Obdachlosigkeit ist lebensgefährlich
Die zunehmende Gewalt – auch unter Obdachlosen – verdeutlicht, dass Obdachlosigkeit lebensgefährlich ist. Ein Kommentar zu den aktuellen Vorfällen von Hinz&Kunzt-Chefredakteurin Birgit Müller.
Die zunehmende Gewalt – auch unter Obdachlosen – verdeutlicht, dass Obdachlosigkeit lebensgefährlich ist. Ein Kommentar zu den aktuellen Vorfällen von Hinz&Kunzt-Chefredakteurin Birgit Müller.
Bei Temperaturen rund um den Gefrierpunkt ist es nachts weiterhin ungemütlich auf Hamburgs Straßen. Trotzdem leben Bonnie und Clyde wieder auf der Straße. Das obdachlose Pärchen hat sich einen Hund zugelegt.
Nach mehr als 100 Jahren soll im Pik As vieles besser werden: fördern&wohnen plant einen Neubau der Obdachlosenunterkunft. Das gibt Rembert Vaerst, bis Dezember Geschäftsführer von f&w, im Interview mit Hinz&Kunzt bekannt.
Das Winternotprogramm in der Spaldingstraße wird aufgestockt: Ab heute stellt die Sozialbehörde 60 mehr Plätze in dem ehemaligen Bürogebäude zur Verfügung. Das ist auch dringend notwendig, denn die Notquartiere sind überfüllt, schon jetzt an den frostfreien Tagen.
Hornköppe, die dritte: Die Theatertruppe aus jetzigen und Ex-Bewohnern der Unterkunft Hornkamp steht bald mit ihrem dritten Stück auf der Bühne. Diesmal wagen die Hornköppe eine Komödie. Der Klamauk hat mit der Finanzkrise aber einen ernsten Hintergrund.
(aus Hinz&Kunzt 210/August 2010)
Notunterkünfte vollkommen überfüllt
Die städtischen Notschlafstellen Pik As (für Männer, 190 Plätze) und Frauenzimmer (für Frauen, 20 Plätze) sind völlig überlastet. Die Einrichtungen waren im Mai zu 101 (Pik As) beziehungsweise 125 Prozent (Frauenzimmer) belegt; im Juni zu 93 Prozent und 120 Prozent, so die Sozialbehörde auf Nachfrage von Hinz&Kunzt. Zahlen für den Juli lägen nicht vor. Weil die Notunterkünfte keinen Hilfesuchenden abweisen dürfen, werden bei Bedarf zusätzlich Doppelstockbetten aufgestellt oder Matratzen ausgelegt. Die Behörde begründet die hohe Belegung mit Schwierigkeiten bei der Vermittlung in ständige Unterkünfte. Diese wiederum seien stark belegt, weil die Vermittlung in passenden Wohnraum nicht gelingt: Es gibt schlicht zu wenig kleine, günstige Wohnungen. BEB
Unnötiger Wohnungsleerstand
Der Verein Mieter helfen Mietern wirft der Stadt vor, zu wenig gegen den Leerstand von Wohnraum zu tun. Allein im Schanzenviertel und Umgebung stünden 39 Wohnungen leer, teils länger als ein Jahr, ohne Eingriff des Bezirksamts. Die Mieterschützer fordern mehr Druck auf die Eigentümer und dass Wohnungen wegen Baumaßnahmen nicht unbegrenzt leer stehen dürfen. UJO
Abzock-Vermieter: Senat verweigert Auskünfte
