„Ich will leben!“

Rainer K. (47) verkauft seit zehn Jahren Hinz&Kunzt an seinem Stammplatz am „Marienhof“ in Wedel.

(aus Hinz&Kunzt 207/Mai 2010)

Reiner-8491Rainer will durchhalten. ­Gerade hat er eine 48-wöchige Therapie gegen Hepatitis C hinter sich, die Nebenwirkungen der Spritzen setzen ihm zu: Rainer ist ständig müde, seine Haut juckt, oft hat er zu nichts Lust. „Aber ich will die Krankheit besiegen“, sagt er. Weil es durchaus eine Heilungschance gibt, will er die harte Behandlung noch ein weiteres Jahr ertragen. „Da muss ich mich durchkämpfen. Ich will leben!“
Es gab Zeiten, da hing Rainer nicht so an seinem Leben. Geboren wurde er in Speyer. Im Alter von neun Jahren stirbt seine Mutter, Rainer wächst im Heim auf. Sein Vater kümmert sich nicht um ihn. Nach der Schule macht er eine Ausbildung zum Facharbeiter und arbeitet auf dem Bau, heiratet und bekommt eine Tochter. Aber Glück findet Rainer nicht: Er leidet an seiner Vergangenheit, trinkt zu viel, in der Ehe häufen sich die Konflikte. „Ich hab immer mehr getrunken“, sagt Rainer, „weil ich mir eingebildet habe, dann ginge es mir besser.“ Irgendwann wachsen ihm die Schwierigkeiten über den Kopf: Rainer haut ab, tingelt durch die Pfalz, 2000 kommt er nach Hamburg.
In Hamburg macht Rainer Platte oder schläft bei Bekannten in Wedel. Es ist eine traurige Zeit. „Ich hab immer ge­soffen. Alles Schöne um mich herum habe ich zwar gesehen, aber nicht wahrgenommen“, sagt er. In betrunkenem Zustand muss er sich auch mit Hepatitis C infiziert haben, genau weiß er das nicht mehr. Oft ist Rainer in dieser Zeit alles egal, nur sein Hund Greif nicht. Ihn hat Rainer als Welpen von einer ­alten Witwe geschenkt bekommen. Für das Futter des Tieres schränkt Rainer sogar seinen Alkoholkonsum ein.
Schließlich kommt Rainer über einen Freund zu Hinz&Kunzt. „Meine Kunden haben mir zugehört, das hat gutgetan“, sagt Rainer. Viele schließen auch Greif ins Herz. „Wenn ich mal nicht an meinem Stammplatz stehe, dann fragen meine Kunden nicht nach Rainer, sondern nach Greif und seinem Herrchen“, grinst Rainer. Im Sommer 2008 rafft er sich endlich auf und geht in eine Entzugsklinik. „Das war an meinem Geburtstag, die Therapie hab ich mir zum Geschenk gemacht“, sagt er. Zu dem Zeitpunkt waren viele seiner Bekannten schon am Alkohol gestor­ben. Auch wenn Rainer jetzt wieder nach vor­ne schauen will, weiß er: Sicher vor einem Rückfall ist er nicht.

H&K: Wo wohnst du derzeit? Und wie ist es da?
Rainer K: Ich habe eine kleine Wohnung im Bunker in der Mistralstraße. Da können Obdachlose für drei Jahre unterkommen. Lieber wäre mir aber ­eine richtige Wohnung, die würde ich auch immer sauber halten!

H&K: Wie möchtest du in fünf Jahren leben?
Rainer: Das kann ich jetzt noch nicht sagen. Wer weiß schon, was kommt? Zuerst möchte ich meine Krankheit in den Griff kriegen.

H&K: Wo ist dein Lieblingsplatz in Hamburg?
Rainer: Hamburg finde ich fast überall schön, besonders gern bummele ich durch die Mönckebergstraße. Aber am schönsten finde ich es unter Leuten, die mich als Mensch wahrnehmen, egal an welchem Ort.

Text: Hanning Voigts

Foto: Mauricio Bustamante

„Ich will nicht noch mehr Mist bauen“

Marco L., 38, verkauft seit April 2008 das Straßenmagazin
(aus Hinz&Kunzt 206/April 2010)

marcoWie es sich anfühlt, zu einer Familie zu gehören, weiß Marco. Aber nicht, wie es ist, sie zu behalten.
Seinen leiblichen Vater kennt er gar nicht. Seine Mutter arbeitete Tag und Nacht als Kellnerin. Der Stiefvater beachtete ihn nur, wenn er ihn prügelte.
In seiner Kindheit gab Marcos Oma ihm so etwas wie ein Zuhause. Als sie starb, haute der 13-jährige Marco ab. „Ich bin total durchgedreht und wollte nur noch weg.“ Auf dem Hamburger Kiez – nur ein paar Hundert Meter von der elterlichen Wohnung, aber Welten von einer behüteten Kindheit entfernt – schlug er sich alleine durch. „Mit Diebstahl und Prostitution und so“, sagt der 38-jährige Hinz&Künztler.
In mehrere Heime hätten sie ihn gebracht, aber da sei er immer wieder abgehauen. Noch als Teenager fing er mit Drogen an. Das erste Koks bekam er „von einem guten Freund, der jetzt tot ist“.
Mit Anfang zwanzig verliebte Marco sich. Er heiratete die Frau und zog mit ihr in eine Kleinstadt in Schleswig-Holstein. Sie hatte schon drei Kleinkinder aus einer früheren Beziehung, gemeinsam bekamen die beiden noch einen Sohn. Seine Frau verdiente das Geld, Marco schmiss den Haushalt für die sechsköpfige Familie. Sieben Jahre lang blieb er clean.
„Dann der Rückfall“, sagt er. „Ich glaube, ich war überfordert: der Haushalt, die Kinder. Du musst immer nett sein, auch wenn sie rumschreien und zanken.“ Marco brach aus dem Leben als Hausmann aus. Er landete auf der Straße und geriet wieder in den Kreislauf der Sucht: Das Geld dafür beschaffte er auch auf illegalem Weg. Mehrmals stand Marco deswegen vor Gericht, zuletzt am 26. September 2009. Ein wichtiges Datum, denn damals beschloss er: „Ich will nicht noch mehr Mist bauen.“ Seitdem bekommt er Methadon, eine Ersatzdroge, die er nicht in der Szene kaufen muss, sondern beim Arzt abholt.
Seinen Alltag bestimmen mittlerweile nicht mehr die Drogen, sondern Hinz&Kunzt: Jeden Tag verkauft er das Straßenmagazin und kommt in den Vertrieb in der Altstädter Twiete, auf einen Kaffee und zum Klönen. „Hier werde ich anerkannt“, sagt Marco. „Hier ist jetzt meine Familie.“

H&K: Wo wohnst du derzeit? Und wie ist es da?
Marco: In einem Zimmer zur Untermiete bei einer Bekannten. Da wohnen auch noch ihr Freund und zwei Hunde.

H&K: Wenn du einen Wunsch frei hättest, was würdest du dir wünschen?
Marco: Ich will unbedingt meine eigene Wohnung. Ich würde sie von dem Geld, das ich mit Hinz&Kunzt verdiene, einrichten. Dann kann mich auch mein Sohn besuchen und meine Mutter.

H&K: Wo ist dein Lieblingsplatz in Hamburg?
Marco: In der Sternschanze, da sind die Leute in Ordnung, da macht mich nie einer blöd an.
Text: Beatrice Blank
Foto: Mauricio Bustamante