„Die Angst kommt hinterher“

Mitten rein ins Geschehen, um die Welt besser zu begreifen: Marc Thörner berichtet für die ARD aus dem Nahen und Mittleren Osten. Im Irak und in Afghanistan begleitet er ausländische Truppen und versucht, die Einheimischen zu verstehen. Frank Keil sprach mit dem Hamburger Autor und Hörfunkjournalisten über seine Erlebnisse in Kriegs- und Krisengebieten.

Er fährt langsam dem Militär­konvoi hinterher. In einem gelben Taxi, unterwegs von Kabul nach Kundus, vor ihnen gepanzerte Fahrzeuge der Bundes­wehr. Sein Fahrer hält gut 40 Meter Abstand. Plötzlich stoppt der letzte Wagen des Konvois, Soldaten steigen aus. Einer von ihnen legt an – und schießt. Zum Glück ist es nur Signalmunition, die neben dem Taxi in einem Weizenfeld zerplatzt. Ein deutscher Offizier im Feldlager von Kundus wird Marc Thörner hinterher sagen, dass so ein Beschuss zwar gewaltig aussehe, aber harmlos sei. Es sei auch nur die erste von mehreren Eskalationsstufen gewesen, fühlten sich die Soldaten von einem zivilen Fahrzeug bedroht. Marc Thörner sagt: „Ich saß oft genug selbst in einem Bundeswehrfahrzeug und weiß, wie bedrohlich es sich anfühlt, wenn sich ein Auto nähert.“ Und weiter: „Als es neben uns knallte, habe ich mich plötzlich gefühlt wie ein stinknormaler Afghane – und ich habe zugleich verstanden, warum es zwischen den Einheimischen und den ausländischen Truppen so viel Misstrauen gibt; warum so viel schiefläuft.“
Eigentlich mag Marc Thörner, der als Autor und als Hörfunkjournalist für die ARD aus dem Nahen und Mittleren Osten berichtet, solche Geschichten nicht: Berichte, wo es knallt und raucht; wo etwas explodiert. Doch er hat diese Geschichte erzählt, damit klar wird, was ihn beschäftigt: wie unterschiedlich die Welt aussieht, je nachdem von welcher Warte aus man sie betrachtet. Entsprechend antwortet er bedächtig, setzt kurze Pausen zwischen den Sätzen. „Ich mag keinen Journalismus, der einfach nur Beobachtungen aneinanderreiht.“
Es hat ihn früh in die arabisch-islamische Welt gezogen: „Ich bin mit meinen Eltern schon als 15-Jähriger nach Marokko gereist und fand dort gerade die vielen Verbote aufregend: Warum durften wir nicht in Moscheen hinein? Warum warteten Leute vor dem Hotel und ließen den ganzen Tag nicht von uns ab? Und dann natürlich die verschleierten Frauen – wirklich sehr faszinierend.“
Nach dem Abitur studiert er Geschichte, als Schwerpunkt im Hauptstudium wählt er die arabische Welt, die er seitdem immer wieder besucht. Eine Zeit lang lebt er in Marokko.
Bild 7Heute wohnt er mit seiner Familie in Langenhorn, in einem Reihenhaus, umrahmt von einer struppigen Hecke und einem Jägerzaun, in der Mitte eine niedrige Pforte, die man etwas anheben muss, damit sie sich öffnet und wieder schließt. Gern ist er mit dem Fahrrad unterwegs, fährt lange Strecken, etwas einkaufen, etwas besorgen oder auch einfach so, um abzuschalten; um das Erlebte zu filtern und zu ordnen. Ganz nebenbei hat er in Hamburg die ganz normalen Probleme ganz normaler Väter: zum Beispiel zu beurteilen, welche weitergehende Schule womöglich die richtige für seine Tochter sein könnte.
Diese Wochen in Hamburg tun ihm gut. Hier findet er die Ruhe und Zeit, all das zu verarbeiten, was er erlebt hat – auch um daraus seine Artikel und Reportagen zu schmieden. Und was er erlebt, das hat es in sich: Er ist etwa zum Ausbruch des zweiten Irakkrieges in Kairo und erlebt dort hautnah die Proteste gegen diesen Krieg – und auch den wütenden Protest der Leute gegen ihre eigene Regierung, die den US-Einmarsch unterstützt. Er geht in den Irak, ist als Reporter mitten unter den kämpfenden Soldaten; erlebt mit, wie junge Offiziere im Alter von gerade mal 24, 25 Jahren ihre Einheiten durchs Kampfgeschehen führen. Natürlich hat er einige der Soldaten dabei gut kennengelernt, muss manchmal an sie denken; fragt sich, wie es ihnen wohl ergangen ist und ob sie überhaupt noch leben: „Dass man eine bestimmte Verteidigungspolitik aus seinen Kenntnissen heraus ablehnen muss, heißt ja nicht, dass man die Menschen ablehnt, die dort großen Risiken ausgesetzt sind.“