Der Senat will weiterhin nicht erklären, warum die Behörden monatelang nichts gegen Abzock-Vermieter wie Thorsten Kuhlmann unternommen haben. Antworten auf eine SPD-Bürgerschaftsanfrage verweigerte die Regierung Mitte Juli mit dem Hinweis: „Neben Geschäftsgeheimnissen des Vermieters Kuhlmann und anderen Vermietern sind auch Sozialdaten der Mieter betroffen.“ Im Oktober 2009 hatte Hinz&Kunzt erstmals berichtet. Der Sozialbehörde sei damals „die generelle Problematik bekannt geworden“, so der Senat. Im Mai 2010 – sieben Monate später – habe die Arge mitgeteilt, „dass in 107 Fällen Mietbetrug oder der Verdacht auf Mietbetrug besteht“. Was die Sozialbehörde unternommen hat, um den Missbrauch von Steuergeldern zu stoppen, erklärte der Senat nicht. UJO
Arbeitslose als „Bürgerarbeiter“
34.000 Langzeitarbeitslose in Deutschland sollen künftig sogenannte Bürgerarbeit leisten. An einer sechsmonatigen „Aktivierungsphase“ nehmen derzeit rund 160.000 Arbeitslose teil, die von den Ämtern intensiv bei der Stellensuche unterstützt werden sollen. Knapp ein Viertel der Auserwählten soll ab Januar 2011 für drei Jahre eine gemeinnützige Beschäftigung erhalten. Im Gegensatz zu Ein-Euro-Jobs sind die Stellen sozialversicherungspflichtig. In Hamburg nehmen 685 Personen an der Vorauswahl teil, 188 sollen später Bürgerarbeit leisten. Unter allen 16 Bundesländern stellt Hamburg mit Abstand die wenigsten Plätze. Ein vergleichbares Bundes-Programm heißt „Jobperspektive“ und läuft seit rund zwei Jahren. Problem: Viele Arbeitslose wollen mitmachen, doch es gibt nur wenige geförderte Stellen. BEB
Brandanschlag auf Wohnunterkunft
Ein 17-Jähriger hat gestanden, Anfang Juli einen Molotow-Cocktail auf eine Obdachlosenunterkunft in Velbert (Nordrhein-Westfalen) geworfen zu haben. Er habe Streit mit Hausbewohnern gehabt und sie erschrecken wollen. Weil ein Bewohner das Feuer sofort löschte, wurde niemand verletzt. Der Jugendliche ist laut Polizei psychisch labil und in Betreuung. BEB
Arm trotz Arbeit
1,3 Millionen Erwerbstätige in Deutschland, darunter eine halbe Million Vollzeitbeschäftigte, können laut Deutschem Gewerkschaftsbund von ihrer Arbeit allein nicht leben und sind auf Sozialleistungen angewiesen. Mittlerweile liege der Anteil der sogenannten Aufstocker unter den Hartz-IV-Empfängern bei 21 Prozent. BEB
Arm trotz Rente
Fast 18.000 Hamburger über 64 Jahre haben Ende 2009 Leistungen zur Grundsicherung erhalten. Das waren zwei Prozent mehr als im Vorjahr. Im Vergleich zu 2004 ist die Zahl um 42 Prozent gestiegen. 70 Prozent bezogen die Hilfe ergänzend zur Rente. BEB
Gericht: Lohndumping ist Straftat
Erstmals hat ein deutsches Gericht die Zahlung von Dumpinglöhnen als Straftat und nicht als Ordnungswidrigkeit bewertet. Das Landgericht Magdeburg verurteilte einen Reinigungsunternehmer zu 1000 Euro Strafe, weil er Beschäftigten statt des verbindlichen Mindestlohns von damals 7,68 Euro Stundenlöhne von zum Teil unter einem Euro bezahlt hatte. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig (21 Ns 17/09). UJO
Videoüberwachter Kiez: mehr Straftaten?
