Warum Wehrmachts-Deserteur Ludwig Baumann und der Kurde Ilhami Akter nicht für ihren Staat kämpfen wollten
(aus Hinz&Kunzt 126/August 2003)
Schmeißt die Waffen weg!
Der weißhaarige Mann mit dem schmalen Gesicht hat Papier mitgebracht. Es sind Kopien, eingebunden in dunkelviolettem Karton. Ein Schriftstück von 1943 aus dem Kriegswehrmachtgefängnis. Die Korrespondenz, die er mit Berliner Ministerien führte. Die Schmähbriefe, die er bekam. Und vor allem die Artikel, die über ihn in der Zeitung standen, vom „Weser-Kurier“ bis zur „Washington Post“. Über ihn, den freundlichen alten Mann. Den ehemaligen Soldaten, der seinen wichtigsten Kampf nach Kriegsende führte: den Kampf um die Wiedererlangung seiner Würde.
Ludwig Baumann (81) desertierte im Zweiten Weltkrieg und gehört zu den wenigen, die das überlebten. Schätzungen zufolge wurden mehr als 30.000 Soldaten in Hitlers Armee wegen Fahnenflucht oder „Wehrkraftzersetzung“ zum Tode verurteilt, mehr als 20.000 Urteile wurden vollstreckt. Mehrere 10.000 Soldaten bekamen Zuchthausstrafen. „Das Grauen in den KZs und Strafbataillonen haben keine 4.000 von uns überlebt“, sagt Baumann.
In der Bundesrepublik galten Soldaten, die sich dem nationalsozialistischen Angriffs- und Vernichtungskrieg entzogen hatten, weiter als Straftäter. Auf ihre Rehabilitierung mussten sie mehr als ein halbes Jahrhundert warten: Erst 2002 beschloss der Bundestag, die Urteile der Militärgerichte gegen Deserteure und „Zersetzer“ aufzuheben. Ein Schritt, auf den Ludwig Baumann und seine Vereinigung „Opfer der NS-Militärjustiz“ lange hingearbeitet hatten.
Der weißhaarige Mann hat vor Schulklassen gesprochen und bei Kundgebungen, er hat Reporterfragen beantwortet und in den Talkshows von Biolek und Kerner gesessen. Er spricht auch jetzt detailreich und routiniert. Manche Sätze sagt er genau so, wie er sie schon anderen Zeitungen gesagt hat. Als sei das Wiederholen und Wiederholen und Wiederholen auch ein Mittel, die traumatischen Erinnerungen in Schach zu halten. „Wenn die Seele zerstört ist, dann ist sie zerstört“, sagt der weißhaarige Mann leise. Und fügt an, er habe gelernt, damit zu leben.
Baumann, Jahrgang 1921, wuchs in Hamburg-Eimsbüttel auf. Der Vater hatte sich zum Tabakgroßhändler hochgearbeitet, seine Beziehungen sollten dem Sohn später das Leben retten. Als 1936 die Mutter starb, veränderte sich der Junge: Er, der ängstlich versucht hatte, den Forderungen des jähzornigen Vaters zu genügen, nahm nicht mehr alles hin. Als er 1940 zur Marine eingezogen wurde, führte er manche Befehle – etwa den Vorgesetzten die Stiefel zu putzen – nicht aus und robbte dafür durch den Schlamm.
„Ich kann es nicht erklären, ich habe es einfach getan“, sagt Baumann. Mit der Fahnenflucht muss es ähnlich gewesen sein. Bei der Hafenkompanie in Bordeaux hätte Baumann ein ruhiges Soldatenleben haben können. Aber er wollte nicht mehr. In der Wochenschau hatte er die russischen Gefangenen gesehen, die auf freiem Feld eingekesselt waren und nun erfrieren würden. Nein, er wollte nicht mehr mitmachen bei diesem Krieg.
