Kahlschlag bei Azubis

Behörde will Plätze für benachteiligte Jugendliche kappen

(aus Hinz&Kunzt 121/März 2003 – Die Jugendausgabe)

Ausbildungsplätze sind rar. Doch die Behörde für Bildung und Sport will die Zahl außerbetrieblicher Lehrstellen in der Jugendberufshilfe drastisch abbauen. Bis 2006 sollen etwa die Hälfte der derzeit 400 Plätze gestrichen werden. Außerdem plant die Behörde, die Zuwendungen pro Ausbildungsplatz um mehr als ein Drittel zu kürzen. Stattdessen will die Stadt vermehrt berufsvorbereitende Maßnahmen fördern, die maximal zwei Jahre dauern und kostengünstiger sind. Auch so genannte „Ausbildungskooperativen“, bei denen Jugendliche in Betrieben des ersten Arbeitsmarktes betreut werden, sollen ausgeweitet werden.

Stark betroffen von der Umstellung sind die „autonomen jugendwerkstätten hamburg“ (ajw). Sie bieten Ausbildungsplätze für sozial benachteiligte Jugendliche, denen der Schulabschluss fehlt, die eine Drogenkarriere hinter sich haben oder deren Eltern Alkoholiker sind. Solche Jugendlichen haben meist keine Chance auf eine Lehrstelle in gewöhnlichen Betrieben – und sie brauchen Unterstützung. Bei den ajw steht deshalb neben einer qualitativ guten Ausbildung auch die soziale Festigung der Jugendlichen im Vordergrund.

In den kleinen, familiär gehaltenen Werkstätten kümmern sich jeweils zwei Handwerker und ein Pädagoge um sie. 100 Ausbildungsplätze bieten die ajw an – noch. Dem Plan der Behörde zufolge sollen in drei Jahren nur noch 50 übrig sein. Die anderen 50 werden voraussichtlich in berufsvorbereitende Maßnahmen umgewandelt.

„Wenn die Pläne umgesetzt werden, verdient die Jugendberufshilfe ihren Namen nicht mehr“, empört sich ajw-Geschäftsführerin Gisela Wald. Eine Stabilisierung der Jugendlichen innerhalb von drei Jahren werde nicht mehr möglich sein, da der Betreuungsschlüssel durch die Kürzungen dras-tisch verschlechtert werde. „Wir werden wahrscheinlich fünf unserer acht Werkstätten schließen müssen“, so Wald.

Der Leiter des Amtes für Berufliche Bildung und Weiterbildung, Achim Meyer auf der Heyde, begründet die Kürzungen mit der „angespannten ökonomischen Lage“. Die Umschichtungen zielten auf eine stärkere Betriebsnähe, wie es auch die Hartz-Kommission angeregt habe, so der Leiter. „Außerdem werden durch die Umschichtungen 230 Jugendliche mehr gefördert als bisher“, so Meyer auf der Heyde.

In den Ohren von Gisela Wald klingt das zynisch. Viele der Auszubildenden bei den ajw hätten bereits berufsvorbereitende Maßnahmen hinter sich, sagt die Geschäftsführerin. „Sie sind bei uns, weil sie auf dem ersten Arbeitsmarkt keinen Ausbildungsplatz bekommen haben.“ Sie fürchtet, dass diese Jugendlichen vollständig aus dem Hilfesystem herausfallen könnten. „Die Folgekosten für die Gemeinschaft“, so Wald, „sind höher als die für die Jugendberufshilfe.“

Philipp Ratfisch

Schafe, Seebären, 1000 Steine

Die drei ungewöhnlichsten Dienststellen für Zividienst und das Freiwillige Soziale Jahr

(aus Hinz&Kunzt 121/März 2003 – Die Jugendausgabe)

Es ist heiß an Bord, wahnsinnig heiß. Der Boden in dem kleinen, in gelb und braun gehaltenen Raucherzimmer scheint leicht schräg zu sein. An der Wand hängt eine vergilbte Weltkarte. Die Sowjetunion ist zu sehen, Deutschland ist noch geteilt. Die umlaufenden, mit khakifarbenem Stoff überzogenen Couchen sind durchgesessen. Auf dem niedrigen Tisch liegt ein abgegriffenes Backgammon-Spiel. Annika Kämling zeigt den vereinzelt hereinkommenden russischen Seeleuten eine Broschüre vom Hamburger Seemannsclub „Duckdalben“ und beantwortet geduldig die in schlechtem Englisch vorgetragenen Fragen.