Die Videoüberwachung auf der Reeperbahn senkt laut Innenbehörde nicht die Zahl der Straftaten dort. Die erfassten Delikte stiegen im dritten Jahr seit Montage der Kameras um 32 Prozent gegenüber dem Jahr vor der Überwachung, Körperverletzungen sogar um 75 Prozent. Innensenator Christoph Ahlhaus (CDU) erklärte den statistischen Anstieg: „Das liegt daran, dass wir genauer hinsehen.“ BEB
Urteile zum Tod von Lara Mia
Im Prozess um den Tod der im Alter von neun Monaten verstorbenen Lara Mia hat das Landgericht Hamburg die 19-jährige Mutter nach Jugendstrafrecht zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt. Ihr damaliger Freund bekam eine Jugendstrafe von neun Monaten auf Bewährung. Weil ein plötzlicher Kindstod nicht ausgeschlossen werden konnte, erklärten die Richter die beiden nur der gefährlichen Körperverletzung und Verletzung der Fürsorgepflicht für schuldig, die Mutter auch der Misshandlung einer Schutzbefohlenen. Lara Mia war Anfang 2009 tot aufgefunden worden, zum Zeitpunkt des Todes war sie deutlich unterernährt. HAN
23 Euro pro Kind im Monat mehr
480 Millionen Euro will die Bundesregierung kommendes Jahr bereitstellen, um Kinder von Hartz-IV-Empfängern besser zu fördern. Mit dem Geld sollen etwa Nachhilfeunterricht oder die Teilnahme an Musik- und Sportveranstaltungen finanziert werden, so Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU). Das Bundesverfassungsgericht hatte im Februar die aktuelle Berechnung der Hartz-IV-Regelsätze für Kinder verworfen. Sie betragen zurzeit je nach Alter zwischen 60 und 80 Prozent der Regelsätze für Erwachsene. Der Paritätische Wohlfahrtsverband hält mindestens 1,5 Milliarden Euro für nötig, um dem Urteil gerecht zu werden. UJO
Hamburg, Juli 2010. Die städtischen Notschlafstellen sind völlig überlastet. Die Notunterkünfte Pik As und Frauenzimmer waren im Mai zu 101 Prozent (Pik As) beziehungsweise 125 Prozent (Frauenzimmer) belegt; im Juni zu 93 Prozent und 120 Prozent, so die Sozialbehörde auf Nachfrage von Hinz&Kunzt.
(aus Hinz&Kunzt 83/Januar 2000)
„Da kriegen mich keine zehn Pferde rein!“ Unter Obdachlosen hat das „Pik As“ einen ausgesprochen schlechten Ruf. Immer wieder berichten sie von Diebstahl und Gewalt in Hamburgs größter Notunterkunft für Männer. Ulrich Jonas (Text) und Michael Thalhause (Fotos) schlüpfen in die Rolle von Obdachlosen und haben sich eine Nacht im „Pik As“ umgeschaut.*
„Was wollt ihr in Hamburg?“ Der Wachmann mit den sauber zum Scheitel gekämmten Haaren empfängt und nicht gerade freundlich. Im Gegenteil. Den Pass verloren? „Dann kann ich euch nicht aufnehmen!“, raunzt er. Kann er aber doch: Unwillig trottet er in das Büro hinter dem Empfangstresen und holt Zettel und Stift. Während seine Kollegen sich mit Kartenspielen die zeit vertreiben, fragt er Namen, Geburtsort, -datum und Beruf ab. Durch die geräumige Eingangshalle streifen ein paar verlorene Gestalten mit wirrem Blick. Der Wachmann schließt die Tür zu einem Lager auf und reicht uns je zwei Wolldecken, saubere Bettwäsche und Handtücher. Seife? „Haben wir nicht.“ Einen Schlüssel fürs Zimmer? „Wir sind doch kein Hotel!“
Zimmer 315 liegt im dritten Stock des weitläufigen, 1913 errichteten Backsteinbaus an der Neustädter Straße. Noch in den 60-er Jahren wurden hier bis zu 1100 Menschen in Massen-Schlafsälen zusammengepfercht: Obdachlose, psychisch Kranke, Hafenarbeiter. Seitdem hat sich manches geändert: 1974 wurde zunächst der Eingangsbereich saniert, später der Rest des Hauses. 80-Mann-Schlafsäle verwandelten sich in geräumige Zweier, Vierer- und Sechser-Zimmer. 1995 folgte eine weitere Renovierung, 1996 ließ der Betreiber pflegen & wohnen auf dem Vorplatz einen Pavillon errichten, wo Obdachlose duschen oder Kaffee trinken können. Nicht mehr als 244 Betten stehen heute in 62 Räumen. Im Winter, wenn das Notprogramm für Obdachlose läuft, kommen 60 Betten hinzu.
