Meldungen: Politik und Soziales

(aus Hinz&Kunzt 210/August 2010)

Notunterkünfte vollkommen überfüllt
Die städtischen Notschlafstellen Pik As (für Männer, 190 Plätze) und Frauenzimmer (für Frauen, 20 Plätze) sind völlig überlastet. Die Einrichtungen waren im Mai zu 101 (Pik As) beziehungsweise 125 Prozent (Frauenzimmer) belegt; im Juni zu 93 Prozent und 120 Prozent, so die Sozialbehörde auf Nachfrage von Hinz&Kunzt. Zahlen für den Juli lägen nicht vor. Weil die Notunterkünfte keinen Hilfesuchenden abweisen dürfen, werden bei Bedarf zusätzlich Doppelstockbetten aufgestellt oder Matratzen ausgelegt. Die Behörde begründet die hohe Belegung mit Schwierigkeiten bei der Vermittlung in ständige Unterkünfte. Diese wiederum seien stark belegt, weil die Vermittlung in passenden Wohnraum nicht gelingt: Es gibt schlicht zu wenig kleine, günstige Wohnungen. BEB

Unnötiger Wohnungsleerstand
Der Verein Mieter helfen Mietern wirft der Stadt vor, zu wenig gegen den Leerstand von Wohnraum zu tun. Allein im Schanzenviertel und Umgebung stünden 39 Wohnungen leer, teils länger als ein Jahr, ohne Eingriff des Bezirksamts. Die Mieterschützer fordern mehr Druck auf die Eigentümer und dass Wohnungen wegen Baumaßnahmen nicht unbegrenzt leer stehen dürfen. UJO

Abzock-Vermieter: Senat verweigert Auskünfte
Der Senat will weiterhin nicht erklären, warum die Behörden monatelang nichts gegen Abzock-Vermieter wie Thorsten Kuhlmann unternommen haben. Antworten auf eine SPD-Bürgerschaftsanfrage verweigerte die Regierung Mitte Juli mit dem Hinweis: „Neben Geschäftsgeheimnissen des Vermieters Kuhlmann und anderen Vermietern sind auch Sozialdaten der Mieter betroffen.“ Im Oktober 2009 hatte Hinz&Kunzt erstmals berichtet. Der Sozialbehörde sei damals „die generelle Problematik bekannt geworden“, so der Senat. Im Mai 2010 – sieben Monate später – habe die Arge mitgeteilt, „dass in 107 Fällen Mietbetrug oder der Verdacht auf Mietbetrug besteht“. Was die Sozialbehörde unternommen hat, um den Missbrauch von Steuergeldern zu stoppen, erklärte der Senat nicht. UJO

Arbeitslose als „Bürgerarbeiter“
34.000 Langzeitarbeitslose in Deutschland sollen künftig sogenannte Bürgerarbeit leisten. An einer sechsmonatigen „Aktivierungsphase“ nehmen derzeit rund 160.000 Arbeitslose teil, die von den Ämtern intensiv bei der Stellensuche unterstützt werden sollen. Knapp ein Viertel der Auserwählten soll ab Januar 2011 für drei Jahre eine gemeinnützige Beschäftigung erhalten. Im Gegensatz zu Ein-Euro-Jobs sind die Stellen sozialversicherungspflichtig. In Hamburg nehmen 685 Personen an der Vorauswahl teil, 188 sollen später Bürgerarbeit leisten. Unter allen 16 Bundesländern stellt Hamburg mit Abstand die wenigsten Plätze. Ein vergleichbares Bundes-Programm heißt „Jobperspektive“ und läuft seit rund zwei Jahren. Problem: Viele Arbeitslose wollen mitmachen, doch es gibt nur wenige geförderte Stellen. BEB

Brandanschlag auf Wohnunterkunft
Ein 17-Jähriger hat gestanden, Anfang Juli einen Molotow-Cocktail auf eine Obdachlosenunterkunft in Velbert (Nordrhein-Westfalen) geworfen zu haben. Er habe Streit mit Hausbewohnern gehabt und sie erschrecken wollen. Weil ein Bewohner das Feuer sofort löschte, wurde niemand verletzt. Der Jugendliche ist laut Polizei psychisch labil und in Betreuung.  BEB

Arm trotz Arbeit
1,3 Millionen Erwerbstätige in Deutschland, darunter eine halbe Million Vollzeitbeschäftigte, können laut Deutschem Gewerkschaftsbund von ihrer Arbeit allein nicht leben und sind auf Sozialleistungen angewiesen. Mittlerweile liege der Anteil der sogenannten Aufstocker unter den Hartz-IV-Empfängern bei 21 Prozent.  BEB