Anfang Juni 1942 verlässt Baumann mit seinem Freund Kurt Oldenburg die Kompanie. Sie wollen ins unbesetzte Frankreich und später über Marokko nach Amerika. Doch eine deutsche Streife greift sie auf. 40 Minuten dauert die Verhandlung vor dem Militärgericht, dann ist Baumann zum Tode verurteilt. „Die Flucht vor der Fahne ist und bleibt das schimpflichste Verbrechen, das der deutsche Soldat begehen kann“, schreibt der Marinekriegsgerichtsrat in der Urteilsbegründung. In der Zelle, an Händen und Füßen gefesselt, wartet Baumann jeden Morgen darauf, dass ihn die Wachen zur Hinrichtung abholen. Wenn sie vorbeigehen, gibt es einen weiteren Tag. Zehn Monate geht das so. In den Träumen verfolgt es Ludwig Baumann immer noch.
„Ich wollte nicht mehr mitmachen bei diesem Krieg“
Was der Verurteilte damals nicht wusste: Die Todesstrafe war schon nach wenigen Wochen in zwölf Jahre Zuchthaus umgewandelt worden. Das hatte sein Vater über einen Geschäftsfreund erreicht, der ein Kriegskamerad von Admiral Erich Raeder war und diesen zu einer Begnadigung bewegte. 1943 kam Baumann ins KZ im emsländischen Esterwegen, danach ins Wehrmachtgefängnis Torgau, wo er an Diphterie erkrankte. „Manchmal bekam ich Drillichzeug, das vorn einen kleinen und hinten einen großen Flicken hatte“, erzählt der alte Mann. Dann wusste er: Darin ist ein anderer erschossen worden.
Nach etwa einem Jahr musste er mit einem Strafbataillon an die zusammenbrechende Ostfront. Ein Todeskommando, bei dem auch sein Freund Oldenburg starb. Baumann wurde verwundet und von einem fürsorglichen tschechischen Arzt in Brünn so behandelt, dass seine Wunde nur langsam heilte. Das Kriegsende erlebte er in Schlesien.
Die Russen entließen den Deserteur schon nach einigen Monaten aus der Gefangenschaft. „Als ich nach Hamburg kam, konnte mein Vater mich nicht in den Arm nehmen“, erzählt Baumann. Fahnenflucht, das war unwürdig und feige, auch wenn man nicht für Hitler war. Der Vater stirbt 1947 „an Kummer und Magengeschwüren“. Auch der Sohn, der so lange als Vaterlandsverräter und Kameradenschwein und Feigling behandelt worden ist, der nach dem Krieg weiter so beschimpft wird, scheint sein Leben aufzugeben. Er wird Stammgast in einer Kneipe beim Gänsemarkt, übernachtet im Hinterzimmer, trinkt und spielt und hält die anderen Gäste frei. So verzecht er das väterliche Erbe.
Tagsüber verkauft er als Handelsvertreter Gardinen, später Radios und Fernseher. Dabei lernt er seine spätere Frau kennen und zieht 1951 zu ihr nach Bremen. Fünf Kinder kommen auf die Welt. Doch der Vater und Ehemann ergibt sich weiter dem Alkohol. Jahrelang. Erst als seine Frau 1966, bei der Geburt des sechsten Kindes, stirbt, wacht Baumann auf. Er kümmert sich um die Kinder, hört allmählich mit dem Trinken auf.
Langsam beginnt das politische Leben des ehemaligen Deserteurs. In den achtziger Jahren engagiert er sich in der Friedens- und Dritte-Welt-Bewegung. Am Bremer Hauptbahnhof verteilt er Flugblätter an Rekruten: „Schmeißt Eure Waffen fort und geht nach Hause.“ Er bekennt sich öffentlich als Fahnenflüchtiger, bekommt Morddrohungen und Schmähbriefe: „Seien Sie versichert, Volksschädling Baumann, dass Sie für alles alsbald sich vor dem Reichskriegsgericht in Berlin zu verantworten haben.“
1990 gründet er mit 36 anderen alten Männern die Bundesvereinigung „Opfer der NS-Militärjustiz“. Als deren Vorsitzender verfolgt Baumann den Eiertanz der Politik. An eine Rehabilitierung der Deserteure will niemand so recht heran, denn hieße das nicht, Millionen von Wehrmachtssoldaten, die nicht wegliefen, ins Unrecht zu setzen? 1998 beschließt der Bundestag zwar die pauschale Aufhebung von NS-Unrechtsurteilen, doch nimmt die Fahnenflüchtigen dabei aus: Sie sollen sich weiterhin einer Einzelfallprüfung unterziehen. Erst vier Jahre später werden auch ihre Urteile aufgehoben.
