„Leben könnte ich in Deutschland nicht“

(aus Hinz&Kunzt 208/Juni 2010)

Lucille Eichengreen verlor während des Holocaust ihre Familie und kämpfte um ihr Leben. Immer wieder kehrt sie in ihre Geburtsstadt Hamburg zurück, um davon zu berichten.

Die Frage kommt jedes Mal: Ob sie den Deutschen eigentlich vergeben kann? Ob sie ihnen verziehen habe? Lucille Eichengreen schaut dann stets geradeaus, bevor sie antwortet. Lucille Eichengreen hat Deutschland im März 1946 verlassen und ist in die USA ausgewandert, lebt in Kalifornien. Sie ist heute in Hamburg, um einer Schulklasse der Max-Brauer-Gesamtschule von ihrem Leben zu erzählen. Ein Leben, das in Hamburg begann, am 1. Februar 1925.
Sie wächst als Kind jüdischer Eltern in gutbürgerlichen Verhältnissen auf, in einer großen Wohnung in der Straße Hohe Weide in Eimsbüttel. Ihr Vater hat ganz in der Nähe in der Lindenallee einen Weinhandel, Import-Export. Regelmäßig fährt die Familie im Sommer in die Sommerfrische an die See. Ein Hausmädchen kümmert sich um die Kinder, die reiten lernen und Tennis- und Musikunterricht erhalten.
Doch als die Nazis im Januar 1933 an die Macht kommen, spürt die Familie schnell, dass sich ihr Leben ändern wird: Lucille, das Mädchen, das noch eben unbeschwert im Hinterhof spielen konnte, wird nun als „Drecksjüdin“ beschimpft – auch von den Kindern, die im selben Haus wohnen: „Wir waren ganz gut befreundet und plötzlich wurde mit uns nicht mehr gesprochen. Und wenn ich ‚Guten Morgen‘ gesagt habe, war ‚Heil Hitler‘ die Antwort.“

Zur Schule geht sie in der Karolinenstraße; in die private Israelitische Töchterschule. Bald darf sie als Jüdin kein Freibad mehr besuchen, nicht mehr ins Kino gehen. Die Lehrer ermahnen ihre Schülerinnen, sich unauffällig zu benehmen: „Wir sollten eigentlich unsichtbar sein.“ Das bleibt nicht ohne Folgen: „Meine Noten wurden schlechter, ich konnte mich nicht mehr konzentrieren. Ich begann häufig ohne Anlass zu weinen.“ Das ist erst der Anfang.

Es ist der 10. November 1938, sie biegt in die Rentzelstraße ein, will über die Eisenbahnbrücke ins Karolinenviertel zu ihrer Schule gehen, da bemerkt sie den Brandgeruch. Sieht, wie vor der niedergebrannten Synagoge am Bornplatz Leute stehen, sich unterhalten und laut lachen. Hört daheim, wie die Erwachsenen voller Panik durcheinander reden; sich erzählen, wohin man die verhafteten Männer verschleppt hat.

Verzweifelt versucht der Vater Ausreisepapiere zu bekommen: „Unser Leben war ein Albtraum. Wir lebten in ständiger Angst“, erzählt Lucille Eichengreen. Sie müssen in immer kleinere Wohnungen umziehen und sich den weniger werdenden Platz mit immer mehr Menschen teilen. Konten und Sparbücher sind gesperrt, nur gelegentlich dürfen sie Geld abheben. Der Betrieb des Vaters ist längst beschlagnahmt.

Am ersten Tag des Krieges wird ihr Vater von der Gestapo verhaftet und ins Gefängnis Fuhlsbüttel gesteckt. Nur einmal dürfen sie und ihre Mutter ihn im Stadthaus in der Innenstadt besuchen. Sie dürfen ihn nicht umarmen, sie dürfen ihm nicht einmal die Hand reichen. Er kommt ins KZ Oranienburg, dann nach Dachau. In unregelmäßigen Abständen erreichen sie Briefe mit dem immer gleichen Inhalt: „Mir geht es gut. Ich liebe euch sehr.“ Im Februar 1941 kommen zwei Männer von der Gestapo und überreichen ihrer Mutter einen Pappkarton mit der Asche ihres Mannes.

