Der SPD-Retter
Interview mit Michael Naumann über verwahrloste Häuser, Überwindung von Arbeitslosigkeit und seine persönlichen Erfahrungen mit der Armut
(aus Hinz&Kunzt 170/April 2007)
Der Journalist und Ex-Staatsminister für Kultur Michael Naumann hat die Hamburger SPD aus dem größten Desaster gerettet, das vorstellbar war: Er sprang als Spitzenkandidat für die Bürgerschaftswahl 2008 ein. Als wir ihn in seinem neuen Büro im Kurt-Schumacher-Haus besuchen, sieht alles noch etwas provisorisch aus. Noch niemand hat sich die Mühe gemacht, das Namensschild im Flur auszutauschen – dort steht noch „Matthias Petersen“. Auf dem Schreibtisch thront ein Aktenkoffer mit Unterlagen. Der Ole-von-Beust-Herausforderer sieht etwas müde und abgekämpft aus, die Lesebrille sitzt ausgesprochen tief auf der Nase. Der Mann ist angekommen an der Basis.
Hinz&Kunzt: Herr Naumann, wie waren Ihre ersten Tage nach der Landung?
Michael Naumann: Ich bin eigentlich immer noch im Anflug. Die Zeit war turbulent und bereits sehr lehrreich.
Hinz&Kunzt: Was haben Sie denn gelernt?
Naumann: Punkt eins: Die Mitglieder der SPD wollen einen Neuanfang. Punkt zwei, um nur ein Beispiel zu nennen: Ich habe gerade in Harburg das Phoenixviertel angeschaut. Dort ist sehr eindrucksvoll zu sehen, dass Besitzer, die ihre Häuser selbst bewohnen, die Gebäude instand halten. Dagegen lassen abwesende Vermieter ihre Häuser verrotten. Sie wollen trotz Fördermaßnahmen offenbar nur Miete abzocken. Daran leidet die Sanierung solcher Viertel.
Hinz&Kunzt: Eigentum verpflichtet, heißt es im Grundgesetz.
Naumann: Wenn Sie Ihr Haus außen weiß anstreichen und innen schimmelt es, gibt es dagegen kein Gesetz. Und das will ich auch nicht einführen. Es kommt darauf an, Anreize so zu setzen, dass auch abwesende Hausbesitzer etwas davon haben, wenn sie sich für ihr Haus und die Gemeinschaft einsetzen.
Hinz&Kunzt: Haben Sie sich schon mit dem Programm „Lebenswerte Stadt“ befasst, mit dem der Senat sozial schwache Stadtteile aufwerten will?
Naumann: Der Senat in seiner Weisheit hat 13 Stadtviertel erkannt, die saniert werden sollten. Aber dann nur fünf herausgenommen …
Hinz&Kunzt:Es sind sechs.
Naumann: Warum nur sechs und warum diese? Die Sanierung soll wohl eine Punktlandung zur Wahl sein. In den vergangenen fünf Jahren hat man nicht so genau hingeschaut.
Hinz&Kunzt: Welche Stadtteile in Hamburg würden Sie fördern, und was würden Sie tun?
Naumann: Wir müssen uns fragen: Was ist das Charakteristikum solcher Viertel? Hoffnungslosigkeit, Angst, auch Angst, auf die Straße zu gehen, Vielsprachigkeit ohne Perspektive, Verlust von kulturellen Institutionen wie Bücherhallen.
Ich war als Zehnjähriger zum ersten Mal in der Stadtbibliothek. Da hat mir jemand einen Roman in die Hand gedrückt: Tom Sawyer – mein erster richtiger Roman. Diese Chancen sollen alle Kinder haben. Außerdem müssen die Schulen regional gerecht verteilt werden. Es geht nicht, dass die Gymnasien in den feineren Vierteln sind. Schließlich: Wir haben gute Erfahrungen gemacht mit Quartiersmanagern. Sie können mit den Menschen vor Ort Perspektiven entwickeln.
Hinz&Kunzt: Was schätzen Sie an Ole von Beust, und was gefällt Ihnen nicht?
Naumann: Seine Politik, vor allem seine Wirtschaftspolitik, ist gekennzeichnet durch einen Zickzackkurs, aus dem nicht klar wird, welches Konzept für die Stadt er hat. Einen beträchtlichen Teil der Hafenanlagen wollte er auf einen Schlag verkaufen, bis er sich dann plötzlich anders entschieden hat. Tatsache ist, dass auf diese Weise rund 60 Millionen Euro aus dem Fenster geworfen und womöglich Investoren auch für andere Projekte in dieser Stadt verprellt wurden. Nur die Anwälte und Unternehmensberater haben verdient.
Hinz&Kunzt:Sie waren sowieso gegen den Verkauf der HHLA. Wegen der Arbeitsplätze?