Die meisten, denen diese Wiedergutmachung galt, waren da schon tot. „Sie sind gedemütigt und vorbestraft verstorben“, sagt Ludwig Baumann. Von den Kriegsrichtern dagegen sei keiner je bestraft worden. Im Gegenteil, sie seien bis zu Bundesrichtern aufgestiegen, hätten die Rechtsprechung in ihrem Sinne prägen und damit ihre eigene Strafverfolgung verhindern können. Für den weißhaarigen alten Mann ist der Kampf noch nicht zu Ende. Er möchte erreichen, dass Gedenksteine für Deserteure aufgestellt werden, zum Beispiel in Esterwegen und Torgau. „Wir Deserteure der Wehrmacht“, sagt der 81-Jährige, „sollten eigentlich Vorbilder für die Bundeswehr sein. Wollte sie heute einen Krieg wie die Wehrmacht führen, wären die Soldaten von der Verfassung her gezwungen, zu desertieren.“
Kaum Asyl für Deserteure
Das türkische Militär kam fast täglich ins Dorf. Panzer fuhren auf, Soldaten griffen Zivilisten heraus, schlugen sie, drohten ihnen, nahmen sie mit. Grund der Einsätze: die angebliche Unterstützung der Dorfbewohner für die kurdische Unabhängigkeitsbewegung PKK. Für den Kurden Ilhami Akter gehören diese Bilder zu den letzten Erinnerungen, die er an sein Heimatdorf im Osten der Türkei hat. Für ihn, damals 18 Jahre alt, war klar: „Ich will niemals Soldat werden.“ Schließlich wäre er mit dem türkischen Militär gegen seine Landsleute eingesetzt worden.
Mit Unterstützung der Eltern floh er 1989. Akter (31) lebt seitdem in Hamburg, zeitweise illegal, seit 1995 mit Aufenthaltserlaubnis. Ein Recht auf Kriegsdienstverweigerung gab es im NATO-Staat Türkei damals wie heute nicht. In Deutschland hat das Recht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen Verfassungsrang. Doch in vielen Staaten wie in Israel, Südkorea oder in den meisten afrikanischen Ländern droht Verweigerern Haft, so die Organisation War Resisters International. Andere Staaten wissen, wie sie „Zivis“ abschrecken. In Russland etwa müssen sie einen Dienst ableisten, der mit dreieinhalb Jahren fast doppelt so lang ist wie der Militärdienst und meist in Kasernen stattfindet, wo sie den Schikanen der Soldaten ausgesetzt sind.
Wer aus diesen Gründen sein Land verlässt, wie Ilhami Akter es getan hat, findet in Deutschland nicht unbedingt Asyl. „Das Bundesamt weigert sich, Kriegsdienstverweigerer und Deserteure als Flüchtlinge anzuerkennen“, sagt der Anwalt Hartmut Jacobi, der viele Verfahren begleitet hat. Vor dem Verwaltungsgericht seien die Chancen höher. Jacobis Resümee: „Ausländische Kriegsdienstverweigerer können sich hier keineswegs sicher fühlen. Wenn sie Glück haben, haben sie Glück.“
Ilhami Akter hatte Glück, schließlich. Sein erster Asylantrag war abgelehnt worden. Vier Monate lang hielt er sich illegal in Hamburg auf, bis ihn die Polizei bei einer Ausweiskontrolle festnahm. In der Ausländerbehörde wollte er sich aus dem Fenster stürzen, um der Abschiebung zu entgehen, doch dann gelang ihm die Flucht. Er tauchte monatelang unter, war im Kirchenasyl, stellte einen Folgeantrag. Seit November 1995 ist er anerkannt – er selbst vermutet, wegen seiner Arbeit für kurdische Verweigerer – und darf unbefristet bleiben. Er machte den Hauptschulabschluss und verdient sein Geld als Taxifahrer. Das Dorf, in dem seine Eltern noch leben, hat er nicht mehr wiedergesehen.
Detlev Brockes