Im Oktober sind sie an der Reihe: Die Familie muss sich am Dammtor-Bahnhof einfinden, zusammen mit Juden aus ganz Hamburg. Die Menschen werden auf Lastwagen geladen, es geht zum Hannoverschen Bahnhof, ein Güterbahnhof im Schatten des Hauptbahnhofes. Von hier aus werden bis zum Februar 1945 mehr als 7600 Menschen in die Lager in Polen und im Baltikum deportiert: Juden und Roma und Sinti; alles Hamburger Bürger. Nach Fahrplan, ordentlich mit Kelle und Pfeife von Hamburger Bahnbeamten abgefertigt.
Lucille kommt mit ihrer Mutter und ihrer jüngeren Schwester ins Getto nach Lodz, muss dort hart arbeiten. Die Bedingungen sind unmenschlich: „In drei Jahren habe ich keine Milch gesehen. Kein Ei, wenig Zucker. Und wenn man Essen bekam, hat man es meistens in zwei Tagen aufgegessen. Es musste aber für sieben, acht Tage reichen.“ Ihre Mutter und ihre Schwester überleben das nicht.

Es ist jetzt sehr still in der Klasse. Selbst die, die eben noch auf ihr Handy geschaut haben, blicken nun nach vorne, wo Lucille Eichengreen erzählt, wie sie von Lodz nach Auschwitz und von dort zurück nach Hamburg kam, in ein Lager im Hamburger Freihafen. „Für einen Moment dachte ich: Jetzt wird es mir leichter gehen. Aber es war nur ein Traum. Wir haben bei Blohm & Voss gearbeitet, bei der Deutschen Werft.“ Sie müssen die Bombenschäden an den Werftanlagen reparieren, mit bloßen Händen Stahlträger bergen. Sie kommt in noch ein weiteres Lager, nach Sasel, im Nordosten von Hamburg, wird dort auch im Büro eingesetzt: „Denn ich konnte deutsch sprechen, die anderen Häftlinge haben nur polnisch gesprochen. Ich habe mir die 40 SS-Leute, die dort gearbeitet haben, alle Hamburger, gemerkt. Ich habe ihre Namen öfter aufschreiben müssen, es gab keine Schreibmaschine. Wozu ich mir die Namen gemerkt habe, wusste ich nicht.“

Doch sie wird es wieder wissen, als sie nach Kriegsende für die Briten als Übersetzerin arbeitet und sich plötzlich an die Namen erinnert: Die Männer werden verhaftet und in Celle vor Gericht gestellt. Lucille Eichengreen ist als Zeugin geladen. Abends, wenn sie nach dem Prozess in ihr Zimmer zurückkehrt, findet sie unter der Tür kleine Zettel vor: „Wir werden dich finden, wir werden dich umbringen“, steht da­rauf. Und sie beschließt, Deutschland zu verlassen: „Ich kam nach Amerika, wo eine Schulfreundin von mir lebte. Ich habe geheiratet und nach und nach habe ich ein neues Leben begonnen“, beschließt sie ihren Vortrag.

Nun ist es an den Schülern zu fragen. Und sie fragen: Wie schlecht sie in der Schule wurde und wie sie das als Erwachsene nachgeholt hat. Wie sie das alles ausgehalten hat, die ständige Angst um ihr Leben, den Hunger, die Kälte. Auch auf die Frage einer Schülerin geht sie ein, wie das war, als sie im Getto im Totenhaus zwischen all den bis zur Decke gestapelten Toten ihre Mutter entdeckte, und wie sie sie beerdigt hat.

Und wie ist das nun mit dem Verzeihen? „Nein“, kurz und knapp kommt es über ihre Lippen: „Es gibt bei mir weder Versöhnung noch Verzeihen.“ Macht dann eine Pause, um das Thema der Entschädigung anzuschneiden. Abgesehen davon, dass man niemanden für den Tod seiner Eltern und seiner Schwester, für jahrelange Todesangst entschädigen kann, lässt sie eine Zahl sprechen: 2000 Euro hat sie als sogenannte Entschädigung bekommen, für drei Jahre Schuften im Getto, Tag für Tag, 12 bis 14 Stunden.

