Es gibt viel zu tun!
Was wir von der Politik erwarten. Ein Kommentar von Hinz&Kunzt-Sozialarbeiter Stephan Karrenbauer.
(aus Hinz&Kunzt 210/August 2010)
Was wir von der Politik erwarten. Ein Kommentar von Hinz&Kunzt-Sozialarbeiter Stephan Karrenbauer.
(aus Hinz&Kunzt 210/August 2010)
Sparpläne in Hamburg und der Republik, neue DIW-Studie und „Emmelys“ Kündigung – was auch in einer Litraturausgabe nicht fehlen darf
(aus Hinz&Kunzt 179/Januar 2008)
Hausbesuch statt Räumung
Rund 2000 Wohnungen werden jedes Jahr in Hamburg zwangsgeräumt. Oft sind die Helfer vom Amt nicht vor Ort, obwohl das nötig wäre und den Staat auf Dauer billiger käme. Deshalb fordern wir: Jeder Räumung muss mindestens ein Hausbesuch vorausgehen, und bei jeder Räumung muss ein Sozialarbeiter vor Ort prüfen, ob die Wohnung noch zu retten ist oder die Betroffenen in eine Notunterkunft vermitteln. Stimmen Sie dem zu?
(aus Hinz&Kunzt 175/September 2007)
Eins liebt Lenka Clayton besonders an ihrer Arbeit: „Dass ich fremde Menschen ansprechen und ihnen Fragen stellen kann, die man normalerweise nicht stellt“, sagt die 30-jährige Künstlerin und Dokumentarfilmerin. „Diese Grenzen zu überschreiten finde ich total aufregend.“ Ihrer Lieblingstätigkeit geht die Engländerin bei ihrem neuesten Projekt in Wilhelmsburg nach: Sie porträtiert 163 Menschen, die in einer Februar-Ausgabe des Wilhelmsburger Wochenblattes namentlich genannt wurden.
(aus Hinz&Kunzt 158/April 2006)
Wer weiß, was ist, wenn dieser Artikel erscheint. Zu Redaktionsschluss jedenfalls stand Sozialsenatorin Birgit Schnieber-Jastram (CDU) massiv unter Druck. Wegen der Protokollaffäre wurden ihr Staatsrat geschasst und ihre engsten Mitarbeiter versetzt. Doch ausgerechnet sie, die Chefin, blieb verschont – und nicht nur das: Sie bekam auch noch das Gesundheits- und Verbraucherschutzressort dazu.
(aus Hinz&Kunzt 159/Mai 2006)
Eine Bestandsaufnahme von Petra Neumann und Frank Keil
Gekippt. Das hört sich an wie verloren, aufgegeben, vorbei. Das hört sich an nach hoher Arbeitslosigkeit, öffentlicher Verwahrlosung, leerstehenden Gebäuden, miesen Spielplätzen und verlotterten Grünanlagen. Welche Stadtteile bereits „gekippt“ sind, wollte von Beust nicht sagen. Er wolle niemanden „stigmatisieren“.
Nach den Daten des Statistischen Landesamtes ist allerdings schnell klar, dass nicht Winterhude oder Marienthal gemeint sein können: Die Veddel punktet mit 12,6 Prozent Arbeitslosen (der Hamburger Durchschnitt liegt bei 7 Prozent) und 16,7 Prozent Sozialhilfeempfängern. Jenfeld mit zehn Prozent Arbeitslosigkeit und 15,8 Prozent Sozialhilfe. Dulsberg mit 11,6 Prozent Arbeitslosen, 12,3 Prozent Sozialhilfeempfänger. Es folgen Wilhelmsburg, Rothenburgsort, Steilshoop, Hamm-Süd, Harburg und Allermöhe mit ähnlichen Zahlen (die alle aus 2004 stammen, vor Einführung von Hartz IV). Und es wird dort nicht besser.