Überhaupt mag er es, sich mitten ins Geschehen zu begeben – nicht um den draufgängerischen, unerschrockenen Reporter zu mimen, sondern um selbst zu erleben, was in dieser fremden Welt eigentlich los ist. Wie damals, als er im Grenzgebiet zwischen Afghanistan und Pakistan unterwegs war. „Ich habe mich zwei Tage lang gefragt, was hier nicht stimmt und bin einfach nicht drauf gekommen.“ Dann fällt es ihm schließ­lich auf: „Es waren absolut keine Frauen zu sehen! Nirgends. Nur Männer mit Turbanen und Bärten und Kalaschnikows. Das ist noch mal anders, als wenn man in einer afghanischen Provinzstadt auf der Straße ist, wo die Frauen verschleiert sind, vielleicht auch eine Burka tragen, aber wo sie doch da sind.“ Bedrückend sei das gewesen – und sehr, sehr anders. Er schweigt einen Moment, holt neuen Schwung: „Und gleichzeitig gab es in dieser reinen Männerwelt eine absolute Offenheit, eine große Geborgenheit. Du hast das Gefühl, du bist in Abrahams Schoß.“ Die Leute würden alles für einen tun, einen rund um die Uhr bewachen und schützen: „Dabei hab ich mich bei Diskussionen über Religion oder Politik so gar nicht mit meinen Gastgebern verstanden – aber menschlich spielte das keine Rolle.“ Und er setzt wieder eine Pause und sagt: „Mir ist damals klar geworden, warum sich bestimmte Leute dort so gut verstecken können.“
Aber hat er nicht zwischendurch furchtbare Angst gehabt, besonders wenn er zusammen mit Soldaten unterwegs war? Marc Thörner schüttelt den Kopf: „Nein. Denn als Radiomensch guckst du sehr auf die Technik. Du überlegst, wie kannst du jetzt die Situation am besten dokumentieren? Ich kann ja nicht sagen: ‚Halt, stopp – ich hab mein Mikrofon noch nicht ausgepegelt. Könnt ihr mit der Personenkontrolle noch mal von vorne anfangen?‘“
Wenn noch Zeit ist, versucht er zu verstehen, was passiert: „Was ist das für eine Moschee, die durchsucht werden soll? Wa­rum ist die verdächtig? Oder warum wird jenes Gehöft gerade angegriffen? Und wer sind die Aufstandsführer, die man zu schnappen versucht? Das verlangt alle Aufmerksamkeit. Die Angst kommt hinterher. Wenn man wieder zu Hause ist. Da hab ich mich dann schon manchmal komisch gefühlt – aber nie in der Situation selber.“
Er kommt noch mal auf seinen Job zu sprechen, erzählt ganz begeistert, dass er gerne früh aufsteht, dann in seinem Arbeitszimmer am PC sitzt, wenn die anderen noch schlafen, und wie froh er ist, dass er Radio macht, wo er selbst etwas erzählen kann – und kein Fernsehen: „Wer Fernsehen macht, braucht heutzutage Bilder, die sexy sind. Bilder, wo schnell etwas passiert: interessant aussehende Militärfahrzeuge, die röhrend anfahren; Soldaten, die losrennen, irgendwo in Deckung gehen, weiterstürmen.“ Er muss kurz grinsen: „Ich weiß nicht, wie viele Bilder es aus dem Afghanistankrieg gibt, in denen eine Patrouille durch eine Gasse geht – Schnitt – und dann wird mit großem Gerumpel eine Metalltür eingetreten.“ Solche Fernsehbilder würden die Konflikte auf das Militärische reduzieren; auf Angriff und Verteidigung. Gesendet zwischen dem letzten Koalitionsstreit, dem Neuesten zur Gesundheitsreform und dem Wetterbericht, verpackt in einer Minute und 30 Sekunden: „Deswegen verstehen so viele Zuschauer gar nicht, was da wirklich passiert.“ Nachdenklich sagt er: „Die Geschichte fängt doch erst an, wenn die Soldaten mit den Leuten reden, die in dem Haus sind, dessen Tür sie gerade eingetreten haben. So aber lernt man nichts über den Krieg.“