Wie viele Überlebende hat Lucille Eichengreen lange gezögert, Hamburg wieder zu besuchen. Erst 1991 war es soweit, 50 Jahre, nachdem ihre Odyssee durch die Lager begann. Wie es ihr heute in Hamburg ergehe, will ein Schüler wissen. „Am Anfang war es schlimm“, sagt sie. „Aber seit ich vor Studenten spreche und in Schulen gehe, wird es leichter.“ Jüngst hat sie dafür, dass sie trotz allem Erlittenen immer wieder Schulklassen besucht, die Ehrenmedaille der Stadt Hamburg bekommen. Aber das ändert nichts an ihrer distanzierten Haltung gegenüber den Deutschen, den Hamburgern. Die haben sich schließlich nicht mal große Mühe gegeben, die Verbrechen des Nationalsozialismus aufzuarbeiten. Sie kommt noch mal auf den Prozess gegen ihre letzten Peiniger zurück, die SS-Männer im Saseler Lager: „Die meisten haben nur kurze Gefängnisstrafen bekommen, nur der Kommandant hat 20 Jahre bekommen. Die Wachmannschaften sind dann später zum Zoll und zur Post gegangen. Sie haben weitergearbeitet und später eine gute Pension bekommen, und die Sache war vergessen.“ Zum Abschluss sagt Lucille Eichengreen: „Es ist schwierig, aber ich komme. Doch leben könnte ich in Deutschland nicht.“

Text: Frank Keil

Tippelbruder in der Nazizeit

„Landstreicher“ wie der Hamburger Fritz Eichler lebten gefährlich im „Dritten Reich“. Seine Geschichte erschien im Juni 1994 in Hinz&Kunzt zum ersten Mal.

(aus Hinz&Kunzt 186/August 2008)

Wohnen auf dem Pulverfass

Wo früher eine Munitionsfabrik war, ist heute eine friedliche Siedlung: Ortstermin in Schenefeld

(aus Hinz&Kunzt 148/Juni 2005)

Vielleicht doch aus der Stadt rausziehen? Nicht gleich aufs Land, aber an den Rand, wo es gemächlicher zugeht? Nach Schenefeld etwa, Rückzugsgebiet für Hamburger, die sich ein eigenes Häuschen gönnen und doch nicht zu fern der Großstadt sein wollen. Ein Schild weist den Weg zur Siedlung Schenefeld. Altonaer Chaussee, Gorch-Fock-Straße, Friedrich-Ebert-Allee, sofort wird es beschaulich. Es summt in der Luft. Und wo ist hier die Siedlung?

KZ-Häftling 3105

Der Sinto Walter Winter überlebte Auschwitz

(aus Hinz&Kunzt 131/Januar 2004)

Fast alle 1000 Hamburger Sinti und Roma wurden im Nationalsozialismus deportiert. Daran erinnert eine Ausstellung in der Finanzbehörde. Einer der Überlebenden, dessen Lebensgeschichte in der Ausstellung zu sehen ist, ist der Schausteller Walter Winter.

Manchmal schreckt Walter Winter nachts aus dem Schlaf. Dann lebt er wieder in den Jahren 1943, 1944, 1945, als er in Auschwitz-Birkenau, Ravensbrück und Sachsenhausen inhaftiert war. „Ich habe das alles nur geträumt“, versucht sich der 85-jährige Sinto dann selbst zu beruhigen. „Das kann gar nicht wahr sein.“ Aber morgens, wenn er richtig wach ist, weiß er es wieder. Alle Schikanen, Demütigungen, Schläge und Morde sind passiert.

Je älter er wird, desto mehr bedrängen ihn die Bilder und Erlebnisse. Auch Erlebnisse, die andere vielleicht vergleichsweise harmlos finden. Die Entlausung etwa. Erst die kahlgeschorenen Frauen, dann die Männer. Aber wenn keine Zeit war, wurden die Männer schon mal in die Baracken getrieben, wenn die Frauen noch drin waren. „Alte Frauen, junge – alle standen sie da, nackt. Einige kannte ich sogar“, sagt Walter Winter. „Es war so entwürdigend.“