Beispiel Steilshoop: In vier Jahren wird die einzige weiterführende Schule im Stadtteil dicht gemacht. „Das ist schrecklich für den Stadtteil“, so Schulleiter Dieter Maibaum. „Wer schulpflichtige Kinder hat, überlegt sich doch, gleich woanders hinzuziehen. Die Situation erinnert bedrohlich an die 80er und 90er Jahre. Geschäfte wie Spar und Budni ziehen aus dem Stadtteil ab.“ Stattdessen lassen sich Wettbüros ins Einkaufszentrum nieder.
„Es gibt hier im Viertel keinen Kinderarzt mehr“, sagt Martin Kersting vom Elternrat. „Die öffentlichen Anlagen, für die die Stadt verantwortlich ist, sind verwahrlost. Auf der Mittelachse stehe ich nach einem Regenguss knöcheltief im Schlamm. Die Brennnesseln werden hier 1,80 Meter hoch, und auf unseren Straßen schlagen wir uns mit Frostlöchern vom Winter 2004 herum!“ Noch sei der Stadtteil „befriedet“. „Die Frage ist nur, wie lange. Wohnungen stehen schon jetzt drei bis fünf Monate leer. „Mein Vermieter zahlt mir 150 Euro Prämie für neue Mieter.“
Beispiel Dulsberg: Hier wurde 2005 die Bücherhalle geschlossen. Dem Haus der Jugend kürzen Bezirkspolitiker im nächsten Jahr zwei Sozialarbeiter und eine halbe Verwaltungsstelle weg. Die Folgen: „Mehr Kriminalität und mehr Vandalismus – was eben passiert, wenn die Kids nirgendwo mehr hingehen können,“ so Jürgen Fiedler vom Stadtteilbüro Dulsberg. Laut Bezirksamt stellt der Senat dieses Jahr 2,56 Millionen Euro für die offene Kinder- und Jugendarbeit in Nord zur Verfügung, das sind 53.000 Euro weniger als vor zwei Jahren. Im kommenden Jahr ist eine weitere Einsparung von 47.000 Euro geplant.
Beispiel Jenfeld: Abitur im Viertel machen? Die Oberstufe der Otto-Hahn-Gesamtschule wurde geschlossen. Weiterbildung in der Bücherhalle? Dann aber schnell, solange sie noch auf hat. Die Öffnungstage wurden von vier auf drei gekürzt. Schon lange fordern soziale Einrichtungen im Stadtteil eine andere Art Förderung: „Was wir uns wünschen, sind zum Beispiel Sprachkurse für Ausländer, aber das bedeutet Personalkosten, und die werden von Stadtentwicklungsprogrammen nicht getragen“, so Hans Berling vom Jenfelder Nachbarschaftstreff „Kaffekanne“.
Beispiel Mümmelmannsberg: Die dortige Bücherhalle muss sich nach ihrem Umzug im Sommer drastisch verkleinern, von 900 Quadratmeter auf 170. Der Buchbestand wird halbiert. „Ich bin ja nicht fürs Jammern“, so Wolfdietrich Türnagel, der sich seit Jahrzehnten im Stadtteil engagiert. „Aber das wird dann nur eine Lesestube für alte Leute, so groß wie ein Schlecker-Laden, aber ein ganz kleiner.“
Kürzungen auch bei der einzigen Anlaufstelle für Migranten im Stadtteil. Der Multinationale Arbeitskreis bietet seit elf Jahren niedrigschwellige Deutschkurse für Ausländer an. „Seit drei Jahren wird es immer schwerer, unser Konzept zu verteidigen. Die Anforderungen an die Kursteilnehmer werden so hoch geschraubt, dass wir viele ausländische Frauen nicht erreichen“, so Marion Lewes vom Arbeitskreis. „Die sollen dann gleichzeitig bei uns Computerkurse machen, und viele packen das nicht oder sind abgeschreckt. Das ist hartes Brot.“ Bis Oktober seien die Deutschkurse sicher. „Was dann kommt, weiß ich nicht.“
Beispiel Großlohe: Das Kinder- und Familienhilfezentrum bietet Alphabetisierungskurse für ausländische Frauen an. Der nächste Kurs läuft noch ein halbes Jahr. Und dann? „Es ist mühselig geworden, Mittel zu bekommen“, so Zentrumsleiterin Roswitha Heikaus. „Wir suchen einen Sponsor.“ Die Kosten: gerade mal 3600 Euro.