Text: Frank Keil
Foto: Hannah Schuh

Als Buch ist von Marc Thörner zuletzt erschienen „Afghanistan-Code – eine Reportage über Krieg, Fundamentalismus und Demokratie“, Edition Nautilus (2010), 156 Seiten, 16 Euro.

Die Geschichte meines Lebens

Hamburger Journalisten schreiben über die Reportage, die sie am meisten bewegt oder verändert hat. Teil 5: Grimme-Preisträger Michael Richter über Abschiebungen im Morgengrauen

(aus Hinz&Kunzt 159/Mai 2006)

Eine Nacht im November. Ein Trupp der Ausländerbehörde fährt zu einer „morgendlichen Abholung“, wie es in schönem Amtsdeutsch heißt. So bezeichnen die Beamten eine Abschiebung, die sie meist zwischen drei und vier Uhr morgens durchführen. In diesem Fall trifft es die Familie Grajcevci, die das Land verlassen muss. 30 Minuten bleiben den Eltern, um ihre vier Kinder zu wecken, anzuziehen, die nötigsten Sachen in ein paar Taschen zu stopfen und dann in den bereitgestellten Bus der Ausländerbehörde zu steigen.

Der Familienvater protestiert gegen die nächtliche Abholung und regt sich so auf, dass der Notarzt kommen muss. Die Mutter packt mechanisch Babykleidung ein. Die großen Töchter knien geschockt vor ihren Schulranzen auf dem Boden und wissen nicht, was sie mitnehmen sollen, während der kleine Bruder nichts ahnend schläft. Das Ende eines zehn Jahre langen Lebens in Deutschland.

In dieser Nacht begleiten wir die Beamten der Ausländerbehörde. Es ist einer unserer ersten Drehs für einen Film über die Arbeit der Ausländerbehörde in Hamburg. Kameramann Kai Sönnke fühlt sich offensichtlich ebenso unwohl wie ich. Seit zwei Jahren beschäftige ich mich mit der Abschiebung von Flüchtlingen aus Deutschland und habe endlich erreicht, dass wir eine nächtliche Abschiebung tatsächlich filmen können.

Aber jetzt Zeuge zu sein, wie diese Familie im Namen des deutschen Volkes außer Landes geschafft wird, bringt mich an die Grenze meines professionellen Verhaltens. Zu meiner Erleichterung nutzt Herr Grajcevci die Kamera, um seiner Empörung Ausdruck zu verleihen. Er fordert uns auf, die Ausweisung seiner Familie möglichst vielen Menschen zu zeigen. Wir begleiten die Familie noch ein Stück im Bus. Auf der Autobahn nach Bremen steigen wir aus und kehren nach Hamburg zurück.