Es ist ihr erster Schiffsbesuch an diesem Tag. Der etwas schäbig aussehende russische Öltanker hatte gleich ihre Neugier geweckt. Ob man im Seemannsclub Telefonkarten kaufen könne oder wie dort der Wechselkurs des Dollars sei, fragen die Matrosen. Einer bietet an, uns das Schiff zu zeigen. Unsere Fotografin Sonja und ich folgen gespannt. Mehr als eine halbe Stunde später, nachdem wir – kindlich begeistert – durch die Kombüse und den Maschinenraum bis hoch zur Brücke geführt worden sind, kommen schließlich fünf Seeleute mit in den Kleinbus, der uns zum „Duckdalben“ bringt.

Die persönliche Entscheidung für den Zivildienst und ganz besonders für ein Freiwilliges Soziales oder Ökologisches Jahr hängt stark von der Attraktivität der Dienststelle ab. Wirklich ungewöhnliche, fast schon exotische Dienststellen sind selbst in Hamburg schwer zu finden. Aber es gibt sie.

Annika hat die Entscheidung, beim „International Seamen’s Club Duckdalben“ ihr Soziales Jahr zu machen, nicht bereut. Im Gegenteil: „Ich würde am liebsten mein ganzes Leben dort arbeiten“, sagt das Mädchen mit den roten Haaren voller Überzeugung. Seeleute aller Nationen, vor allem Filipinos, Chinesen, Inder und Ägypter, nutzen die kurze Zeit ihres Hafenaufenthalts, um im Seemannsclub zu entspannen.

Die Besucher erwartet ein breit gefächertes Angebot an Freizeitmöglichkeiten: vom obligatorischen Clubraum mit Bier- und Kaffeetresen über Tischtennis, Billard und Kicker, Möglichkeiten zum weltweiten Telefonieren bis hin zur internationalen Bibliothek und einem multireligiösen Andachtsraum ist fast alles dabei. Das Schönste an ihrer Arbeit sei, sagt Annika, sich mit so vielen unterschiedlichen Menschen austauschen zu können und die unterschiedlichen Meinungen über das Leben mitzubekommen. Vier Heiratsanträge von gestandenen Seebären hat die 20-Jährige auch schon erhalten: „Aber die fahren in den nächsten Hafen und erzählen dem erstbesten Mädchen das gleiche.“

Szenenwechsel. Johannes Schley steht mit einem Eimer voll Futter mitten auf einer grünen Wiese. Umringt von Dörthe, Mollie und Maxi. Insgesamt sind es acht Schafe, präzise gesagt acht rauwollige Pommersche Landschafe, die sich noch etwas scheu um ihre morgendliche Essensration drängeln. Johannes wollte seinen Zivildienst auf jeden Fall draußen verbringen. Die wenigen Zivildienststellen im Umweltschutz waren bereits vergeben, und so entschied er sich für ein Freiwilliges Ökologisches Jahr (FÖJ) beim Umweltzentrum Karlshöhe. Zu seinen Schützlingen gehören neben den Schafen noch zwei Ziegen, 17 Hühner und zwei Gänse. Im März kommen dann noch ein paar Lämmer dazu, wahrscheinlich sechs. „Und die Ziege ist auch schon ganz eckig“, zeigt Johannes.