Arm trotz Rente
Fast 18.000 Hamburger über 64 Jahre haben Ende 2009 Leistungen zur Grundsicherung erhalten. Das waren zwei Prozent mehr als im Vorjahr. Im Vergleich zu 2004 ist die Zahl um 42 Prozent gestiegen. 70 Prozent bezogen die Hilfe ergänzend zur Rente.  BEB

Gericht: Lohndumping ist Straftat
Erstmals hat ein deutsches Gericht die Zahlung von Dumpinglöhnen als Straftat und nicht als Ordnungswidrigkeit bewertet. Das Landgericht Magdeburg verurteilte einen Reinigungsunternehmer zu 1000 Euro Strafe, weil er Beschäftigten statt des verbind­­lichen Mindestlohns von damals 7,68 Euro Stundenlöhne von zum Teil unter einem Euro bezahlt hatte. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig (21 Ns 17/09).  UJO

Videoüberwachter Kiez: mehr Straftaten?
Die Videoüberwachung auf der Reeperbahn senkt laut Innenbehörde nicht die Zahl der Straftaten dort. Die erfassten Delikte stiegen im dritten Jahr seit Montage der Kameras um 32 Prozent gegenüber dem Jahr vor der Überwachung, Körperverletzungen sogar um 75 Prozent. Innensenator Christoph Ahlhaus (CDU) erklärte den statistischen Anstieg: „Das liegt daran, dass wir genauer hinsehen.“ BEB

Urteile zum Tod von Lara Mia
Im Prozess um den Tod der im Alter von neun Monaten verstorbenen Lara Mia hat das Landgericht Hamburg die 19-jährige Mutter nach Jugendstrafrecht zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt. Ihr damaliger Freund bekam eine Jugendstrafe von neun Monaten auf Bewährung. Weil ein plötzlicher Kindstod nicht ausgeschlossen werden konnte, erklärten die Richter die beiden nur der gefährlichen Körperverletzung und Verletzung der Fürsorgepflicht für schuldig, die Mutter auch der Misshandlung einer Schutzbefohlenen. Lara Mia war Anfang 2009 tot aufgefunden worden, zum Zeitpunkt des Todes war sie deutlich unterernährt.  HAN

23 Euro pro Kind im Monat mehr
480 Millionen Euro will die Bundesregierung kommendes Jahr bereitstellen, um Kinder von Hartz-IV-Empfängern besser zu fördern. Mit dem Geld sollen etwa Nachhilfeunterricht oder die Teilnahme an Musik- und Sportveran­staltungen finanziert werden, so Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU). Das Bundesverfassungsgericht hatte im Februar die aktuelle Berechnung der Hartz-IV-Regelsätze für Kinder verworfen. Sie betragen zurzeit je nach Alter zwischen 60 und 80 Prozent der Regelsätze für Erwachsene. Der Paritätische Wohlfahrtsverband hält mindestens 1,5 Milliarden Euro für nötig, um dem Urteil gerecht zu werden.  UJO

Mindestlohn in der Pflege!

Landespastorin Annegrethe Stoltenberg und Finanzvorstand Stefan Rehm vom Diakonischen Werk Hamburg über die Not diakonischer Betriebe und die Bezahlung in der Pflegebranche

(aus Hinz&Kunzt 184/Juni 2008)

H&K: Das Fernsehmagazin „Report“ berichtete kürzlich über eine alleinerziehende Mutter zweier Kinder, die als Mitarbeiterin eines diakonischen Pflegeheims in Berlin so wenig Lohn bekommt, dass sie ergänzend Hartz IV beziehen muss. Gibt es solche Fälle auch in Hamburg?

Die Pfandfrauen

Wie Zeitarbeiterinnen sich durchschlagen

(aus Hinz&Kunzt 130/Dezember 2003)

„Pfandfrauen? – 25-Cent-Weiber wär’ besser“, sagt Gabi Heinrich (Name geändert) und lacht das erste Mal. Ein halbes Dutzend weiß bekittelter Frauen lungert in einem schmalen Flur. Sie warten. Auf Arbeit. Für 5,20 Euro pro Stunde sortieren sie Pfandgut am Fließband. Zeitarbeiterinnen.