Den letzten Rest Würde bewahren – das versuchten die Häftlinge, auch wenn es meist ein aussichtsloser Kampf war. Winter, der Blockschreiber, notierte akribisch, wer in der Nacht wieder gestorben war. 15, 20 Menschen waren das manchmal. „Ich wollte, dass man wenigstens erfährt, wo wir geblieben sind, wenn alles vorbei ist.“ Und er wollte „seine“ Leute beschützen. Wenn beispielsweise wieder „Läufer“ kamen, so hießen Gefangene im Dienste der Nazis, die für die SS-Männer Frauen suchen sollten. Er schaffte es, aus seinem Block keine auszuliefern. „Nie habe ich deshalb Ärger bekommen“, sagt er. Und wenn doch? Winter zuckt mit den Schultern. „Ich habe sowieso nicht gedacht, dass ich diese Zeit überleben würde“, sagt er.

Mehrfach hatte er mit dem Leben abgeschlossen. Zum Beispiel, als er erschossen werden sollte. Zwei Männer waren in die Baracke der Sinti gelaufen und hatten sich dort versteckt, ein Aufseher hinterher. Der Aufseher fragte, wer die Männer gewesen seien. „Ich hatte wirklich niemanden gesehen“, sagt Winter. Da griff sich der Mann wahllos zehn Sinti. „Wenn derjenige nicht sofort vortritt…“ Mehr brauchte er nicht zu sagen. Ein Jude stellte sich. Der zweite war abgehauen oder untergetaucht. Als „Ersatzmann“ nahm der Aufseher Winter mit. Draußen knallte er den Juden ab. „Das war’s, dachte ich“, sagt Winter. „Vor meinem geistigen Auge lief mein Leben wie ein Film ab.“ Aber dann nahm der Mann seine Pistole runter und sagte nur: „Hau ab.“

Später wurde Winter zum Dienst im Krematorium eingeteilt. Er wusste, die Menschen, die dort arbeiten, werden spätestens nach drei Monaten selbst vergast. Winter hatte schon Furchtbares vom Krematorium gehört: So viele Menschen wurden nach der Vergasung dort verbrannt, dass die Schornsteine barsten und Eisenringe sie stützen mussten. Trotzdem war er nicht darauf gefasst, was ihn erwartete. „Es lagen Berge von Toten dort, starr und ineinander verkrampft. Wir mussten sie auseinander zerren und wegschaffen.“ Aber die Leichen ließen sich nicht trennen. „Plötzlich fiel mir auf, dass in der Ecke eine Axt stand“, sagt Winter. Er fragte noch, was denn die Axt hier zu suchen habe – und wusste es noch im selben Moment. An diesem Abend beschloss er, nie wieder ins Krematorium zurückzukehren, komme, was da wolle. Und wie durch ein Wunder wurde er dort auch nicht vermisst.

Eine seiner schmerzlichsten Erinnerungen ist der Tod seiner Freundin. Vor Winters Baracke standen SS-Männer, er hörte, dass sie gleich kommen wollten. Da sprang seine hochschwangere Freundin durchs Fenster herein – was eigentlich streng verboten war. Walter Winter war verzweifelt. Wenn sie die Frau hier fänden, müssten bestimmt mehrere dran glauben. Er versuchte, seine Freundin von sich wegzureißen. „Aber sie weinte und klammerte sich an mich.“

Gerade noch rechtzeitig schaffte er es, sie – fast grob – aus dem Fenster zu bugsieren. „Es war das letzte Mal, dass ich sie gesehen habe“, sagt Walter Winter leise. Ein paar Tage später wurde ihr Kind geboren und starb, wieder ein paar Tage später verblutete seine Freundin.

Winter und sein Bruder Erich schworen sich, dass sie – falls es sie erwischen würde – wenigstens versuchen würden, „einige von diesen Mördern mitzunehmen“. So wie jene französische Schauspielerin, die bei ihnen im Lager war. Sie sollte sich vor den Schergen nackt ausziehen – es war klar, was die Männer vor ihrer Vergasung mit ihr vorhatten. Da riss sie einem Bewacher die Pistole aus dem Halfter und schoß.