Man müsse sich dreckig machen können, dürfe keine Angst vor Tieren haben, gerne mit Kindern arbeiten und eine Vorliebe fürs Handwerkliche haben. Dies sind die wichtigsten Voraussetzungen für seine Arbeit, meint Johannes. Im Sommer macht er pro Woche drei bis vier Führungen für Kinder. „Das sind immer mehr als 20 kleine Männchen. Auf die muss man gut eingehen können“, sagt er. Kardieren, Filzen, Weben, Spinnen und Färben der eigenen Schafswolle sind typische Beschäftigungen, die der FÖJler zusammen mit Schulklassen macht. Sich selbst hat er bereits einen stilechten Schäferhut gefilzt. Bis zum Ende seiner Dienstzeit will er eine komplette Schäfergarderobe für sich geschneidert haben.

Zurück in die Stadt. Erst nachts um 1.30 Uhr Feierabend zu haben, ist für Sasha Hoferichter nichts Ungewöhnliches. Den Freitagabend verbringt er meist auf Rockkonzerten, bei Breakdance-Acts oder Hip-Hop-Jams – und das beruflich. Sasha ist Zivildienstleistender beim Jugendmusikzentrum „Trockendock“, das zum Verein „Lass 1000 Steine rollen!“ gehört. Wir finden Sasha hinterm Tresen des hauseigenen Cafés. An der Wand hängt unübersehbar der Hinweis, dass kein Alkohol ausgeschenkt wird. „Rock statt Drogen“ ist das Motto von „Lass tausend Steine rollen!“, und der Erfolg des Projekts zeigt, dass sich junge Leute durchaus darauf einlassen. Das Trockendock bietet den 15- bis 25-jährigen Besuchern neben den regelmäßigen Veranstaltungen Übungsräume für Bands, günstigen Unterricht an diversen Instrumenten und offene Angebote wie DJ-Training oder Freestyle-Rap.

Für Sasha, der selber Gitarre spielt, ist die Zivi-Stelle ein Glücksgriff. Durch den Austausch mit den jungen Musikern und – in seiner Freizeit – die Beteiligung in den unterschiedlichsten Bands entwickele er sich musikalisch ständig fort. „Ich spiele jetzt auch Schlagzeug in einer Band“, erzählt er begeistert, „und das bringt einen natürlich voran, wenn man mal was ganz anderes macht.“ Gerade habe er auch bei einer Reggae-Formation mitgespielt und damit in ein Genre hineingeschnuppert, das ihm vorher unbekannt war.

Was bleibt, ist die Erkenntnis, dass man sich auf höchst unterschiedliche Art sozial engagieren kann. Eins haben die drei Stellen dennoch gemeinsam: Sie brauchen alle noch einen Nachfolger. Schade, dass man nicht gleich alle drei nacheinander machen kann…

Jan-Malte Ambs

Smudos Unterbewusstsein

Ein Interview mit dem Rapper der Fantastischen Vier

(aus Hinz&Kunzt 121/März 2003 – Die Jugendausgabe)

Smudo, eigentlich Michael B. Schmidt, wird in diesem Monat 35. Der Rapper von den Fantastischen Vier sprach mit uns über Freiheit, kreative Brunnen und darüber, warum er mit Politik eigentlich nichts zu tun haben möchte.

Hinz&Kunzt: Für uns ist Musik ein wichtiger Teil der persönlichen Freiheit. Du hast dich für den Beruf Musiker entschieden. Ist es wirklich so, dass du bei deiner Arbeit ein Freiheitsgefühl auslebst, oder ist Musik für dich ein alltäglicher Job geworden?

Smudo: Nicht das Musik machen ist Freiheit. Freiheit ist, zu machen, was einem gefällt und davon leben zu können. Vielleicht ist Kunst für viele ein Symbol für Freiheit. Ich empfinde es nicht mehr so: Was als Hobby angefangen hat, ist zu meinem Beruf geworden. Wie alles, was von der Exotik zur Routine wird, ist auch das Musikerdasein irgendwann entmystifiziert.

H&K: Fällt es dir schwer, immer noch regelmäßig kreativ zu sein?