Die einfache Halle in einem Hamburger Industriegebiet ist kalt und kameraüberwacht. Keine Dose verlässt unbemerkt das Gelände. Diebstahl wird mit sofortiger Entlassung geahndet. Und nicht nur der eigene Arbeitsplatz ist dann futsch, auch die der anderen hätte die Übeltäterin auf dem Gewissen. So zumindest stellt es der Schichtleiter dar, zeigt auf die Kameras. Alle Köpfe folgen seinem Finger wie dem Tennisball beim spannenden Match.

„Der Ton war nicht okay“, sagt Gabi Heinrich. Sie hat das Angebot der Zeitarbeitsfirma, bei der sie angestellt ist, angenommen – aus Angst davor, entlassen zu werden und in der Folge wegen „selbstverschuldeter Kündigung“ vom Arbeitsamt kein Geld zu bekommen. Nur einmal hat sie sich geweigert: als sie bei einer Firma arbeiten sollte, bei der die Arbeiter gerade streikten. „Das mache ich nicht, ich bin keine Streikbrecherin“, sagt sie. Begeistert war sie vom neuen Job von Anfang an nicht – auch wegen der Arbeitszeiten: Sechs-Tage-Woche, Früh- und Spätschicht im Wechsel. Doch neben der Angst vor der Armut weiß die 42-Jährige, dass Arbeit für sie wichtig ist, ihr Halt gibt. „Ich arbeite gerne, so krank sich das anhört“, sagt sie.

Ein Dutzend Frauen stehen an dem Fließband in der Mitte der Halle. Die Männer entladen und füllen das Pfandgut in Kisten, laden diese auf Rollbänder, die zu den Frauen und dem Fließband führen. Die Maschinen dröhnen, Metall und Glas scheppern. Die Frauen scannen und sortieren die Einweggetränkeverpackungen – in der Mehrzahl leere Bierdosen. Piep. Zerbeult, gepresst, gequetscht. Piep. Wut, Langeweile oder vielleicht nur überschüssige Kraft haben ihren Abdruck hinterlassen. Piep. Glas nach oben, Dosen und Plastikflaschen nach unten. Piep. Der Geruch erinnert an Fußgängerunterführungen und den Morgen nach der Party.

„Ich habe mich ausgeschaltet im Kopf, so richtig wie mit einem Hebel, klick, alles abgeschaltet, nur noch das Piepen gehört“, sagt Gabi Heinrich. Die Arbeit selbst sei okay, nur „definitiv zu anspruchslos“. Dabei sind ihre Ansprüche an einen Job bescheiden. Im Lager hat sie gerne gearbeitet: kommissionieren, Waren zusammenstellen und versandfertig machen. Auch den Umgang mit Computern lernte sie nach anfänglichen Berührungsängsten. Heute bereut sie, dass sie keine Ausbildung hat. Nach dem Hauptschulabschluss begann sie eine Friseurlehre. Doch sie fühlte sich unwohl bei dem alten Lehrmeister, kam in der Berufsschule nicht mit und hatte obendrein familiäre Probleme. Sie brach die Lehre ab und floh aus dem Elternhaus. „Ich hab’s da nicht mehr ausgehalten, wegen meinem Vater – das typische Klischee, aber es ist halt so. Der hat mich verprügelt und so. Irgendwann stand ich mal mit einem Messer vor ihm, und da habe ich gemerkt, das geht nicht mehr. Entweder ist er bald tot oder ich“, sagt sie.

Sie lebte auf der Straße, bis sie mit 20 schwanger wurde. Erst lebte sie im Mutter-Kind-Heim, später bekam sie eine Wohnung. Über die Hamburger Arbeit (HAB) fand sie einen Job und schließlich einen festen Arbeitsplatz für sechs Jahre. Das war Mitte der neunziger Jahre. Dann wurde sie entlassen – wegen betrieblicher Einsparungen. Seitdem schlägt sie sich mit Zeitarbeit durch.

Eine Familie könnte sie von den rund 900 Euro monatlich, die sie am Sortierband verdient, nicht ernähren. Gabi Heinrich hat Glück: Ihre Tochter ist erwachsen und verdient ihr eigenes Geld; sie selbst lebt mit ihrem Freund in einer kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung. Der Freund hat einen besser bezahlten Job – zu zweit kommen sie über die Runden. Der neue Arbeitsplatz liegt am Ende der Welt. Industriegebiet.