Das Thema Abschiebung beschäftigte mich, seitdem ich mit einem befreundeten Rechtsanwalt in den Kosovo geflogen war, um einige seiner ehemaligen Klienten zu besuchen. Er hatte sie vergeblich gegen die drohende Abschiebung verteidigt, und wir wollten uns ein Bild machen. Diese Menschen schilderten mir die Umstände ihrer Abschiebung aus Deutschland, die so skandalös waren, dass ich beschloss, darüber einen Film zu machen.

Leichter gedacht als getan. Zunächst lehnten alle Redaktionen das Thema ab. Monatelang versuchte ich, einen Abnehmer für das Filmprojekt zu finden. Erst als sich NDR-Redakteur Werner Grave für das Projekt begeisterte und vorschlug, einen Film über die Hamburger Ausländerbehörde zu machen, konnte ich auf die Unterstützung des Senders zählen.

Zu meinem großen Erstaunen stieß ich bei der Ausländerbehörde nicht auf Ablehnung. Die Arbeit seiner Abteilung werde in der Öffentlichkeit völlig falsch wahrgenommen, sagte Abteilungsleiter Carsten Mahlke. Besonders wichtig war ihm, die tägliche Konfrontation zwischen den Beamten der Behörde und den Ausländern darzustellen, die dort vorstellig wurden. Dennoch dauerte es noch einige Monate, bis alle Widerstände in der Behörde überwunden waren und wir erste Drehtermine im November 2004 vereinbaren konnten – unter anderem den beschriebenen bei der Abschiebung der Familie Grajcevci.

In den nächsten Wochen drehten wir immer wieder in der Behörde. An einem Vormittag wurden mehrere Serben und Roma zu einer Anhörung in die Behörde bestellt. Die Vorgeladenen glaubten, zu einem Routinetermin zu kommen und anschließend wieder nach Hause gehen zu können, während tatsächlich schon der Bus vor der Behörde wartete, um die Abzuschiebenden zum Flughafen zu bringen. Dieses Verfahren erspart der Behörde die Mühe, bei den Unterkünften der „Schüblinge“ vorbeizufahren und sie eventuell nicht anzutreffen.

Routinemäßig wurden alle Vorgeladenen an diesem Vormittag durchsucht. Der Beamte ließ sich alle Gegenstände zeigen, die der Geduldete mit sich führte, und tastete dann, nachdem er sich Handschuhe angezogen hatte, die Person noch einmal ab. Besonders Handys schienen interessant zu sein. Sie mussten ausgeschaltet abgegeben werden. Auf die Nachfrage, weshalb das erforderlich wäre, wurde behauptet, Mobiltelefone könnten als Wurfgeschosse benutzt werden. Der Verdacht liegt allerdings nahe, dass es eher darum ging, eine Kontaktaufnahme zum Anwalt zu unterbinden oder zumindest zu verzögern.

Einem jungen Mann schossen die Tränen in die Augen, als ihm der Beamte seine Abschiebung eröffnete. Fassungslos fragte er: „Aber mein Anwalt hat Ihnen doch einen Brief geschrieben?“ – „Das hat keine aufschiebende Wirkung“, belehrte ihn der Beamte kühl. „Sie wissen, dass sie abgeschoben werden sollen, und heute ist der Tag.“ – „Wie, was?“ der junge Mann verstand nicht. „Wie, was?“, machte der Beamte ihn nach. „Heute werden Sie abgeschoben. Was ist mit Klamotten? Sie fahren jetzt nach Hause, holen ihre Klamotten, und dann geht’s los.“

Wir hatten uns mit unserer Kamera in die eine Ecke des Raumes zurückgezogen, um möglichst unauffällig drehen zu können. Ein Computer vor unserem Kamerastandpunkt lief seit dem frühen Morgen. Als Bildschirmschoner flimmerte ein Satz stundenlang vor unserer Kamera über den Monitor: „Wir buchen, Sie fluchen – mit freundlichen Grüßen der Never-Come-Back-Airlines.“