Smudo: Also, das ist ein total kompliziertes Thema. Der Mensch ist zunächst einmal von Natur aus kreativ. Schließlich sind wir die Affen, die irgendwann mal die zwei Kisten übereinander gestellt haben, um die Banane zu pflücken. Wenn es zum Beispiel darum geht, sich Gründe auszudenken, warum man dieses oder jenes gerade nicht mit seiner Freundin besprechen möchte, dann ist das auch eine Form von Kreativität. Der Unterschied ist, dass ein Künstler seine Kreativität gezielt irgendwo hinbaut, was eine gewisse Disziplin erfordert. Ich brauche heute allerdings mehr Disziplin als früher, behascht im Jugendzimmer. Da war das Pflichtleben die Schule, und die Kreativität war Rebellion und Freiheit. Jetzt ist es genau andersherum. Heute muss ich mich dazu zwingen, jeden Tag einige Stunden lang irgendetwas zu schreiben, egal was.

H&K:Aber hat man nicht irgendwann das Gefühl, alles schon einmal gesagt zu haben?

Smudo: Nein. Dadurch, dass man älter wird und immer noch ständig neue Erfahrungen macht, bekommt man immer neue Ideen. Innerhalb der Band haben sich darüber hinaus die Beziehungen nivelliert, jeder lebt sein eigenes Leben. Was auch ein Motor für neue Impulse ist.

H&K: Woher nehmt Ihr in der Band außerdem eure Inspiration?

Smudo: Ich finde das Bild schön, wenn man sagt, man hat einen kreativen Brunnen, aus dem man eimerweise Ideen schöpft. Dieser Brunnen muss gezielt gefüllt werden. Da gehen wir als Band mittlerweile sehr professionell vor. Jeder von uns bringt seine eigene Musik, Bücher und Filme mit. So etwas bringt viel aus dem Unterbewusstsein hervor.

H&K:Wenn Ihr so sehr auf das Unterbewusstsein setzt, wie kommt dann eine bewusste Message in eure Musik?

Smudo: Es ist wichtig, dass mein Gefühl mit der Musik zusammenpasst und dadurch hörbar wird. Die Message steht für mich dabei eher im Hintergrund. Bei MFG („Mit freundlichen Grüßen“ – Erfolgssingle aus dem Album 4:99) war es zum Beispiel so, dass wir uns erst im Nachhinein überlegt haben, welche Aussage der Song haben könnte. Wichtiger für mich ist, dass die Songs in Gemeinsamkeit entstehen, damit der Soul in der Musik stimmt.

H&K: Ihr arbeitet gerade an einem Album, das voraussichtlich Ende dieses Jahres erscheinen wird. Wie wird es deiner Meinung nach ankommen?

Smudo: Egal wie das Album aussieht – nur wenn du mindestens eine Single drauf hast, die signalisiert, da kommt was Neues, kann es ein Erfolg werden. Wenn es bei uns diesmal nicht so gut läuft, dann verkaufen wir 100.000, und wenn es gut läuft, werden es 300.000. Mit mehr ist nicht zu rechnen. Die Zeiten sind hart.

H&K: Woran liegt das?

Smudo: Es gibt immer mehr Leute, die Musik nur als Hintergrundberieselung in Anspruch nehmen und denen Radio und Fernsehen ausreichen. Wer sich darüber hinaus interessiert, zieht sich Songs aus dem Internet oder hat einen CD-Brenner. Der moralische Wert der Musik ist stark gesunken, und keiner kauft mehr Platten. Die Tonträgerindustrie lässt sich meiner Meinung nach nicht mehr retten, worunter vor allem die Künstler leiden, denen die Einnahmen bald nicht mehr zum Leben reichen.

H&K:Kommerziell gesehen ist Hip-Hop weit weniger hip als noch vor einiger Zeit. Es scheint keine neuen Impulse mehr zu geben. Wie sieht die Zukunft der Rapmusik aus?