Schrottberge türmen sich, und Lastwagen bringen immer mehr davon. Hier wirkt die Recyclingbranche. Das Geschäft mit dem Pfand steht noch am Anfang und läuft etwas schleppend an. Viele Stunden verbringen die Pfandfrauen mit Warten. Die Rauchschwaden sind zum Zerschneiden dick. Karten spielen, reden, Zeitschriften blättern. Nichts ist schlimmer als Langeweile.

„Ich muss immer was tun“, sagt Stephanie Helms, reißt blitzschnell die Zuckertütchen auf, schüttet reichlich in ihren Kaffee und rührt kräftig. Wichtig für sie sei vor allem, dass die Zeit schnell vergeht bei der Arbeit. Den Job findet sie ganz gut. Nur der Gestank stört sie. „Ich bin keine Biertrinkerin“, erklärt sie knapp. Die 24-Jährige hat sich den Job selbst gesucht. Bei ihrem alten Arbeitsplatz im Lager und Versand hat sie gekündigt. Sie fühlte sich wohl, Arbeit und Bezahlung waren gut. Aber es gab ein privates Problem mit ihrer Schwester, die auch dort arbeitete. In der verbliebenen Woche Urlaub, die sie noch hatte, hat sie sich über die Zeitarbeit den Dosenjob besorgt.

Zum Arbeits- oder Sozialamt will sie nicht. „Weil mich der ganze Scheiß ankotzt, Formulare ausfüllen und so, da findest du schneller Arbeit, als dass du dein Arbeitslosengeld kriegst. Ist so. Das habe ich oft genug gehabt“, sagt sie und lässt keine Zweifel zu. Sie würde alles machen, um nicht von der Sozialhilfe zu leben, sagt sie. „Ich würd’ sogar Toiletten putzen.“

Gelernt hat sie im Einzelhandel, Bereich Feinkost. Das war Zufall. Sie war eingesprungen. „Weil meine Cousine unter einer Fleischallergie leidet, habe ich nach der Hauptschule einen Ausbildungsplatz bekommen.“ Der Start ins Arbeitsleben war ein Flop. Sie habe nichts gelernt, sondern – tatsächlich – Toiletten putzen müssen. Sie wechselte den Betrieb und beendete die Ausbildung fast. Nur die Prüfung hat sie nicht. Durch die erste ist sie durchgefallen, bei der zweiten war sie krank. Jetzt will sie dahin nicht mehr zurück. Das Thema ist für sie abgehakt. Ihre beste Freundin Jessica schaltet sich ein: „Aber mir hast du in den Arsch getreten, als ich abbrechen wollte.“ Stephanie antwortet: „Ja, das war ja auch gut so.“

Am vierten Tag spricht einer der Schichtleiter eine scharfe Verwarnung aus an alle, vor allem an die Männer. „Jeder ist hier ersetzbar“, ruft er in Erinnerung. Die Angst um den Arbeitsplatz macht sich breit. Ein kleiner, zarter Anfang-20-Jähriger rutscht während der Predigt nervös auf dem Stuhl hin und her und murmelt Entschuldigungen vor sich hin. Kaum hat der Schichtleiter den Raum verlassen, raunzt er den einzigen farbigen Kollegen neben sich herausfordernd an: „Hast Du schon ein Lob bekommen? He? Ich hab schon drei gekriegt.“ Drei Minuten später hat er einen handfesten Streit vom Zaun gebrochen, der sein vorläufiges Ende nur durch das beherzte Schlichten der Kollegen findet.

Stephanie Helms will bleiben; sie ist noch in der Recyclingbranche tätig. Gabi Heinrich wird am Ende der ersten Woche zum Schichtleiter gerufen. Eine gute Nachricht: Sie brauche nächste Woche nicht wiederzukommen. Ein anderer Kunde der Zeitarbeitsfirma, bei dem sie lieber gearbeitet hatte, habe sie angefordert. Gabi Heinrich freut sich, wenn auch nur kurz. Zwei Tage später erfährt sie, dass sie belogen wurde. Das Recyclingunternehmen hatte sie gekündigt.

Annette Scheld

Ab 1. Januar 2004 gilt erstmalig ein Mantel- und Entgelttarifvertrag zwischen den Mitgliedsgewerkschaften des Deutschen Gewerkschaftsbundes und den Arbeitgeberverbänden der Zeitarbeitsunternehmen. In der niedrigsten Gruppe, zu der auch die Pfandfrauen gehören, werden dann 6,85 Euro pro Stunde gezahlt.

