beschleicht ihn, undeutlich zu sprechen, seinen Text zu vergessen oder gar seinen Einsatz zu verpassen. Als Alcestes Diener dringt er ein in diesen illustren Kreis, und der Zuschauer sieht, was er längst ahnt: Hier kommt ein ganz Großer. Frank Kienitz ist 2,20 Meter groß, und er spielt das Bindeglied zwischen der Außenwelt und dem Kreis um Alceste und Celimène. „Ich bin das Sinnbild für das Unheil, das überall hereinkommt“, sagt Frank Kienitz. „Keine Abgeschiedenheit ist groß genug.“

Dass er wegen seiner Größe abschreckend wirkt, hat Frank Kienitz schon häufig erlebt. „Die Menschen tuscheln, drehen sich nach mir um oder machen blöde Sprüche“, zählt er seine Erfahrungen auf. Bis 1996 sind ihm solche Erlebnisse tief unter die Haut gegangen. 1996 ist sein persönliches Wendejahr: Der Groß- und Außenhandelskaufmann wurde fürs Theater entdeckt. Er suchte in einer Buchhandlung gerade ein Geburtstagsgeschenk für seine Frau. Da sprach ihn der künstlerische Leiter vom Schauspielhaus an, „ob ich nicht irgendwo mitmachen will“. Frank Kienitz, gewohnt, dass sich die Leute über ihn lustig machten, wollte schon lospoltern.

Nach dem Motto: „Was wollen Sie von mir? Lassen Sie mich in Ruhe!“ Der 42-Jährige weiß immer noch nicht, was ihn damals geritten hat, dann doch nachzufragen… Auch Edgar Selge ist gewissermaßen entdeckt worden. Als Kind. Im Gefängnis. Sein Vater war nämlich der Direktor, und die Gefangenen suchten noch Mitspieler in ihrem Theater. Der kleine Edgar war ideal, zumindest vor seinem Stimmbruch. Auf Frauenrollen war er abonniert. Und genoss es. Hauptsächlich, weil er sich mal so richtig hervortun konnte. Denn ihn nervte, dass er bei seinen älteren Brüdern keine Anerkennung fand.

„Immer wurde ich den Kleinen zugeschlagen.“ Komik und Imitation, das merkte das Kind schnell, „sind Waffen und gleichzeitig Eintrittskarten in die Welt der Älteren“. So schnell fuhr dem Jungen, seit er mit den Großen auf der Bühne stand, jedenfalls „keiner mehr übers Maul“. Bis für Frank Kienitz das Gleiche galt, dauerte es ein Weilchen. Er ging also ins Schauspielhaus und fragte nach der Rolle. Einen Riesen sollte er spielen, ausgerechnet, neben Zwergen und Verkrüppelten, in einer Inszenierung von „Kasimir und Karoline“. Und was er nie geglaubt hätte: „Es machte mir wahnsinnig Spaß.“ Auf einmal war es ihm egal, das zu spielen, worunter er sein Leben lang gelitten hatte. Das lag wohl am Regisseur, glaubt er. „Der hat mir nahegebracht: Warum sollte ich seltsamer oder unnormaler sein als andere?“

Ja, warum eigentlich? Früher, da hatte ihn seine Größe allerdings klein gemacht. Ließ ihn in Deckung gehen vor anderen Menschen. Am liebsten hätte er sich in ein Mauseloch verkrochen. Seine Eltern, beide auch sehr groß, konnten ihm nicht helfen, im Gegenteil. Ihre Devise: bloß nicht auffallen. Einmal, da wagte er den Ausbruch, nahm an einem Wettbewerb teil und ließ sich zum größten Mann küren. Aber die Eltern freuten sich nicht über seinen Sieg, waren regelrecht sauer. Dabei hatte sich Frank so nach diesem Sieg gesehnt. Einmal jedenfalls wollte er belohnt und anerkannt werden. War wohl wieder nichts. Und so blieb er erst mal in seinem Gefängnis.

