Am Tresen daheim
Ein Besuch in Hamburger Eckkneipen
(aus Hinz&Kunzt 119/Januar 2003)
Vielleicht ist es ja nur das Unbekannte, dieses Nicht-wissen-was-kommt-Gefühl, was zunächst etwas Beklemmung verursacht. Noch von draußen, von der Straße her, kein einstimmender Blick möglich auf das, was einen drinnen gleich wohl erwartet. Eckkneipen sind öffentliche Orte, die dennoch dem Fremden als allererstes Distanz signalisieren.
Fensterbrettlange Gardinen oder doppel-wandige Buntglasscheiben entziehen Tische und Tresen – und die Menschen drumherum – der allgemeinen Aufmerksamkeit, anders als in all den modernen Caféhäusern oder Szenekneipen. Der fremde Besucher spürt sofort, er könnte stören. Wer an diesen Orten nicht fremd bleiben will, muss schnell dazugehören wollen. Und wer einkehrt, tut dies zumeist schon länger mit jener gewohnten Routine, mit der etwa auch das häusliche Wohnzimmer betreten wird.
„N’Abend“, ruft Anni, und am Tresen drehen sich drei Männerköpfe synchron von ihren Bierflaschen weg hin zur Eingangstür. „O-Saft?“, fragt Anni dann irritiert zurück. „Nee. Das gab’s hier früher mal. Ist aber immer schlecht geworden.“ Dabei lacht Anni erfrischend schrill scheppernd, und links am Tresen sagt Jürgen: „Flaschenbier geht am schnellsten. Auf Fassbier müsste man fünf Minuten warten.“
Die Wände sind brusthoch mit bonbonroter Lackfarbe gestrichen. Darüber zahlreiche Fotos, große wie kleine, zumeist mit lachenden oder trinkenden Menschen, offensichtlich Gästen. In einer Ecke Fahne und Fanabzeichen des Stammtischs der St. Pauli-Anhänger. Schräg gegenüber Kuckucksuhr und eine Kuhglocke. Und dann die vielen Katzen: fotografierte Katzen an den Wänden und Porzellankatzen in der prall gefüllten meterhohen Vitrine auf dem Tresen. „Ich liebe Katzen“, sagt Anni, „manchmal verirren sich Fremde hierher, junge Leute vor oder nach einem Konzert in der ‚Fabrik‘. Die können das alles nicht fassen und fragen: Wohnen Sie auch hier drinnen?“
Anni Geniffke betreibt an der Barnerstraße sechs Abende pro Woche die Eckkneipe „Min Jung“, zunächst zusammen mit Ehemann Rudi und nach dessen Tod vor 16 Jahren allein. Im Oktober feierte Altonas älteste aktive Wirtin ihren 78. Geburtstag. „Auch wenn die Einrichtung in den Augen junger Leute alt aussieht“, sagt Anni, „hier wird nichts verändert. Man muss es den Gästen doch gemütlich lassen.“ „Ja“, sagt Reiner, „wir sind zueinander wie eine gemütliche Familie. Und Anni ist unsere Mutti.“ Reiner ist auch schon 70 und Stammgast seit 25 Jahren.
Insgesamt 4800 gastronomische Betriebe arbeiten in Hamburg, gut 1000 zählen zu den Stamm- oder Eckkneipen. Als Treffpunkte des „kleinen Mannes“ sind sie für viele von ihnen diejenige Einrichtung des täglichen Lebens, in der soziale Kontakte noch möglich sind. „Privat hab ich keine Bekannten“, sagt Reiner, seit vier Jahren Witwer, „zu mir nach Hause kommt niemand. Meine Bekanntschaften treffe ich nur in der Kneipe.“ Anni sagt: „Einer passt auf den anderen auf.“ Und dann erzählt sie die Geschichte von vor ein paar Monaten, als Reiner mal sechs Wochen lang nicht zu ihr kam. Den Dieter, sagt Anni, habe sie dann vom Tresen weg voller Besorgnis zu Reiners Wohnung geschickt. Und, als dort niemand öffnete, gleich noch die Polizei hinterher. „Es wissen ja alle, dass es mit meiner Gesundheit nicht so gut ist“, sagt Reiner, „ich hab mich über das Sorgen-Machen sehr gefreut.“
So trifft man sich am Tresen immer wieder als miteinander vertraute Gemeinschaft, kennt meistens die Vornamen voneinander und weiß manchmal auch ein wenig von Krankheiten oder anderen Kümmer-nissen. Das Leben wird dann diskutiert, das manchem nur wenig Anlass bietet zur Hoffnung, und vor allem die wirklich komplizierten Dinge des Alltags. Fußball zum Beispiel, am Tresen selten ein simples Spiel, sondern stets hochkomplex. Oder Politik. Da kann es dann schon mal passieren, dass man irgendwann vorstößt auf den wahren Kern einer Sache, auf den Nukleus eines Geflechts. So wie Post-Gerd, jahrzehntelang eingefleischter Sozialdemokrat, wie Anni sagt, der irgendwann am Tresen erklärt habe, nun sei Schluss mit lustig mit der SPD. „Wegen dem Schröder“, erklärt Anni, „weil der schon drei Mal geschieden ist.“ „So’n Bock“, habe Post-Gerd dann noch gesagt, „so’n Bock wähl’ ich nicht mehr.“
Es ist zumeist die einfache Sprache, die Sprache der Straße, die in den Eckkneipen gesprochen wird. Die Sprache des kleinen Mannes, rau und direkt und manchmal auch verletzend. Mancher, der das Wort führt, macht sich dann gerne schon mal größer, als er tatsächlich klein ist. „Wenn Männer sich in die Wolle kriegen, dann gibt es Alarm“, sagt Bert in einer Kneipe an einer Wohnstraße auf St. Pauli, „meistens beleidigen wir uns nur, mal gibt’s auch eine Keilerei.“ Wichtig sei vor allem „das Hinterher: Entschuldigung! Bitte! Danke!“
Bert hat heute schon einige Flaschen Bier getrunken, seine Zunge liegt ihm hörbar schwer im Mund. Links daneben sitzt Horst, 58 Jahre alt, und nicht nur sein Pullover, den er an diesem frühen Abend trägt, strahlt in tiefem Blau. Bald wird Feierabend sein für diesen Tag, von zehn bis zehn ist hier geöffnet, eine Tageskneipe. „Noch’n Holsten“, versucht Horst jetzt zu rufen, und der Wirt versteht gleich die Bestellung, „morgen um fünf muss ich wieder im Hafen sein“, letzte Flasche für ihn auf seiner täglichen After-Work-Party. Bert sagt nun, er selbst könne ja nicht mehr arbeiten, sei unfähig geschrieben, aber morgen in der Frühe, da wär’ auch er rechtzeitig hoch. „So ab zehn bin ich hier in die Kneipe. Jedenfalls vielleicht, ich mach nämlich auch schon mal Pause.“
Den ganzen Tag nur in der Kneipe, fast jeden Tag, wie viel Geld kostet das? „Das ist wirklich eine dumme Frage“, raunzt Bert jetzt ganz böse und dreht sich verärgert zur Seite, „da antworte ich nicht mehr drauf.“ Einen Moment lang entsteht Stille am Tresen, und bald beginnt der Wirt langsam, leere Bierflaschen von einer Kiste in eine andere umzustecken. „So pauschal kann man das doch überhaupt nicht sagen“, antwortet Bert schließlich doch noch, aber weiterhin arg maulig wegen der Frage, „man kann ja auch mal krank werden.“