Der Aufstand der Weberin

Eine sächsische Arbeiterin klagt auf fairen Lohn – und scheitert an 12 Cent

(aus Hinz&Kunzt 128/Oktober 2003)

„Kaum ist das Geld da, ist es weg!“, sagt Heike Krauße. Die gelernte Textilfacharbeiterin arbeitet in einem Teppichwerk an der tschechischen Grenze: eine Woche Früh-, eine Woche Spät-, eine Woche Nachtschicht. 4,85 Euro brutto die Stunde zahlt ihr dafür der Arbeitgeber, die Erzgebirgische Radici-Teppichwerk GmbH (ERTW). Hinzu kommen Schichtzulagen von 0,73 bis 1,70 Euro die Stunde, steuerfrei.

In der Summe kommt die 35-jährige Weberin auf rund 700 Euro netto monatlich. Das reicht für die Miete und die Rate fürs Auto. „Existieren kannst du davon nicht“, sagt die Mutter zweier Kinder. Heike Krauße ist das, was Forscher eine „working poor“ nennen: Sie arbeitet und hat dennoch nicht genug Geld zum Leben. Laut Tarifvertrag-Ost müsste sie fast das Doppelte verdienen, 8,95 Euro die Stunde. Doch was nützt ein Tarif, wenn der Arbeitgeber ihn nicht anerkennt?

Der Ort Bärenstein liegt tief im Erzgebirge, direkt an der Grenze zu Tschechien. Jeder Fünfte hier ist arbeitslos, wer anderswo einen Job findet, verlässt die Heimat. 3000 Menschen leben im „staatlich anerkannten Erholungsort“, früher waren es doppelt so viele. Das war die Zeit, als die „Sowjetisch-Deutsche Aktiengesellschaft Wismut“ tonnenweise Uran aus den Bergen holte. Drittgrößter Uranproduzent der Welt nannte sich die Wismut AG noch Ende der Achtziger. Doch mit der Wende kam das Aus. Seitdem zeugen verlassene Bergstollen, leer stehende Fabriken und verfallende Bürgerhäuser von den Zeiten, als die Menschen noch vom Rohstoffreichtum ihrer Berge profitierten.

In gewisser Weise gehört Heike Krauße zu den Glücklichen dieser abgelegenen Welt: Erstens hat sie Arbeit. Zweitens hat sie einen Mann. Und drittens hat der ebenfalls einen Job. Nachdem er „Jahre auf ABM geritten ist“, wie die Weberin erzählt, arbeitet er nun als Koch im nächsten Krankenhaus – und verdient sogar ein paar Euro mehr als seine Frau. Urlaub können sich die Kraußes dennoch kaum leisten, höchstens eine Reise zu Verwandten an die Ostsee. Und wenn der 13-jährige ältere Sohn – „er wird gerade modebewusst“ – sich eine neue Schlaghose wünscht, muss die Mutter sagen: „Olli, es tut mir Leid. Ich kanns einfach nicht.“

Gewerkschafter Klaus Börner packt angesichts solcher Verhältnisse die Wut: „Die Menschen gehen doch arbeiten, um davon leben zu können!“, sagt der 52-jährige IG Metaller, der regelmäßig durchs Gebirge fährt, um in den Betrieben gegen Dumping-Löhne anzureden. Auch den Angestellten des Bärensteiner Teppichwerks wollte er erzählen von Tariflöhnen und Arbeitnehmerrechten, von der Macht der Belegschaft und der Stärke der Gewerkschaft. Doch nur 16 der rund 60 Beschäftigten kamen zur „offenen Mitgliederversammlung“ in die örtliche Gaststätte. Schnell wurde klar: Tarifverhandlungen kann der Gewerkschafter hier nicht führen. Nicht mal jeder Dritte im Betrieb gehört zur IG Metall. „Die meisten haben Angst, dass der Laden geschlossen wird und sie ihre Arbeit verlieren“, sagt Börner. Diese Befürchtungen sind nicht grundlos: Die Ränder der ERTW-Teppiche, heißt es, ketteln heute schon Tschechinnen auf der anderen Seite der Grenze – für 2,50 Euro die Stunde. Und was wird werden, wenn das Nachbarland im kommenden Jahr der Europäischen Union beitritt und die Grenzen fallen?

