Ich bin Schillers Handelsvertreter
Davon kann man leben? Lutz Görner ist der wohl einzige hauptberufliche Poesie-Rezitator Deutschlands. Im November liest er in der Altonaer Kulturkirche sein Programm „Opiumschlummer und Champagnerrausch“ zugunsten von Hinz&Kunzt.
Görner zetert: „Sein Glück für einen Apfel geben, oh Adam, welche Lüsternheit.“ Wer das geschrieben hat, heißt Gottfried Ephraim Lessing.
Görner stöhnt: „Die müde Seele ruft dem großen Tröster zu, das Fleisch riecht schon nach Gruft.“ Wer das geschrieben hat, heißt Andreas Gryphius.
Görner jubiliert: „Freude, schöner Götterfunken …“ Wer das geschrieben hat, heißt Friedrich Schiller.
„Görner liest Schiller – Opiumschlummer und Champagnerrausch“ heißt das aktuelle Programm von Deutschlands „wohl berühmtestem Rezitator“ (Görner und praktisch alle Kritiker über Görner) deutscher Lyrik. Seit mehr als 35 Jahren schreit und wispert, faucht und ächzt der 65-Jährige auf den Bühnen dieses Landes, wenn er aus den Lebenswerken großer deutscher Dichter deklamiert.
Ein Mann mit einer Mission. Germanistik hatte er studiert an der Hochschule zu Köln, Theaterwissenschaft, Kunstgeschichte, Philosophie und Soziologie. Er ging ans Theater, wollte Intendant sein, der erste Mann am Hause. Er wurde Schauspieler, Bühnenarbeiter, Requisiteur, Dramaturg und Regieassistent in Köln, München und Hamburg – und hatte bald keine Lust mehr. „Weil die Leute, mit denen ich zusammen war, mir einfach nicht genügten und das viele Gequatsche und Diskutieren mir auf die Nerven ging.“ Heinrich Heines „Harzreise“ bekam er in die Hände, da war er 29, studierter Germanist und kannte Heine gar nicht. „Da dachte ich, den kennen andere auch nicht.“ Also baute er ein Heine-Programm, trat damit auf und bekam so viel Beifall, dass er mitten in der Spielzeit sein Engagement am Münchner Theater der Jugend kündigte.
„Seitdem habe ich nie wieder was anderes gemacht. Und seitdem schreibt mir niemand mehr etwas vor. Wenn ich Fehler mache, dann mache ich die selber und das ist sehr angenehm. Ich wollte Intendant werden und das bin ich jetzt auch – mein eigener.“
Neben seinen Liveshows hat Görner bis heute Dutzende CDs, MCs, LPs und DVDs produziert, rund drei Millionen der Tonträger verkauft. Seine Sendung „Lyrik für alle“ läuft seit 1993 jeden Sonntag im 3sat-Fernsehen, im Schnitt schauen rund 250 000 Zuschauer zu. Für Nachwuchs sorgt er außerdem: Etliche habe er ausgebildet, annähernd so erfolgreich wie er selbst ist kaum einer. „Da gehört anscheinend mehr dazu als nur der Wunsch.“
Der Meister selbst bereitet im intensiven Studium seine Programm vor, manchmal drei Jahre lang. „Das dauert bei mir immer so lange und deswegen hat das so eine hohe Qualität.“ Mit etwas, das ihn selbst nicht vollkommen überzeugt, würde er sich nie auf eine Bühne stellen. Rainer Maria Rilke und Hermann Hesse zum Beispiel hat er von jeher ausgelassen. Aus politischen Gründen. „Der berühmte Herr Rilke oder der Herr Hesse, das sind so Traumtänzer, die so tun, als wenn nichts sie irgendetwas anginge“ – ein Verhalten, mit dem Görner nichts anfangen kann. Er selbst wurde Anfang der 80er-Jahre, als er in St. Georg lebte und am Thalia Theater arbeitete, Mitglied der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP). „Ich war vorher in New York, da habe ich dieses wölfische Wesen kennengelernt, diese kapitalistische Fratze. Und dann hab’ ich gedacht: ,Was mach ich jetzt?‘“ Er wurde Kommunist. „Dann habe ich aber gemerkt, dass das Quatsch ist. Aber ich bin immer noch ein Linker.“
Zwangsläufig, findet er: „Die Welt ist, das weiß doch jeder, ungerecht. Und unsere ist vielleicht noch die ungerechteste, weil wir die übrige Welt ausbeuten und denken: ,Das kümmert mich nicht.‘ Dabei haben letztlich alle, die wir hier leben, unsere Schippe Schuld, ob wir arm sind oder reich. Es gibt nicht einen vernünftigen Menschen auf dieser Erde, der nicht zumindest ähnlich denkt.“ Darunter die Dichter, die Görner auswählt. Jene, die er auslässt, gehören für ihn nicht dazu, denn „natürlich gibt es auch unter Dichtern FDP-Wähler“.
Was Görner auch nicht einsieht: Schillers Balladen. Gerade die hätten ihn so lange überhaupt von Schiller abgehalten, sagt er. 35 Jahre lang habe er einen Bogen um ihn gemacht. Dann, angespornt von einem befreundeten Germanistikprofessor, las er haufenweise Biografien und entdeckte Schiller für sich, oder besser: die zwei Schillers. „Den einen vor seiner Ehe und den einen danach, so einen Opium-Champagner-Schiller, und den häuslichen, bürgerlichen.“ Beim abhängigen, von schwerer Krankheit gezeichneten Dichter „ist eigentlich alles schiefgegangen“, sagt Lutz Görner, „und trotzdem hat er dieses gigantische Werk aus diesem kranken Körper herausgeholt, und das ist natürlich bewundernswert.“
Über sein aktuelles Programm, mit dem er in diesem Jahr zum zweiten Mal durchs Land tourt, sagt Görner: „Noch nie war die Begeisterung meines Publikums so einhellig wie bei diesem Programm. Pfeifen, Trampeln, Klatschen, Standing Ovations. Das hat Glückshormone bei mir ausgelöst.“ Weil es heißt, dass er einen Weg gefunden hat, Menschen dazu zu bringen, Schiller zu lieben. „Jemand, der sich nicht so wie ich die ganze Zeit mit dem Zeugs beschäftigen kann, der kriegt – flatsch – in zwei Stunden von mir was Gutes hingelegt.“ Görner sieht sich selbst als Animateur zum Lesen, als Entertainer der Lyrik, als der „Handelsvertreter“ von Goethe, Schiller und den anderen. „Ich preise den dann an, was das für ein toller Hecht ist, und dass es sich so lohnt, den zu lesen und hoffe, dass ich ein paar Leute dazu kriege.“
Text: Beatrice Blank
Illustration: Mirja Winkelmann
Görner liest Schiller – Opiumschlummer und Champagnerrausch, Benefizveranstaltung für Hinz&Kunzt: Kulturkirche Altona, Max-Brauer-Allee, Samstag, 13. November, 20 Uhr, 15/10/8/5 Euro, VVK bei Hinz&Kunzt, Tel. 32 10 83 11.