Smudo: Dadurch, dass Rapmusik sich gut mit anderen Stilrichtungen kreuzen lässt, wird sie eine relativ hohe Überlebenschance behalten. Deutscher Hip-Hop speziell dreht sich allerdings im Moment sehr im Kreis. Ich habe zurzeit nichts auf der Uhr, was ich für unser Label Four Music gerne signen würde. Entweder es ist langweilig oder es ist zu speziell, um es vermarkten zu können. Aber ich glaube an Zyklen. Deutsche Musik ist nicht tot, sie ist nur gerade nicht populär.

H&K: Bei der letzten Bundestagswahl hast du dich für Rot-Grün eingesetzt. Hast du vor, dich auch in Zukunft politisch zu engagieren?

Smudo: Nee, ich bin sogar der Meinung, die Fantas sollten nichts mit Politik zu tun haben.

H&K: Warum nicht?

Smudo:Weil wir keine politische Band sind. Wir sind zwar politische Menschen und haben jeder unsere eigene Meinung, aber wenn unsere Musik in einen politischen Kontext gestellt wird, sehe ich unsere künstlerische Freiheit gefährdet. Politik ist mir zu schlammschlachtig, damit will ich nichts zu tun haben. Ich möchte nicht auf eine politische Aussage festgenagelt werden, die ich mal in der Öffentlichkeit zu einem bestimmten Thema gemacht habe, in dem ich eventuell gar nicht kompetent bin. Die Leute sollen mich nach meiner Musik beurteilen und nicht nach meiner politischen Meinung.

H&K: Warum hast du dich dann für Rot-Grün engagiert?

Smudo:Bei der Wahl bin ich über meinen Schatten gesprungen, weil mir die Kombination Stoiber – Beckstein so brutal Angst gemacht hat. Sie stehen für ein überholtes Gesellschaftsbild, das schwarze, asiatisch und südländisch aussehende Menschen nicht selbstverständlich als Deutsche akzeptiert. Ich habe in meinem Bekanntenkreis viele, die dadurch regelmäßig Probleme haben. Meiner Freundin, die schwarze Deutsche ist, wird an der Kasse im Supermarkt oft nicht geglaubt, dass die EC-Karte wirklich ihr gehört. Da wird grundsätzlich angenommen: Die bescheißen mich doch, die Bimbos. Das ist Rassismus! Und ich denke, dass vor allem die Grünen da für eine moderne, offene Politik stehen.

H&K: Du hast mit den Fantas bereits sehr viel Erfolg gehabt. Wird es so weitergehen oder kommt demnächst ein bürgerliches Leben?

Smudo: Das Thema sitzt einem natürlich im Nacken. Andererseits ist Hip-Hop noch zu jung, als dass man Beispiele dafür hätte, wie sich ein alter Rapper verhalten sollte. Wir werden sehen, wie es sich anfühlt, mit dem neuen Album auf Tour zu sein, und das wird darüber entscheiden, wie es weitergeht. Wenn es gut läuft, machen wir weiter, wenn nicht, dann haben wir natürlich auch unser Label, an dem wir noch einige Jahre arbeiten können. Ansonsten schreibe ich gerade an einem Drehbuch – das ist aber bisher ein ungelegtes Ei. Langfristigere Planungen gibt es noch nicht.

Interview: Marco Kasang, Neil Huggett und Philipp Ratfisch

Apfel ist nicht gleich Apfel

Von wegen Chancengleichheit: In der Vorschule zeigt sich, wer zu Hause gefördert wird

(aus Hinz&Kunzt 121/März 2003 – Die Jugendausgabe)

Ein Apfel ist rund, fast wie ein Kreis. Er ist rot, manchmal auch etwas grün und gelb, und er hat einen Stiel. Das weiß auch Isabel. Schließlich ist sie sechs Jahre alt und hat schon oft einen Apfel in der Hand gehabt. Sie nimmt ihre Stifte aus der Ablage unter ihrem Tisch und betrachtet etwas hilflos und skeptisch das vor ihr liegende Arbeitsblatt. Es ist neun Uhr morgens, ein ganz gewöhnlicher Tag in einer Vorschule mit ganz ganz gewöhnlichen Kindern, in einem privilegierten Stadtteil Hamburgs.