Naumann: Die Entscheidungen über Hafeninvestitionen müssen weiterhin im Hamburger Rathaus gefällt werden und nicht in irgendeiner Konzernzentrale irgendwo in der Welt. Deswegen bin ich gegen den Verkauf der HHLA. Und was die Arbeitsplätze angeht: Moderne Investoren, egal, wo sie herkommen, sagen immer: Selbstverständlich muss der Übergang sozialverträglich gestaltet werden – und dann kommen die Entlassungen.
Hinz&Kunzt: Ihrer Ansicht nach hat Ex-Kanzler Gerhard Schröder in seiner Amtszeit nichts falsch gemacht. Gibt es auch an Hartz IV nichts auszusetzen?
Naumann: Durch Hartz IV ist eine größere Bereitschaft entstanden, wieder zu arbeiten – das verbirgt sich ja hinter dem Begriffspaar „Fördern und Fordern“. Wir konnten aber nicht verhindern, dass daraufhin Kurzzeitjobs geschaffen wurden mit Löhnen, die unmenschlich sind. In diesen Fällen muss Hartz IV ergänzt werden durch ein Mindestlohngesetz. Ich kenne den Effekt aus Amerika, wo ich Mitte der 90er-Jahre gelebt habe. 1997 hat die Clinton-Regierung die Sozialzahlungen massiv reduziert. Daraufhin stieg die Beschäftigtenzahl enorm. Ganz einfach, weil es keine Alternative gab. Das waren Billigjobs …
Hinz&Kunzt: Manchmal sind zwei oder drei Billigjobs nötig, um sich über Wasser zu halten.
Naumann: Das stimmt. Aber das ist immer noch besser als Arbeitslosigkeit, die die eigene Psyche und die Würde verletzt, und der Gang zur Auszahlungskasse der Social Welfare. Ich war damals Geschäftsführer in New York und habe mehrere Menschen aus dem Welfare-Milieu bei mir beschäftigen können, zum Beispiel als Telefonistinnen. Das war eine soziale, vor allem eine mentale Verbesserung für die Beteiligten. Und genau das halte ich den Kritikern von Hartz IV entgegen.
Hinz&Kunzt: In Frankreich soll ein Recht auf Wohnung gesetzlich verankert werden. Was halten Sie davon?
Naumann: Eine Luftblase. Mich erinnert das an den Spruch: Es ist den Reichen und Armen gleichermaßen erlaubt, unter den Brücken von Paris zu wohnen. Na doll! Ein Recht auf eine Wohnung ist zumindest für mich durch Artikel 1 des Grundgesetzes – „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ – schon abgedeckt. Wir haben ein Mietrecht, das es Vermietern relativ schwer macht, Mietern zu kündigen. Prinzipiell bedaure ich, dass der soziale Wohnungsbau in Hamburg ins Stocken geraten ist.
Seit ein paar Minuten steht ein junger Mitarbeiter im Büro und drängelt. Die Basis ruft. Trotzdem …
Hinz&Kunzt: Sie haben mit Armut eigene Erfahrungen gemacht, aber Sie haben wohl keine Zeit mehr …
Naumann: Ich bin in Köln in großer Armut in einem Viertel aufgewachsen, das nach dem Krieg für Flüchtlinge gebaut worden war. Die katholische Kirche hatte hier einen Jugendtreff, in dem ich sehr viel Zeit verbracht habe, ohne auf dumme Gedanken zu kommen. Was die katholische Kirche in meinem Viertel gemacht hat, warum soll das nicht auch in Osdorf gehen?
Hinz&Kunzt: Haben Sie sich als arm empfunden?
Naumann: Ich komme aus einer gutbürgerlichen Familie. Unsere Familie wurde 1952 enteignet. Das heißt, das bürgerliche Gebaren war noch da. Aber am Ende blieb nur noch ein Klavier. Das blieb dann später in der DDR. Danach ging es nach Köln. Dann sitzt du plötzlich mit deiner Mutter, einer Kriegerwitwe, und drei Geschwistern in einer Dreizimmerwohnung, und das Mobiliar besteht aus Apfelsinenkisten. Im Übrigen erinnere ich mich noch genau: Mein Bruder wäre 1946 fast verhungert und wurde in letzter Minute gerettet. Das wissen ja die wenigsten, dass in der Nachkriegszeit Hundertausende umgekommen sind durch Hunger und Unterernährung. Es gab Tage, an denen es nur eine Scheibe Brot gab – und sonst gar nichts. So etwas vergisst man nicht. Das trage ich aber nicht vor mir her. Ich sage nur: Ich weiß, wie es war. Und wenn ein Mensch heute in diesen Umständen leben sollte, dann ist das empörend. Ich weiß aber: Das gibt es, auch in Hamburg.
Die Zeit ist um. Schnell noch ein Foto, ein kurzer Händedruck. Michael Naumann steht an seinem Schreibtisch. Er hat uns schon den Rücken zugewandt und packt noch rasch seinen Aktenkoffer.