Im Flur des ersten Stockwerks sitzt ein Wuschelkopf auf dem nackten Fußboden und lässt sich von der Wand stützen. Neben ihm zwei Plastiktüten. Aus der einen ragt der Kopf einer Korn-Flasche, aus der der Mann in der blauen Trainingsjacke ab und zu einen tiefen Schluck nimm. Später, in der Nacht, werde ich ihn auf den Stufen des Treppenhauses sitzend wieder treffen Dann wird er mich mit trüben Augen anblicken und mit lallender Stimme fragen: „Entschuldigen Sie mal, haben Sie vielleicht eine Zigarette?“ Ich werde ihm eine reichen, und seine Hand wird so zittern, dass es einige Sekunden braucht, bis er sie zu fassen bekommt. „Danke, einen schönen tag noch“, wird er sagen. Am frühen Morgen werde ich ihn noch ein letztes Mal sehen, wie er auf dem Hosenboden rutschend versucht, sich in ein Klo zu ziehen.
Im Aufenthaltsraum sitzen vier Männer an einem Tisch und tauschen über Bierflaschen hinweg Geschichten aus. „Du musst hier deine Schuhe festnageln“, sagt Rainer **, ein ehemaliger Krankenpfleger mit traurigen Augen. „So ein Quatsch!, meint sein Gegenüber, ein stämmiger Vollbart, „ich bin seit einer Woche hier und mir ist nix geklaut worden.“ Rainer, obdachloser Welten-Pendler, kennt das „Pik As“ schon von früheren Aufenthalten. „Es kommt darauf an, ob du bei diesen Bagaluten schläfst“, erklärt er freundlich und damit diejenigen, die die Nacht zum Tag machen. Und sonst? „Mit den sanitären Anlagen ist es diffizil“, sagt Rainer in gewählten Worten, die daran erinnern, dass er nicht immer in Notunterkünften gelebt haben kann. „Manche machen hier nebens Klo.“
Im Lauf der Nacht werde ich merken, dass er untertrieben hat: Dass der strenge Geruch von Urin nicht nur die Toiletten zunehmend beherrschen wird, sondern auch das Treppenhaus und die Flure – so sehr, dass sich mir beinah der Magen umdreht. Kurz vor Mitternacht schwankt ein später Einkehrer auf das „Pik As“ zu und zieht sich am Geländer mühsam die Treppenstufen hoch. Drinnen lehnt er sich an den Empfangstresen. Die Tür zum Büro der Wachmänner ist geöffnet, doch die, vom Fernseher gebannt, hören sein nach Aufmerksamkeit heischendes Brummen nicht – oder wollen es nicht hören. Eine halbe Minute vergeht. Dann schwankt der Obdachlose wieder zur Tür raus. „Ist doch egal, wo ich schlaf“, lallt er und verschwindet in der Nacht.