Politisches Stückwerk. Dabei kommen immer wieder Stadtteile auf die Liste des Senats, und Gelder fließen. Armutsbekämpfungsprogramm hieß es früher; soziale Stadtteilentwicklung nennt es sich heute. Doch wenn die Quartiersmanager wieder gehen, bleiben meist einige Bürgerbeteiligungsforen, hübsche Innenhofbegrünungen, Beleuchtungen für Parks, Umbauten und Anbauten für diese und jene soziale Einrichtung. Alles notwendige Baumaßnahmen, aber politisches Stückwerk.
„Es fehlt ein Gesamtkonzept“, gibt Bürgermeister von Beust selbst zu und gelobt Besserung. Die CDU wolle die „Schutzmacht der kleinen Leute werden“.
Allein die Fakten sprechen eine andere Sprache: Der Etat für die soziale Stadtteilentwicklung in Sanierungsgebieten ist seit 2000 von 12,25 Millionen Euro auf 7,5 Millionen für 2006 gekürzt worden. So eine Berechnung der GAL. „Es werden de facto weniger soziale Projekte gefördert“, so Claudius Lieven von der GAL. Doch auch wenn Stadtteilentwicklung gelingt, Erfolge werden oft sehenden Auges gefährdet.
Beispiel Lurup: Entwicklungsgebiet seit 1999. Erst schloss die Polizeiwache, dann das Ortsamt, es folgte auch hier die Bücherhalle. Ein Quartiermanager bezog im teilweise leeren Einkaufszentrum einen Laden. Und es ging bergauf: Straßenzüge wurden saniert, Vereine vernetzt. Heute hat Lurup eine lebendige Szene mit eigener Zeitung und einem Stadtteilforum. Aber Ende des Jahres packt der Quartiersmanager seine Sachen. Die Bürger sollen alleine weitermachen. Quartiersmanager Ludger Schmidt: „Wenn es hier keine Räume gibt, wird das nix.“ Längst liegt ein Konzept auf dem Tisch: Das geschlossene Haus der Jugend soll ein Stadtteilhaus beherbergen. Dort würde dann eine Koordinatorin sitzen, als Ansprechpartnerin für die diversen Vereine, aber auch für Kitas, Schulen und einzelne Bürger. Es geht um keine Riesensumme: 28.000 Euro würde die Miete für ein Jahr kosten. Die Personalkosten würde der Luruper Verein „BÖV 38 e.V.“ übernehmen. Derzeit ist man mit den Bezirkspolitikern im Gespräch. Die scheuen sich oft, weitere Kosten zu übernehmen. Ist eine Maßnahme amtlich beendet, gibt es eben kein Geld mehr. Vielleicht hat Lurup ja Glück.
„Rein in den Stadtteil, raus aus dem Stadtteil,“ kritisiert der stadtentwicklungspolitische Sprecher der SPD Jan Quast. „Der Senat gefährdet das Erreichte, weil er keine Behörden übergreifende Stadtentwicklungspolitik hinbekommt. Stadtentwicklungspolitische Ziele bleiben bei der Schulstandortpolitik außer Acht.“ Er nennt ein Beispiel: Auf dem Gelände der Lettow-Vorbeck-Kaserne in Jenfeld soll ein familienfreundliches Quartier mit 500 Wohnungen entstehen. Zeitgleich schließt die benachbarte Otto-Hahn-Schule teilweise. „Welche junge Familie zieht schon in eine schulfreie Zone?“
Gleiche Bildungschancen für alle sollten eigentlich oberstes Ziel einer Stadtteilentwicklungspolitik sein, kritisiert Dr. Heidede Becker vom Berliner Institut für Urbanistik, die im Hamburger Modell „zahlreiche Defizite und Kritikpunkte“ ausmacht: „Es können zwar nicht alle Probleme von Stadtentwicklungsprogrammen behoben werden. Es gibt aber Schlüsselaufgaben, die bundesweit gelten: 1. Bildung im Stadtteil, 2. Integration von Migranten, 3. Lokale Beschäftigung schaffen.“ In Hamburg sei das Augenmerk vor allem auf bauliche Investitionen gerichtet worden. Steine statt Menschen. Die Stadtplanerin kritisiert außerdem fehlende Erfolgskontrollen, fehlende Kontinuität und fehlende Rückendeckung in der Politik.