Der Albtraum ist für Winter auch jetzt, Jahrzehnte später, nicht vorbei. Der Nationalsozialismus und die Verfolgung waren unfass-bar grausam, aber Außenseiter waren die Sinti schon vor den Nazis – und danach auch. In den zwanziger Jahren fuhr seine Familie – fünf Brüder, fünf Schwestern und die Eltern – in Norddeutschland zwischen Leer und Oldenburg als Pferdehändler und Artisten umher. Wenn die Winters wieder mal von einem Markt zum anderen zogen, gab’s Begleitung. Gendarmen ritten neben dem Pferdewagen her. „Damit uns auch ja nichts passieren konnte“, sagt Walter Winter ironisch. In Wirklichkeit natürlich, um die Sintis zu observieren. Und um sicherzugehen, dass sie auch nach dem Markt schnell wieder verschwanden und sich nicht in dem Ort „festsetzten“.

Alle paar Tage gingen die Kinder in eine andere Schule, dann ging’s wieder weiter. Die Mitschüler waren teils neugierig auf die „Zigeunerkinder“, teils misstrauisch. Oft endete der kurze Kontakt mit einer Schlägerei auf dem Schulhof. Trotzdem gab es Annäherungen. In Oldenburg und Cloppenburg, wo die Familie länger lebte, waren Walter und sein Bruder Mitglied im Fußballverein. Doch nach dem Krieg stellte sich heraus, dass die Namen der Winters im Fußballverein gelöscht worden waren, ebenso der Name eines jüdischen Sportfreundes.

1933 verschärfte sich die Situation. Walter Winters Vater beschloss, Schausteller zu werden: „Wir müssen uns unters Volk mischen“, sagte er zu seiner Familie. Es war zu gefährlich geworden, allein oder mit anderen aus der Sippe über Land zu fahren. Die Familie kaufte eine Schießbude für den Jahrmarkt. Aber auch hier waren die Winters nicht sicher. „Auf einmal tauchten so auffällig unauffällige Männer auf“, sagt Winter. Gestapo. Die gingen zwischen den Buden längs und guckten, wer „fremdländisch“ aussieht.

Das Netz zog sich dichter zusammen. 1935/36 – die Familie war gerade in Oldenburg – kamen wieder Beamte und nahmen Vater und Mutter mit. Danach die Kinder. Von allen Seiten wurden sie für die Kartei fotografiert und registriert. „Wie Schwerverbrecher“, sagt Winter. „Obwohl wir nichts getan hatten.“ Trotzdem erhielt er seinen Gestellungsbefehl und kam im Januar 1940 zur Wehrmacht. Zwei Jahre diente Walter. Dann wurde er entlassen, eben weil er „Zigeuner“ war.

1943 wurden er, sein älterer Bruder Erich, der auch ehemaliger Wehrmachtssoldat war, und seine Schwester Marie nach Auschwitz deportiert. Alle drei überlebten und kehrten zu ihrer Familie zurück. In Vechta, wo die Winters die Erlaubnis holen mussten, ein Varieté zu gründen, saß nach dem Krieg noch derselbe Bürgermeister, der für die Deportationen der Familie mitverantwortlich war. Er verweigerte den Winters die Genehmigung. Sie sollten sich erst mal entnazifizieren lassen, sagte er. Walter Winter, der auf dem Arm die KZ-Häftlingsnummer 3105 trägt, war fassungslos.

Auch heute noch spürt Walter Winter, der seit 1952 mit seiner Frau und seinen Kindern in Hamburg und seit 27 Jahren in St. Pauli lebt, oft die Zurückhaltung gegenüber seiner Herkunft. „Wenn ich sage, dass ich Sinto bin, rücken viele, die mich vorher unbefangen behandelt haben, von mir ab.“

Der Hass ist milder geworden, aber die Wut ist noch da. Dann setzt er sich vehement gegen die Leute zur Wehr, die heute noch abwertend von „Zigeunern“ reden oder mit anderen Worten das Gleiche meinen – und vor allem: gegen die, die glauben, dass man die Vergangenheit ruhen lassen sollte. Aber Walter Winter ist keiner, der verletzen will, er will nur nicht vergessen – und vergessen werden. Und er will nicht, dass die Roma und Sinti Außenseiter in dieser Gesellschaft bleiben. Einer Gesellschaft, in der er sich gerne heimisch gefühlt hätte

Birgit Müller