Ein Blick zum Nachbarn hilft Isabel auf die Sprünge: Konzentriert verbindet sie die eng zusammenstehenden Punkte miteinander. Die Verbindungslinie wird etwas krumm und schief. Aber nach einem prüfenden Blick sieht Isabel recht zufrieden aus. Als sie fertig ist, staunt Isabel nicht schlecht: Die zittrigen Umrisse eines Apfels liegen vor ihr. Ganz erfreut über das Ergebnis beginnt sie mit dem Ausmalen. Ein bisschen Rosa hierhin, dann noch etwas Lila, und natürlich darf auch Gold auf keinen Fall fehlen. Dass am Schluss das gesamte Blatt und nicht nur der Apfel ausgemalt ist, stört Isabel überhaupt nicht.

Auch Tine macht sich an das Arbeitsblatt mit dem Apfel. Sie verbindet sorgfältig die Punkte miteinander, sodass eine gleichmäßige Kontur eines Apfels entsteht. Dann überlegt sie sich, welche Farben sie verwenden möchte und nimmt sie aus dem Kasten. Tine malt nicht über den Rand. Sie lässt rot, grün und gelb ineinander fließen und lässt einen Apfel entstehen, der fast schon plastisch wirkt.

„Schon jetzt stelle ich fest, welch ungleiche Voraussetzungen die Kinder von zu Hause mitbringen“, sagt Elisabeth Hoffmann, die seit fünf Jahren als Sozialpädagogin in Vorschulen tätig ist. „Schließlich haben die Kinder schon mindestens fünf Jahre ihres Lebens hinter sich“, sagt Hoffmann, „und je nachdem, wie die Eltern sich kümmern, ist in der Zeit schon unheimlich viel an Entwicklung gelaufen.“ Deshalb sieht die 39-jährige Vorschullehrerin es als Aufgabe der Vorschule an, Ungleichheiten entgegenzuwirken.

Bevor Hoffmann ihren Dienst in dieser Vorschule antrat, arbeitete sie ausschließlich in den sozialen Brennpunkten Hamburgs. Dass sie in einem privilegierten Stadtteil unter ganz anderen Voraussetzungen arbeiten würde, war ihr klar: In den Brennpunkten kamen Kinder ohne Frühstück in die Vorschule, „ungewaschen und verwahrlost“. Deshalb wundert es Hoffmann auch nicht, wie „ungleich die Chancen auf eine gute Entwicklung und erfolgreiche Zukunft in unserer Gesellschaft sind“. Sie konnte beobachten, wie viele Kinder schon im harten Kampf des Lebens standen: „Wenn Kinder morgens ihre Eltern wecken müssen, mit fünf Jahren alleine zur Vorschule kommen, dann bleibt kein Raum, die eigene Persönlichkeit zu entwickeln.“

In ihrer jetzigen Wirkungsstätte sehe das ganz anders aus, „die materiellen Grundbedürfnisse sind in diesem Stadtteil auf jeden Fall gedeckt“, beobachtet Hoffmann. Dafür fehle es in den Familien aber manchmal an Zeit und Ansprache.

Justus kommt immer sehr früh in die Vorschule. Oft sitzt er schon alleine auf den Bänken im Vorraum, lange bevor jemand da ist. Justus sieht nicht fröhlich aus. Seine Augen gucken müde zur Treppe, er wartet auf die Vorschullehrerin. Justus hat noch Straßenschuhe und seine Jacke an, denn seine Eltern hatten keine Zeit, ihm beim Ausziehen zu helfen. Vielleicht haben sie ihn nicht einmal bis in den ersten Stock gebracht, sondern unten vor dem Haupteingang verabschiedet. Eigentlich weiß Justus, dass er seine Jacke aus- und seine Hausschuhe anziehen soll, wenn er in die Vorschule kommt, aber weil er noch so müde ist, vergisst er das immer wieder. Wenn dann Elisabeth Hoffmann die Treppe heraufkommt, wartet Justus oft schon eine halbe Stunde darauf, ihr etwas erzählen zu können.