Natürlich gibt es die Ehrenamtlichen. Engagierte Bürger, denen ihr Stadtteil nicht gleichgültig ist. Doch wie lange halten die durch? „Die Leute können das nicht von selbst wuppen“, bringt Ludger Schmidt seine jahrelangen Erfahrungen aus Lurup auf den Punkt. „Rauszugehen und zu sagen, wir machen das jetzt nicht mehr, jetzt macht ihr das mal nach Feierabend, das funktioniert nur selten“, so auch Stadtplaner Dr. Andreas Pfadt in einer Sitzung des Stadtentwicklungsausschusses. Zumal neue Probleme auftauchen: In der Quartierszeit von Schmidt wurden zwei der fünf Jugendtreffs Lurups geschlossen. Die Straßensozialarbeiter mussten nach Osdorf wechseln. Klar werden die im Osdorfer Born gebraucht. Aber auch in Lurup. Was nun? Warten, bis die Luruper Kids wieder genügend Ärger machen?
Der Senat erarbeitet derzeit einen „Fahrplan für die aktive Stadtteilentwicklung“, weil von Beust selbst einsieht, dass die Stadtteilpolitik „mehr Koordination braucht“. Denn Großes kündigt sich an. Billstedt-Horn mit 100.000 Einwohnern wird bis 2015 das größte Stadtteilentwicklungsprojekt der Bundesrepublik werden. Allein für Anfangsprojekte sind drei Millionen Euro vorgesehen. Auch Wilhelmsburg soll nach Jahren des Schattendaseins wieder hell erstrahlen. Für die Internationale Gartenschau und die Bauausstellung in Wilhelmsburg sind allein etwa 180 Millionen Euro eingeplant. Schon rumort es unter denen, die sich in den Stadtteilen engagieren. Natürlich gönnt man Billstedt und auch Wilhelmsburg das Geld. Aber wo wird es herkommen? Wem wird es fehlen? Und wird man es überhaupt sinnvoll einsetzen? „Es ist ganz einfach“, sagt Quartiermanager Nicolas Schröder von ProQuartier, einem Tochterunternehmen der SAGA/GWG, „man muss am Anfang das Ende mitdenken.“ Und genau daran hapert es.
180 Millionen für Wilhelmsburg
Mit seinem Sonderinvestitionsprogramm (SIP) „Sprung über die Elbe“ will der Hamburger Senat Wilhelmsburg und die Veddel auf Vordermann bringen. Dabei will man nicht kleckern: Gut 80 Millionen Euro sollen in die Internationale Gartenschau 2013 fließen. Für die Internationale Bauausstellung 2013 und die grundsätzliche Verbesserung von Wohn- und Gewerbeflächen sind weitere 100 Millionen Euro vorgesehen:
– 50 Millionen Euro für so genannte Leuchtturmprojekte wie das Auswanderermuseum Ballinstadt oder die Hafenspange, eine Autobahnverbindung. Diese Vorhaben sollen „warmherzig kommuniziert“ werden und „zusätzlich Exzellenz generieren“.
– 20 Millionen Euro für „Projekte der Vielfalt“, etwa „experimentelles Wohnen“ am oder auf dem Wasser.
– 21 Millionen Euro für die Sach- und Personalkosten der Durchführungsgesellschaft, 9 Millionen für Zwischen- und Abschlusspräsentationen.