Zimmer 315 ist inzwischen mit vier Männern voll belegt. Zwei schnarchen laut. An Schlafen ist nicht zu denken. Paul, ein trockener Alkoholiker, sitzt auf seinem Bett und schlürft Kaffee aus einem Plastikbecher. Er ist am Nachmittag aus dem Knast entlassen worden. Zwei Monate habe er in Untersuchungshaft gesessen, wegen Schwarzfahrens. Zunächst haben ihn die Wachleute auf ein anderes Zimmer geschickt, berichtet Paul, einer der vermutlich wenigen Menschen im „Pik As“, die diese Nacht nicht unter Droge stehen. „Aber da lagen überall Kippen und Spritzen rum, und die Matratze war voll Blut“, erzählt er angeekelt. „Da kannst du doch keinen Kaffee trinken!“
Im Treppenhaus sitzt Dieter. Er komme direkt aus dem Krankenhaus, Herz-OP. Mühselig hat sich der sympathische End-Dreißiger mit seinen Plastiktüten die Stufen zum dritten Stock hochgeschleppt. Doch in Zimmer 313, wo ein Bett auf ihn warten sollte, sind alle fünf Schlafplätze belegt. „Ich lauf jetzt nicht noch mal runter“, sagt Dieter erschöpft. Lieber will er im Treppenhaus schlafen, im Sitzen. Er wäre nicht der Einzige. „Das gibt’s doch nicht“, schnauft ärgerlich der Wachmann, als ich ihn auf das fehlende Bett anspreche. Gleich drei Wachleute blättern aufgeregt in ihren Listen. Schließlich macht sich der Verärgerte unwillig auf den Weg. Angewidert zeigt er auf eine Pfütze im Treppenhaus. „Die pissen überall hin, die Penner!“ Im dritten Stock angekommen wedelt er mit seinem Zettel vor der Nase des Obdachlosen: „Hier steht, dass da sechs Betten drin sind“, sagt er. Der Ton seiner Stimme schwankt zwischen Vorwurf und Entschuldigung. Erst als er sich mit eigenen Augen davon überzeugt hat, dass das Bett fehlt, schließt er einen anderen Raum für Dieter auf. Vier Betten stehen darin, alle noch frei.
Noch später sitzen im Fernsehraum ein paar Übriggebliebene, jeder für sich, an den Holztischen und lallen „Scheißegel“ oder „Wir sind noch jung“. Sie sprechen mehr zu sich als zu den anderen. Vor ihnen Bier in Dosen, Bier in Glasflaschen, Bier in Mezzo-Mix-Plastikflaschen. Der Anblick ist deprimierend. Wenn der Wachmann um vier den Raum betreten wird, werden sie zu Boden gesunken sein, zwischen Penny-Tüten liegen oder sitzend, den Kopf auf dem Tisch, ihren Rausch ausschlafen.
Wer Alkoholiker ist, braucht wenig Schlaf. Noch lange hat es nicht gedämmert, da sitzt Stefan mit drei Kumpels im Aufenthaltsraum und sagt: „Korn muss sein!“ Der Mann mit den wachen grauen Augen ist einer der Dauergäste des „Pik As“, von denen es offenbar nicht wenige gibt – obwohl eine Notunterkunft keine Bewohner haben sollte. „1992 war ich das erste Mal hier“, sagt Stefan unbestimmt. Dann kratzen die Freunde die letzten Märker zusammen für die Droge, 12.50 werden es. „Macht eine Pulle Korn und drei Bier“, sagt Stefan zufrieden. Sein Freund trägt keine Strümpfe. Auf seinen Beinen wuchert Schorf unter den Jeans hervor. Was sie den Tag so vorhaben? „Wir bleiben hier und saufen.“ Stefan lacht, seine Kumpels lachen mit. Ob sie zurück ins Leben finden werden? Und ob ihnen die zwei Sozialarbeiter helfen können, die tagsüber den bis zu 250 problembeladenen Menschen im „Pik As“ gegenüberstehen?
Neun Uhr. Eine Türkin feudelt den Boden, Der angenehme Geruch von Putzmitteln füllt die Eingangshalle, in der ein paar Ernüchterte Automaten-Kaffee an Stehtischen trinken. Ein Aufsehe quatscht mit einem älteren Mann, der mit zwei Krücken in der Hand auf eine freie Waschmaschine wartet. „Ganz schön leer zur Zeit“, meint der Wohnungslose. „Die meisten Obdachlosen gehen aufs Schiff“, sagt der Aufseher. „Da werden sie nicht erfasst.“
Nach dieser Nacht bekomme ich eine Ahnung davon, warum manche auch im Winter lieber Platte machen, Ob ich noch mal ins „Pik As“ gehen würde, wenn ich in Not wer? Ich weiß es nicht.
*Die Kosten der Übernachtung (12 Mark pro Person) hat Hinz&Kunzt an pflegen und wohnen überwiesen.