Justus’ Haare sind nicht gekämmt, und auch seine Fingernägel sind nicht geschnitten, aber das stört ihn nicht. Denn Justus hat einen Gameboy bekommen, den er stolz vorführt. „Du, Frau Hoffmann, weißt du was? Den hab’ ich von meiner Mama bekommen, und heute Mittag bekomme ich eine Angel“, erzählt Justus, denn jeden Tag darf er sich etwas Neues zum Spielen aussuchen.

Elisabeth Hoffmann glaubt, dass die Vorschule ein „Ort des Vertrauens“ sein muss. „Wenn man die Chance hat, bei Kindern etwas in Gang zu setzen, sie zu motivieren und ihnen Freude an Neuem und am Lernen zu geben, dann entsteht eine starke emotionale Bindung“, sagt Hoffmann. Kinder würden nur unbefangen an Neues herangehen können, wenn sie keine Angst davor haben müssen, Fehler zu machen.“ Sie ist überzeugt davon, dass die Vorschule benachteiligte Kinder so fördern könnte, dass sie trotz ihrer Herkunft in nichts nachstehen müssen – in kleinen Fördergruppen oder auch durch Einzelunterricht. Aber Hoffmann meint auch, dass es an personeller Ausstattung fehle, um diesem Ziel gerecht zu werden, denn es brauche vor allem Zeit, um Kinder individuell zu fördern.

„Die Vorschule bereitet auf die Grundschule vor, und deshalb ist es wichtig, den Kindern Selbstbewusstsein zu geben, damit sie Spaß am Lernen haben, ohne zum Einzelkämpfer zu werden“, erklärt sie. Das passiere erstaunlich oft in finanziell gut abgesicherten Stadtteilen. „Allerdings lassen sich Rücksichtnahme und Hilfsbereitschaft gegenüber anderen hier oft noch gut entwickeln“, sagt Hoffmann, die in sozialen Brennpunkten oft das Gegenteil feststellen musste.

Auch einige ausländische Kinder gehören zu Elisabeth Hoffmanns Gruppe. So wie Cham. Er ist gerade ziemlich frustriert. Er soll einen Igel ausschneiden. Seine Schere hält er in der Hand, als ob er gar nicht recht wüsste, wozu man ein solches Gerät benutzt. Vielleicht hält er sie auch nur in der falschen Hand.

Doch das mit dem Nachfragen ist nicht so einfach, denn Cham spricht kaum Deutsch. Der Fünfjährige ist das einzige Kind in dieser Vorschulklasse, das türkische Eltern hat. Zwar ist Cham in Deutschland geboren, er war vor der Vorschule aber noch nie in einem Kindergarten oder einer Spielgruppe. Seine Eltern arbeiten den ganzen Tag, und so passt seine Oma auf ihn auf, die nur türkisch mit ihm spricht.

Nach kurzer Zeit versucht Cham es mit der anderen Hand. Das Schneiden gelingt ihm schon besser. Doch es fällt ihm schwer, auf der Linie zu bleiben, denn Cham kann sich schlecht konzentrieren. Lieber schaut er, was andere Kinder machen, die an ihm vorbeilaufen.

„Der Sinn der Vorschule ist nicht darauf beschränkt, Sprachschwierigkeiten zu beseitigen“, stellt Hoffmann klar. Doch oft beschränke sich vieles darauf, „denn Sprache ist die Voraussetzung, Inhalte zu begreifen.“

„Als Mediziner, als Anwalt, als Betriebswirt: Für alles braucht man ein Diplom“, sagt Hoffmann, „nur nicht, um Kinder zu erziehen.“ Oft fasst sie sich an den Kopf, wenn sie sieht, dass viele Menschen sich scheinbar kaum Gedanken über die Erziehung ihrer Kinder machen und nicht merken, wieviel Schaden dadurch schon bei kleinen Kindern angerichtet wird. „Schließlich kann sich ein Kind seine Erziehung nicht aussuchen.“

Annika Sepeur