Auch Heike Krauße hatte lange Zeit Angst. Immer wieder dachte sie: „Wo willst du hin? Du kriegst hier keine neue Arbeit!“ Seit fast 20 Jahren arbeitet sie im Teppichwerk. Gerade mal eine Lohnerhöhung habe es in dieser Zeit gegeben, „um 25 Cent, aber nicht für alle, für mich jedenfalls nicht“. Früher, zu DDR-Zeiten, war die Bezahlung noch gut, erzählt Heike Krauße. „Damals war das viel Geld.“ Doch nicht erst mit dem Euro ist das Leben auch im Erzgebirge teurer geworden. Immer wieder habe der Werksleiter mehr Lohn versprochen, „unter 800 Euro soll hier keiner verdienen“, habe er gesagt. Doch passiert sei nichts. „Der vertröstet uns seit Jahren“, sagt Heike Krauße. „Seit vielen Jahren.“

Im Mai 2002 kandidiert die Weberin als Betriebsrätin – und wird gewählt. Obwohl sie seitdem nur schwerlich kündbar ist, zögert sie lange, um fairen Lohn zu kämpfen. Die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes sitzt tief. Außerdem denkt sie: „Betriebsrätin werden und dann klagen – das sieht schon ein bisschen blöd aus.“ Anfang des Jahres entscheidet sie sich. „Wenn ich’s jetzt nicht mach und mir das noch zehn Jahre lang angucke, was wird dann?“, denkt sie sich. „Hältst Du das durch?“, fragt Klaus Börner. Der Gewerkschafter ahnt, was passieren wird: Der Werksleiter schickt seinen Arbeitern Änderungskündigungen, um weitere Klagen zu verhindern. Heike Kraußes Lohn zahlt er zwei Monate lang gar nicht. Und manch Kollege giftet die Weberin nun an. „Mein Hemd hängt auch dran!“, zischt ein Meister. „An deiner Stelle würd ich mich nicht mehr trauen, auf die Straße zu gehen!“

Beim Termin im Chemnitzer Arbeitsgericht klärt der Vorsitzende erst mal die einfachen Fragen: „Den ausstehenden Lohn müssen Sie nachzahlen!“, verdonnert er den Werksleiter. Dann geht’s ans Eingemachte: Ob er bereit sei, das Gehalt der Weberin anzuheben, fragt der Richter. Der Werksleiter zeigt sich hart: Er würde allenfalls Weihnachts- und Urlaubsgeld zum Grundlohn umwandeln, um diesen so zu erhöhen. „Das ist nur eine Umverteilung!“, ruft der Gewerkschaftsanwalt empört. Der Richter tippt auf dem Taschenrechner herum. Was ist laut Statistischem Landesamt der „ortsübliche Lohn“ in der Branche? Und unterschreitet das Gehalt der Weberin diesen um mehr als ein Drittel? Denn nur dann, so ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts, liege „Lohnwucher“ vor.

Am Ende entscheiden 12 Cent. Genau diese Summe verdient Heike Krauße zu viel die Stunde, um von „sittenwidrigem Lohnwucher“ sprechen zu können, entscheidet das Gericht und weist die Klage ab. Grundsätzlich sei er schon gegen zu niedrige Löhne, sagt der Richter nach dem Urteil. Doch müsse er auch der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Region Rechnung tragen. „Es ist ein offenes Geheimnis, dass hier für gleiche Tätigkeiten weniger gezahlt wird als etwa in Chemnitz.“ Nicht zuletzt, so der Richter, „muss man Bestrebungen gerade der Textilindustrie berücksichtigen, die Produktion nach Tschechien zu verlagern“. Es ist erst sein zweiter Prozess dieser Art in gut zehn Jahren. Dennoch weiß er: „Die Vergütungen sind zum Teil so niedrig, dass man sich schon fragt: Wie leben diese Leute?“

Der Aufstand ist vorerst niedergeschlagen. Gewerkschafter Börner ist empört: „Das Urteil passt in die politische Landschaft: Alles dreht sich darum, die Arbeitskraft billiger zu machen.“ Er wird weiter für gerechte Löhne im Erzgebirge kämpfen. Der Weberin bleibt die Berufung vor dem Landesarbeitsgericht. Ihr Anwalt prüft, ob die Statistiker tatsächlich die Zuschläge in ihre Lohnermittlungen einbezogen haben, wie das Gericht glaubt. Ist dem nicht so, wird der Lohn im Teppichwerk doch noch zum Wucher. Darauf hofft Heike Krauße und sagt: „Für mich ist der Fall noch nicht abgeschlossen. Und hätt ich nichts gemacht, hätt ich mir auch in den Arsch gebissen.“

Ulrich Jonas