„Gefängnis“ – Edgar Selge lässt das Wort auf der Zunge zergehen. „Das ist ein Grundgefühl, das ich nicht mehr loswerde.“ Allein die Vorstellung, in einem Raum zu sitzen, der keine Türklinken hat, mit „schwedischen Gardinen“ vor den Fenstern. „Ich wusste als Kind schon, was es heißt, wenn die Tür zugeschlossen wird und man nicht mehr rauskommt.“ Frank Kienitz hat sein Gefängnis inzwischen verlassen, weitgehend jedenfalls. Ausgerechnet der Riese in „Kasimir und Karoline“ hat ihm das ermöglicht. Inzwischen hat er noch andere kleine Rollen gespielt. Einen Vorzeitmenschen beispielsweise, seine erste Sprechrolle.

„Wir brauchen keinen Fortschritt“, sagt Kienitz – das waren seine Worte im Stück, allerdings auch seine einzigen. Der Diener im „Menschenfeind“ ist für ihn tatsächlich ein Fortschritt. Mehrere Sätze muss er sprechen – und das auch noch in einem Stück, mit dessen Protagonisten er sich total identifiziert. Edgar Selge, sagt er, spreche ihm als Mensch und Rolle direkt aus der Seele.

Selge schätzt den großen Mann ebenso: „Er hat etwas Kostbares, was einem als Berufsschauspieler unter der eigenen Rauheit und Professionalität manchmal verloren geht.“

Besonders liebt Frank Kienitz den Satz: „Ich will erkannt und unterschieden sein.“ Das fordert Menschenfeind Alceste nicht nur von seiner Celimène, sondern auch vom Rest der Welt. Frank Kienitz kann diese Worte auswendig, mindestens so gut wie seinen eigenen Text. Auch Edgar Selge liebt das Stück. „Der Egoismus und der Wunsch nach besonderer Beachtung schlagen irgendwann in jeder Gesellschaft durch und bedrohen jede Gemeinschaft“, ist eine seiner Interpretationen. „Dem entkommt man nicht.“

Zum Schluss wünscht sich Alceste in die Wüste. Aber dieser Wunsch bleibt Illusion. „Es gibt keinen Wunsch, der außerhalb der Gesellschaft erfüllbar wäre“, sagt Selge. „Wir müssen miteinander zurechtkommen.“

Diesen in sich widersprüchlichen Alceste dem Publikum nahezubringen, das versucht er bei jeder Vorstellung aufs Neue. Das ist ja der Reiz beim Theater: „Eine gute Premiere heißt noch gar nichts“, sagt er. „Bei jeder Vorstellung muss man die Zuschauer erwischen.“ In diesem Stück ist der Anfang für ihn die Hürde. „Den würde ich am liebsten zweimal hintereinander spielen.“ Dann dieses Glück, die Entspannung, wenn der Funke übergesprungen und der Schlussapplaus aus vollem Herzen kommt. „Ich spüre, ob die Zuschauer einem die Gedanken schon von der Stirn ablesen.“

Der Schlussapplaus ist auch der große Moment von Frank Kienitz, dem Statisten. „Wenn die Zuschauer klatschen, habe ich das Gefühl, dass ein Teil davon mir gilt.“ Nach der Vorstellung entschwindet Edgar Selge wieder – bis zum nächsten Mal. Er probt in Frankfurt die „Frankfurter Verlobung“. In dem Stück spielt er einen Alt-68er, und Joschka Fischer kommt zumindest indirekt auch vor. Was bei Frank Kienitz als nächstes auf dem Spielplan steht, ist ungewiss. Er hofft, dass er bald wieder ein Angebot bekommt. Klar ist nur, dass er demnächst wieder bei „Kasimir und Karoline“ in Zürich und Berlin dabei ist. Das Drama bleibt sowieso für immer sein Lieblingstück. „Ich brauche den Namen des Stückes nur zu hören, dann kribbelts im Bauch“, sagt er. „Das ist wie mit der ersten Liebe, die vergisst man nie.“

Birgit Müller