Nachtschicht
Wenn andere schlafen oder feiern, gehen sie zur Arbeit
(aus Hinz&Kunzt 121/März 2003 – Die Jugendausgabe)
22.20 Uhr
Flughafen – Terminal 4 – Gepäckermittlung
Seit 15 Uhr sitzt sie schon am Schalter. Nele spürt ihr Blut in den Adern pochen. Wenn sie Kopfschmerzen hat wie heute, findet sie das Licht unerträglich.
In der Gepäckhalle herrscht die Ruhe vor dem Sturm. Zwei Reinigungskräfte verputzen schwatzend ihre mitgebrachten Stullen. Ihr Lachen hallt durch den leeren Raum. Die Drehtür wird in Bewegung gesetzt. Im Nu wird die Stille von Gemurmel und Gemecker und klappernden Absätzen übertönt. Nele greift nach dem Stift und streicht den nächsten Flug auf der Liste durch. „Das ist meine kleine Neurose. Besonders abends, wenn nicht mehr viel zu tun ist.“ Ein sichtlich überforderter älterer Herr steht vor dem Tresen der Gepäckermittlung. „Mein Gepäck ist nicht aus Amsterdam angekommen!“ Nele lächelt. „Das kriegen wir schon wieder hin. Mit welcher Fluggesellschaft reisen Sie?“
Von ihren Kopfschmerzen ist nichts zu merken. Die 25-Jährige hat sich mit ihrer Aufgabe im Bereich Gepäckermittlung arrangiert: Verluste und Schadensfälle und damit genervte Fluggäste gehören zur Tagesordnung. „Hier kommt keiner, um sich für seinen schönen Flug zu bedanken.“ Schon gar nicht tagsüber, wenn die gestressten Geschäftsleute mit ihren nervtötenden Handys durch die Halle rasen. Das ist ein positiver Aspekt der Spätschicht. Doch Nele ist dafür momentan nicht zu begeistern. Gähnend blickt sie auf die Uhr.
„Normalerweise gehe ich um diese Zeit ins Bett. Hier kann ich nicht schon mal meine Pyjamahose anziehen.“ Um Mitternacht ist ihr Arbeitstag voraussichtlich zu Ende, bei verspäteten Maschinen erst eine Stunde später. Der Flughafen wirkt dann wie ausgestorben. „Wir haben dann alles für uns. Manchmal singen und steppen wir über die Pier.“
0.47 Uhr
St. Pauli – Nightcruiser
180 Beats per Minute wummern aus den Boxen. Tausend kleine Lämpchen blinken im Takt der Techno-Sounds. Im Bus ist kein Sitzplatz mehr frei, doch die meisten kümmert es wenig. Sie drängen sich im hinteren Teil des Busses und wippen mit den Beats. Dort ist die Musik am lautesten. Und dort steht die Bar. Viele sind Stammgäste, kennen sich gegenseitig und kennen Ronny, den Busfahrer. Sechsmal fährt er heute die Tour von den Lan-dungsbrücken über den Kiez bis zum Rathausmarkt.
„Ich hab Spaß an meiner Arbeit“, schwärmt Ronny und legt eine neue CD ein. Die Musik für den Bus hat er selbst zusammengestellt. Seit der Geburtsstunde des Nightcruisers vor drei Jahren sitzt der „Hobby-DJ auf Rädern“ Freitag und Samstag nachts hinter dem Steuerrad. „Das ist ein ganz anderes Busfahren. Es sind jüngere Leute im Bus, man lernt sich viel besser kennen!“
Der blinkende Bus rollt durch die leeren Straßen. Keine Staus, keine Autoschlangen vor roten Ampeln, nur ein paar Taxis sausen durch die Innenstadt. Innerhalb der Woche arbeitet der 32-Jährige mittlerweile auch nur noch in der Spätschicht. „Ich bin nicht so der Typ, der gern früh aufsteht!“ Dreieinhalb Runden hat er noch abzufahren, dann geht es zum Betriebshof. Manchmal ist er dann froh, dass alles vorbei ist, dass er seine Ruhe und seinen Schlaf haben kann. Ans Aufhören wird er jedoch nie denken.
3.37 Uhr
Lerchenstr. 82 – Polizeikommissariat 16
Stille auf der Wache. Die grauen Vorhänge sind zugezogen, die Kollegen sind fast alle auf Streife, das Telefon steht still. „It’s like raiaaaain…“, seufzt Alanis Morissette durch das Radio. „Meldung an PK 16“ tönt es plötzlich über den Polizeifunk. Im Nu schiebt sich Sandra auf ihrem blauen Drehstuhl gen Schreibtisch und drückt einen der vielen Knöpfe vor sich. „16 hört“, antwortet sie. „Wir brauchen zwei Abschlepper in die Bernstorffstraße“, meldet ihr Gegenüber. Die 23-Jährige ist heute für den Dienst auf der Wache eingeteilt worden. Lieber fährt sie jedoch im Streifenwagen mit, „da vergeht die Zeit schneller.“ Diese Nacht gab es viele Ruhestörungen, zwei Vermisstenanzeigen und eine Anzeige wegen Einbruchs.
Heute ist eine ruhige Nacht. Für Sandra kein Grund zur Müdigkeit. „Ich bin eher ein Nachtmensch. Außerdem habe ich ja nicht jeden Tag Nachtdienst. Das geht schon“, sagt sie lächelnd. Sandra hat ihre dreijährige Ausbildung zur Polizistin im gehobenen Dienst im April abgeschlossen. Der Schichtdienst hat sie dabei nie gestört. „Das wäre der letzte Grund gewesen, warum ich nicht zur Polizei gegangen wäre.“
5.22 Uhr
Hafen – Fischmarkt
Früher hat er mal Pizza verkauft. Seit acht Monaten hat Kambiz andere Arbeitszeiten. Heute ist er um 2 Uhr in Berne losgefahren. Zwei Stunden später hat er angefangen, den Fisch am Tresen auszulegen. An die Nachtarbeit hat Kambiz sich gewöhnt. „Für Geld mache ich alles!“, sagt er augenzwinkernd. Seine großen, orangefarbenen Handschuhe greifen in eine Styropor-Schachtel mit der Aufschrift „Tip-Top Fiske Industri Denmark“.
Jede Scholle wird fein säuberlich einzeln auf dem Fischstapel ausgebreitet. „Kommse her, kommse ran“, schreit der gebürtige Iraner in perfektem Hamburgisch den ersten Marktbesuchern zu. Ihm ist nicht anzumerken, dass er die Nacht durchgemacht hat. Beim Arbeiten wird er eigentlich nie müde. „Der Fischmarkt ist das Beste“, schwärmt er, während er Deko-Plastikobst auf die ausgebreiteten Meeresfrüchte plumpsen lässt. „Da kann man Scherze machen, Leute kennen lernen…, es sind auch schöne Chicas hier.“ Für die weibliche Welt hat der 27-Jährige ohnehin viel übrig. Wenn er mal wieder unpünktlich zum Dienst erscheint, hat er entweder die Bahn verpasst oder aber eine Frau kennen gelernt.