** alle Namen geändert
Forderungen von Hinz&Kunzt im Januar 2000:
1) die Auflösung der Massen-Unterkunft „Pik As“, statt dessen kleine Notunterkünfte in den Bezirken
2) sozialpädagogisch geschultes Personal auch nachts
3) keine Personalienkontrolle bei der Aufnahme
4) abschließbare Schränke sowie von innen abschließbare Zimmertüren
(aus Hinz&Kunzt 206/April 2010)
Seit mehr als einer Stunde liege ich wach. Es ist halb drei Uhr nachts, und obwohl ich zum Umfallen müde bin, kann ich nicht einschlafen. Im Bett unter mir liegt ein Mann, der sich ununterbrochen kratzt. Durch das Kratzen wackelt und quietscht das metallene Doppelstockbett, außerdem quält mich die Frage, ob mein Bettnachbar eine ansteckende Hautkrankheit hat. Aber auch sonst finde ich im Zimmer 412 der Notunterkunft Pik As keine Ruhe. In einem Raum sind hier 13 Männer untergebracht, nur eines der 14 Betten ist leer. Es riecht nach Schweiß und ungewaschenen Körpern. Nur zwei der Männer scheinen zu schlafen, zumindest schnarchen sie laut. Wie soll ich hier erholsamen Schlaf finden?
Dabei ist mein Aufenthalt im Pik As bisher besser verlaufen als erwartet. Nachdem Hinz&Kunzt-Autor Ulrich Jonas im Dezember 1999 eine Nacht hier verbracht hatte, berichtete er von überforderten Mitarbeitern, exzessivem Alkoholkonsum der Bewohner und skandalösen hygienischen Zuständen. Mittlerweile hat sich einiges geändert: Betrunkene sind heute kaum zu sehen, die Toiletten sind sauber, das Haus ist einigermaßen ruhig.
Vier Stunden zuvor: Unser Aufenthalt im Pik As beginnt gegen 22 Uhr mit einem überraschend freundlichen Empfang. „Wie, ihr habt keine Ausweise dabei?“, fragt uns ein Mitarbeiter erstaunt. Wir schütteln den Kopf. „Na, dann müsst ihr beide uns einfach eure Namen und Geburtstage aufschreiben“, meint er versöhnlich. „Trinkt erst mal einen Kaffee, meine Kollegin kümmert sich gleich um euch.“
Wir ziehen uns am Automaten einen kostenlosen, dünnen Kaffee. In der Ecke der neonbeleuchteten Eingangshalle kriechen gerade drei junge Männer auf dem nackten Fußboden in ihre Schlafsäcke. Sie reden laut auf Spanisch miteinander. Und im Gegensatz zu uns scheint ihnen die triste Atmosphäre hier nicht die Laune zu verderben. Das seien arme Teufel ohne deutschen Pass, die hier kein Recht auf ein Bett hätten, erklärt uns der Mitarbeiter: „So haben sie bei der Kälte wenigstens ein Dach über dem Kopf.“
Kurz darauf nimmt eine Mitarbeiterin unsere Daten auf. „Wir haben für euch nur noch Platz in einem der Notaufnahmezimmer“, sagt sie entschuldigend, „da schlafen schon mehrere, und besonders hygienisch ist es auch nicht.“ Während sie uns jeweils ein belegtes Brötchen, Decken und frische Bettwäsche in die Hand drückt, schärft sie uns ein: „Ihr müsst auf eure Wertsachen aufpassen.“ Diese Warnung haben wir schon oft gehört. Hinz&Künztler berichten immer wieder von nächtlichen Diebstählen im Pik As.