Auffällig: Auf den 44 Seiten des Senatspapiers zum SIP tauchen nicht einmal die Begriffe „Kinder“, Jugendliche“, „Eltern“ „Senioren“, „Schule“, „Bildung“ oder gar „Arbeitslosigkeit“ auf.
(aus Hinz&Kunzt 132/Februar 2004)
Der Verkaufsraum von Hinz&Kunzt: Hier holen Verkäufer ihre Zeitungen ab, trinken Kaffee, rauchen, dösen oder diskutieren. Letzte Unklarheiten über die Hamburger Politik sind gerade ausgeräumt („Wie, ist nicht die SPD an der Regierung?“), als plötzlich ein Mann im Raum steht. Kaum jemand hat ihn eintreten sehen. Er sagt eine Spur zu entschieden „Guten Tag“, dann legt er den eleganten Mantel und seinen Schal ab.
„Herr Mirow, warum sollen Obdachlose SPD wählen?“ Thomas Mirow, 51, sozialdemokratischer Spitzenkandidat für die Bürgerschaftswahl, hat anders als Ole von Beust nicht gekniffen (siehe Seite 5). Jetzt steht er vor den Hinz & Kunzt-Verkäufern und sagt bedächtig: „Es tut weh, diese Frage zu beantworten, denn vieles, was für uns wichtig ist, ist für Sie nur begrenzt relevant.“ Dann holt er doch aus: „Die Richtung in der Sozialpolitik stimmt nicht mehr.“
Straßensozialarbeit, Winternotprogramm für Obdachlose, HVV-Sozialticket – überall sei gestrichen worden. Und der jetzige Senat suche das Gespräch mit den sozialen Einrichtungen nicht mehr. Warum heißt es dann im SPD-Wahlprogramm „Fördern und fordern“ – nicht anders als bei der CDU? „Das ist richtig, aber ein Unterschied bleibt: Wir nehmen das Fördern ernst.“
[BILD=#mirow2][/BILD]Wie geht es in der Innenstadt weiter? Haben Bettler und Obdachlose dort auch weiterhin Platz? Ja, sagt Mirow, er sei gegen eine Innenstadtverordnung, die in anderen Städten zum Beispiel das Übernachten im Freien verbietet. Aber ein Alkoholverbot für öffentliche Plätze will die SPD doch, oder? Mirow: „Ich habe mir über dieses Instrument noch keine abschließende Meinung gebildet.“ Streng setzt er nach: „Stark alkoholisierte Menschen in der Innenstadt sind ein Ärgernis.“ Die Bemerkung, dann sei es mit dem Stuttgarter Weinfest vor dem Rathaus wohl vorbei, quittiert er ohne Lächeln.
Wenn jemand nüchtern wirkt, dann Mirow. Der promovierte Politikwissenschaftler blickt auf eine glänzende Karriere im Hintergrund der Macht zurück. Er zog Fäden, ohne dafür ganz vorn zu stehen: als Büroleiter von Willy Brandt, Chef der Hamburger Senatskanzlei, Senator für Stadtentwicklung und Wirtschaft, als selbstständiger Politikberater. Doch jetzt muss Mirow selbst als Spitzenkandidat von allen Plakaten lächeln. Was hat ihn dazu gebracht? Berechnung? Parteidisziplin? Wenn es Leidenschaft ist, verbirgt er sie gut.
