Literatur und Landwirtschaft
(aus Hinz&Kunzt 119/Januar 2003)
Mit dem Mara-Cassens-Preis wird seit 25 Jahren eine wichtige Aus-zeichnung für den literarischen Nachwuchs vergeben. Doch wer ist Mara Cassens? Ein Hausbesuch bei der Stifterin.
Die Morgensonne beleuchtet hartgefrorene Wiesen und Äcker – und fällt großzügig durch die Panoramafenster. So großzügig, dass man die Augen zusammenkneifen muss. Ein großer brauner Hund schnüffelt träge um einen rie-sigen dunklen Holztisch herum. Im Gegenlicht die Silhouette einer zierlichen Frau. Sie verab-schiedet einen Mann in grünem Arbeitszeug, der in den Pferdeställen nach dem Rechten sehen soll. Die freundliche blonde Haushälterin eilt aus der Küche herbei und bietet Kaffee und Tee an. Wäre dies ein Gesellschaftsroman aus dem 19. Jahrhundert, würde man jetzt mit „gnädige Frau“ angesprochen.
Doch obwohl die Szenerie im Haus von Mara Cassens auf den ersten Blick Romanähnlichkeit hat, täuscht dieser erste Blick: Die 59-Jährige züchtet Pferde, kümmert sich auf ihrem Obsthof bei Stade um biologische Anbau-methoden und ist eine begeisterte Leserin. Deshalb stiftet sie seit 25 Jahren den wichtigsten deutschen Literaturpreis für ein Romandebut, der auch nach ihr benannt ist.
„Die Neue literarische Gesellschaft hat auch schon vorher einen Preis für einen Roman-Erstling vergeben, ich habe ihn nur etwas aufgestockt“, sagt sie bescheiden. Das Geld – mittlerweile 10.000 Euro – sollte eben nicht nur eine Anerkennung sein, sondern dem Schriftsteller ermöglichen, eine Weile davon zu leben und sich ohne Geldsorgen auf das Schreiben zu konzentrieren.
„Wenn Sie kürzere Prosa schreiben, können Sie nebenbei noch jobben, aber ein Roman verlangt unendlich viel Disziplin und Konzentration.“ Sie weiß das, weil sie inzwischen viele der Autorinnen und Autoren kennen gelernt hat.
Ihren braunen Augen sieht man die Begeisterung an, wenn sie von diesen Begegnungen erzählt, bei denen sie oft interessante Verbin-dungen zwischen Leben und Literatur festgestellt hat, „die einem manchmal ganz neue Perspektiven auf die Geschichte eröffnen“. Natürlich plaudert sie keine Einzelheiten aus, aber es ist unüber-sehbar, dass sie eine lustvolle Menschenbeobachterin und -kennerin ist.
„Viele, wie Marlene Steeruwitz oder die Preisträgerin des vergangen Jahres, Annette Pehnt, schicken mir regelmäßig ihre neuen Bücher, das ist natürlich sehr schön“, ergänzt sie dann noch ihr Vergnügen an dem Preis, aus dessen Vergabe sie sich allerdings strikt heraushält. Gemeinsam mit dem Hamburger Literaturhaus bestimmt sie lediglich den Juryvorsitzenden – derzeit der ehemalige Preisträger John von Düffel – und findet es ansonsten wichtig, dass die Jury ausschließlich aus Lesern und nicht aus den üblichen Verdächtigen des Literatur-betriebs besteht. „Wenn ich da als Stifterin säße, würden die anderen vielleicht gar nicht mehr gegen mich stimmen“, lächelt sie.
Sie will sich auch nicht auf ein Lieblingsbuch festlegen lassen, sondern findet gerade die Vielfalt der Literatur faszinierend. In ihrem Bücher-regal findet sich allerdings eine auffällig große Zahl von Marguerite Duras’ Werken.
Nein, selber schreiben wollte sie nie, der Gedanke sei völlig abwegig, auch wenn sie sich schon als Jugendliche für Kunst und Literatur interessiert habe. Die Tochter eines Nürnberger Zahnarztes wurde dann erst mal Stewardess, verliebte sich in den Hamburger Kaufmann Holger Cassens, mit dem sie noch heute verheiratet ist, und zog 1968 in den Norden.
Dann erst näherte sie sich über die Pferdezucht ihrer eigentlichen Leidenschaft an, der Landwirtschaft. „Das hat mich eigentlich schon immer interessiert, aber wenn man nur in der Stadt aufwächst, ist das ja irgendwie abwegig.“ Heute ist es das ganz und gar nicht mehr. Mara Cassens stellte ihren Hof auf biologische Anbaumethoden um, gründe-te gemeinsam mit anderen Bauern einen „ökologischen Obstversuchs-ring“, zu dem inzwischen 50 Betriebe in ganz Norddeutschland gehören, und setzt sich dafür ein, dass die Forschung in diesem Bereich stärker gefördert wird, „denn nur dann können es sich Bauern auch leisten umzustellen.“
Bei diesem Thema redet sie sich schnell warm – und genau darin sieht sie auch ihre Rolle: „Von der praktischen Landwirtschaft verstehen andere, die das gelernt haben, mehr. Ich kümmere mich um die Kontakte zu den Ministerien, um Öffentlichkeit und Unterstützung.“ Auf die Frage, ob sie denn trotzdem manchmal selbst in Gummistiefeln über ihren Apfelhof stapfe, schaut sie die ahnungslose Großstädterin fast mitleidig an: „Natürlich, das müssen Sie, sonst können Sie das Ganze überhaupt nicht begreifen.“
Begreifen, das ist überhaupt ein Schlüsselwort für sie. Ob das nun der niedersächsiche Ackerboden ist, die Kulturpolitik der Hansestadt oder die Ansichten einer jungen ungarischen Autorin – Mara Cassens interessiert sich auf zupackende Weise für die Vielfalt der Welt und ganz besonders dafür, wie sie sich verändert.
Geld eröffnet dabei natürlich Möglichkeiten. Doch verpflichtet fühlt sie sich nur gegenüber ihren Mitarbeitern, „da trägt man Verantwortung.“ Natürlich bekommen die Erntehelfer einen korrekten Stundenlohn, der Bereiter für die Pferdezucht ist fest angestellt, die Gestütsleiterin hat weit gehende Entscheidungskompetenz, und der Mann im grünen Arbeitsanzug, „Gustav Mahler, der all das hier mit mir aufgebaut hat und seitdem bei mir arbeitet, besitzt natürlich lebenslanges Wohn-recht.“
Ach ja, der Hund heißt Sally und ist „ein wenig antiautoritär“ erzogen. Vielleicht könnte Mara Cassens’ Leben eines Tages doch noch Vorlage für einen Gesellschaftsroman werden, allerdings für das 21. Jahrhun-dert.