In Zimmer 412 wird mir schnell klar, dass ich hier kein Auge zumachen werde. Die Luft ist zu unangenehm, die Atmosphäre zu unruhig. Wieder auf dem Flur treffen wir Rolf *, der sich gerade umständlich eine Zigarette dreht. Er trägt einen geflochtenen Bart und hat bis vorgestern auf der Straße geschlafen. „Alle paar Minuten fuhr ein Auto an mir vorbei“, sagt er, „da kriegst du kein Auge zu.“ Ich frage ihn, wie es ihm im Pik As gefällt. „Es ist ruhiger“, sagt Rolf langsam, „aber die Luft ist so schlecht und trocken.“
Im Treppenhaus kommt uns ein alter Mann in zerschlissenen Jeans entgegen. Er trägt keine Schuhe, seine schorfigen Hände und Füße stecken in schmutzigen Verbänden. Lallend fragt er mich nach einer Zigarette. „Danke Mann, du bist der Boss“, sagt er, als ich ihm eine gebe. Sein Anblick ist deprimierend. Der Alte tut mir leid. Im Aufenthaltsraum ist die Stimmung besser. Im Fernsehen läuft der Hollywood-Western „Der mit dem Wolf tanzt“. Die Film-Idylle mit Indianern und weiter Prärie will nicht so recht zu dem spartanisch eingerichteten Zimmer passen, aber immerhin ist der Raum sauber und dient nicht mehr vorrangig zum Trinken wie noch vor zehn Jahren. Neben Fabian und mir sitzt Arne, ein junger Punker mit roten Haaren. „Mit 18 bin ich zu Hause abgehauen, hab meine Lehre geschmissen, mal hier und mal da gepennt“, erzählt er. Nach Hamburg ist er wegen seiner Freundin gekommen, die hat ihn im September 2009 aus der Wohnung geworfen. „Seitdem schlag ich mich so durch“, sagt Arne. Das Pik As stört ihn nicht, er ist froh über die Unterkunft: „Ich stelle kaum Ansprüche.“
Als der Aufenthaltsraum gegen ein Uhr früh geschlossen wird, gehe ich kurz an die frische Luft. Im Innenhof stehen zwei junge Männer mit Bierdosen in der Hand. Der eine guckt mich plötzlich an. „Und du musst hier pennen?“, fragt er. Ich nicke. „Scheiße ist das, wenn du hier landest“, meint er, „hast du wenigstens ein Einzelzimmer?“ Ich verneine. „Ach du Scheiße“, sagt er und sieht mich mitleidig an. Ich schäme mich ein bisschen, ihm etwas vorzuspielen.
Um halb zwei Uhr gehe ich ins Zimmer 412 und lege mich ins Bett. Ich fühle mich unwohl, an Schlaf ist nicht zu denken. Fabian nickt immerhin für zwei Stunden ein. Gegen fünf Uhr halte ich es einfach nicht mehr aus. Als wir zum Ausgang gehen, schlafen in der Eingangshalle sieben Menschen, einige einfach gegen die Wand gelehnt.
* alle Namen geändert
Die Kosten der Übernachtung in Höhe von 24 Euro pro Person haben wir an fördern und wohnen überwiesen.
Das Pik As in der Neustädter Straße 31a ist Hamburgs zentrale Notunterkunft für obdachlose und wohnungslose Männer. Getragen wird es vom städtischen Unternehmen fördern und wohnen. Das Haus hat derzeit 190 Betten, zumeist in Vier-Bett-Zimmern. Außerdem gibt es 24 Einzelzimmer, in denen die Bewohner auch Hunde halten können. Das Pik As ist verpflichtet, jederzeit allen
obdachlosen Männern einen Schlafplatz zur Verfügung zu stellen.
Von November 2009 bis Februar 2010, während des Winternotprogramms für Obdachlose, haben im Schnitt 167 Menschen pro Nacht in der Notunterkunft geschlafen.
Obwohl das Pik As nur eine vorübergehende Notlösung sein soll, leben einige Bewohner seit vielen Jahren dort, darunter auch einige Hinz&Künztler. Das Winternotprogramm wird nach Angaben von fördern und wohnen in diesem Jahr am 15. April enden.
„Wir sind doch kein Hotel!“: Wie es Hinz&Kunzt-Autor Ulrich Jonas vor zehn Jahren ging, als er eine Nacht im „Pik As“ verbrachte
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