„Waren Sie schon mal im Landessozialamt?“, will Hinz&Kunzt-Verkäufer Peter Reinhardt vom Kandidaten wissen. „Nein, mein Weg hat mich bisher nicht dorthin geführt“, sagt Mirow. Reinhardt schildert die Zustände: stundenlange Wartezeiten, überlastetes Personal. Mirow nickt und sagt knapp: „Gut, dann hat Christian Bernzen was zu tun.“
Christian Bernzen steht neben ihm. Er ist in Mirows „Kompetenzteam“ für Soziales zuständig. Der 41-Jährige führt eine Anwaltskanzlei, die zahlreiche soziale Institutionen vertritt. Über die Wurzeln seines Engagements sagt er schlicht: „Ich bin ein Mann der katholischen Soziallehre. Das war familiär unausweichlich.“ Sein sozialpolitisches Credo: Hilfeempfänger ernst nehmen, sie nicht als Objekt staatlicher Zuwendung sehen, ihnen mehr Verantwortung geben, die Sozialpolitik entstaatlichen. „Viele Menschen leisten wichtige Beiträge, die gar nicht erkannt werden.“
In einer aktuellen Frage zeigt sich Bernzen gut informiert: Sozialhilfeempfänger, die viele Medikamente brauchen, müssen die Jahres-summe für Zuzahlungen manchmal schon im Januar aufbringen. Könnte da nicht das Sozialamt das Geld vorstrecken, fragt H&K-Sozialarbeiter Stephan Karrenbauer. Ja, sagt Bernzen, das Bundesgesetz sehe diese Möglichkeit vor, Hamburg habe sie aber nicht umgesetzt. In der Deputation wolle er demnächst darauf hinweisen. „Schön, wenn wir ein Thema für den Wahlkampf haben. Aber noch schöner, wenn wir den Menschen schnell helfen könnten.“
Mirow erntet unterdessen Applaus für seine Ankündigung, die SPD wolle jährlich 2400 neue Sozialwohnungen fördern. Als Verkäufer Reinhardt sagt, er suche schon seit einem Jahr eine Wohnung, und das mit Dringlichkeitsschein, antwortet Mirow unerschütterlich korrekt: „Wo es Ansprüche gibt, ist die Stadt verpflichtet, ihnen zur Durchsetzung zu verhelfen.“
Nach 30 Minuten muss der Spitzenkandidat weiter. Beim Schlusswort wird es still im Raum. „Ich würde Ihnen gern den Eindruck vermitteln, dass ich nicht die Absicht habe, Ihnen das Blaue vom Himmel zu versprechen. Dazu ist Ihre Lage zu ernst.“ Die Sprache ist akademisch, die Botschaft kommt an. Die Verkäufer danken es mit Beifall.
Geschichte eines nicht zustande gekommenen Interviews
Unser Draht ins Rathaus ist momentan so heiß wie nie. So oft, wie wir in den vergangenen Wochen mit der Senatskanzlei telefoniert haben, telefoniert man sonst nicht mal mit seinen besten Freunden. Natürlich gings um Ole – seit dem Start des Wahlkampfs („Ole wählen!“) darf man ihn auch offiziell so nennen. Schließlich wollten wir nicht nur den Herausforderer Thomas Mirow zum Hausbesuch einladen, sondern auch den Spitzenkandidaten der CDU.
Am Stehtisch im Vertrieb sollten sich die Spitzenkandidaten an unterschiedlichen Tagen den Fragen der Hinz & Künztler stellen. Reaktion von Senatssprecher Christian Schnee: „Das ist eine Gruppendiskussion“, beschied er. „Und das machen wir nicht.“ Auch terminlich sahs schlecht aus. „Schließlich muss Ole von Beust nebenbei regieren. Das ist bei Thomas Mirow ja nicht der Fall“, sagte Schnee spitz. Angebot zur Güte: Zwei Vertreter von Hinz & Kunzt dürfen den Bürgermeister besuchen. Verkäufer Peter Reinhardt bereitete sich intensiv vor. Akribisch schrieb er Fragen auf: Um die Abschaffung des Sozialtickets sollte es gehen, die Praxisgebühren – und die Frage: Sind Sie ein Bürgermeister der Armen?
Weils so speziell war, bat die Senatskanzlei um die Vorabsendung der Fragen – und verschob den Termin. Wir vereinbarten allgemeine Fragen – dachten aber nicht, selbst die vorab schicken zu müssen. Wieder wurde der Termin verschoben. Tja, und dann war Redaktionsschluss. Irgendwas ist immer.
(aus Hinz&Kunzt 127/September 2003)
Die dritte Augustwoche war dramatisch im Hamburger Rathaus: Innensenator Ronald Schill drohte Bürgermeister Ole von Beust und wurde entlassen. Von Beust und Justizsenator Roger Kusch bekannten sich zu ihrer Homosexualität, wiesen aber Schills Behauptung zurück, sie seien Lebenspartner. Hinz & Kunzt sprach mit Bürgerschafts-Vizepräsident Farid Müller (41, GAL) über Homosexualität, Privatsphäre und Politik.
H&K: Ist es Privatsache, ob ein Politiker schwul ist?
Farid Müller: Nein. Es gehört heute dazu, sich zur Lebensform zu äußern. Ein heterosexueller Politiker spricht selbstverständlich über Familie und Kinder, und niemand sagt: Das wollen wir jetzt nicht hören, das ist privat. Warum sollte es dann Privatsache sein, wie ein homosexueller Politiker lebt? Um Bettgeschichten geht es dabei allerdings nicht. Die Persönlichkeit von schwulen oder lesbischen Menschen reduziert sich schließlich nicht auf Sexualität.
H&K:Der Bürgermeister und der Justizsenator sagen: Warum hätten wir groß darüber reden sollen? Homosexualität ist doch nichts Ungewöhnliches.
Farid Müller: Ich halte das für verlogen. Homosexualität gehört eben noch nicht zur Normalität. Dazu hat gerade die CDU beigetragen: mit ihrer Ablehnung einer rechtlichen Gleichstellung. Dadurch erscheint Schwul- oder Lesbisch-Sein immer noch als Makel. Wie zum Beispiel im jüngsten Papier der katholischen Kirche, das die Homo-Ehe ablehnt und katholische Politiker zum Widerstand aufruft.
H&K: Sollten schwule Politiker sich outen?
Farid Müller:Ich wünsche mir, dass Personen des öffentlichen Lebens frei über ihre Lebensform sprechen. Die Sorge beim Outing ist ja vor allem: Habe ich Nachteile in Beruf und Karriere? Gerade in konservativen Parteien ist die Befürchtung groß, Homosexualität könnte die Wähler überfordern und die Chancen eines Kandidaten schmälern. Doch wer seine Homosexualität aus Angst verschweigt, kann nicht frei agieren. Angst behindert die Leistung und bereitet den Boden für Erpressungsversuche. Außerdem sind Politiker, die offen mit ihrer Homosexualität umgehen, ein Vorbild für Jugendliche, die sich genau damit schwer tun. Bei den unter 18-Jährigen sind Probleme mit dem Coming out ein Hauptgrund für Suizid.
H&K:Grundsätzlich gefragt: Darf ein Bürgermeister seinen Lebenspartner zum Senator berufen?
Farid Müller: In der Politik gelten Regeln. Wenn es üblicherweise nicht akzeptiert wird, Lebenspartner in ein Amt zu berufen, dann sollten sich alle daran halten. Homosexuelle können sich hier nicht auf ihr Privatleben berufen, um der Diskussion auszuweichen. Aber: Wer solche Vorwürfe erhebt, muss Beweise auf den Tisch legen. Oder schweigen.
H&K: Sie selbst leben offen schwul und sind seit knapp zehn Jahren in der Politik. Wie sind Ihre Erfahrungen?
Farid Müller: In der ersten Zeit waren manche unsicher, wie sie dem Schwulen Farid Müller begegnen sollten. Das äußerte sich dann in Sprüchen oder spitzen Bemerkungen. Doch mit der Zeit haben die Menschen den Abgeordneten Farid Müller kennen gelernt. In der Bürgerschaft empfinde ich keine Vorbehalte mehr, dass ich schwul bin. Bei offiziellen Anlässen bringe ich durchaus meinen Partner mit – auch wenn ich gelegentlich noch ,mit Gemahlin‘ eingeladen werde.
Mir geht es sehr gut damit, und ich kann nur allen sagen, die in Hamburg im öffentlichen Leben stehen und schwul oder lesbisch sind: Ihr müsst keine Angst haben. Die Leute können wunderbar damit umgehen.
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