Sachbearbeiter Sven R. gab sich immer besonders unnachgiebig. Er schien eine besonders harte Linie gegenüber den Abzuschiebenden zu verfolgen. Ich bat ihn, auch bei ihm drehen zu dürfen. Er stimmte bereitwillig zu. Die ersten Klienten wurden schnell abgefertigt, sie wollten auch nicht gedreht werden. Also blieb unsere Kamera aus. Dann betraten zwei junge Frauen den Raum. Elvira Sisic, eine Roma aus Montenegro, hatte eine Begleiterin mitgebracht, weil sie bei der Anhörung nicht alleine sein wollte. Im Gesicht und an den Händen der jungen Roma waren deutliche Verbrennungsspuren zu sehen. Elvira Sisic hatte als einzige einen Brandanschlag überlebt, den serbische Tschetniks auf das Haus ihrer Familie verübt hatten. Es gelang ihr, als Kind zu ihrem Vater zu fliehen, der damals in Deutschland arbeitete. Jetzt drohte ihr der nächste Schicksalsschlag: Bei ihrem Vater war Krebs mit einer Lebenserwartung von sechs Monaten diagnostiziert worden.

Elvira Sisic war ungefähr Mitte 20 und lebte seit etwa 15 Jahren in Deutschland. Nach einem abgewiesenen Asylantrag wurde sie mit ihrem Vater seit vielen Jahren in Deutschland geduldet. Das bedeutete, dass sie alle paar Wochen bei der Behörde vorsprechen musste, um eine Verlängerung ihrer Duldung zu erreichen. In den vergangenen Monaten hatte die Ausländerbehörde den Druck erhöht. Sachbearbeiter R. kannte den Fall. Er hatte Elvira Sisic schon beim letzten Termin eindringlich aufgefordert auszureisen. Wieso sie immer noch da sei, herrschte R. die junge Frau an. Sie wisse doch, dass sie ausreisen müsse. Elvira Sisic erwiderte, dass sie noch eine Duldung von einigen Tagen habe und gerne bei ihrem Vater bleiben wolle, der sehr krank sei. Er habe sonst niemanden. Das interessierte Sachbearbeiter R. nicht. Sie könne ja ausreisen und dann wieder einreisen.

Elvira Sisics Begleiterin, eine Betreuerin der Flüchtlingsberatung „Fluchtpunkt“, wies R. darauf hin, dass eine Wiedereinreise aus Jugoslawien Monate in Anspruch nehmen würde und der Vater bis dahin wahrscheinlich tot wäre. – „Kann der Vater nicht ebenfalls ausreisen?“ Der Sachbearbeiter, der mit dem Fall Sisic schon mehrfach befasst war, gab sich unwissend. – „Der Mann liegt sterbenskrank in einem Krankenhaus.“ – Kein Argument für R.: „Ich könnte Sie jetzt auf der Stelle abschieben. Jetzt, in diesem Moment. Aber ich will das gar nicht, ich will mir diesen Stress gar nicht antun. Ich gebe Ihnen jetzt noch einmal eine Duldung von vier Wochen und wenn Sie dann noch mal hier auftauchen, werden Sie abgeschoben.“ Weinend verließ Elvira Sisic den Raum: „Wieso kann ich nicht bei meinem Vater bleiben?“

Im anschließenden Interview gab sich Sven R. kaltschnäuzig. Als ich ihn fragte, ob es denn stimme, dass eine Wiedereinreise nach Deutschland wegen der Bearbeitungszeit bei den jugoslawischen und deutschen Behörden mehrere Monate dauern würde, antwortete er lapidar: „Einreise? Keine Ahnung. Mein Thema ist Ausreise.“ Er schien die Situation zu genießen. Ich wollte von ihm wissen, ob ihm sein Job Spaß macht: „Das ist doch wunderbar hier. Ich habe ein großes Büro, mit hellen Fenstern, komme viel herum auf den Flughäfen in Deutschland. Super!“

Nicht alle Sachbearbeiter verhalten sich so wie Sven R. Wir filmten aber viele Gespräche, bei denen vor allem eines deutlich wurde: Die Beamten erledigten in der Regel achselzuckend bis genervt und manchmal aggressiv ihre Arbeit. Sie waren die letzte Station vor der Abschiebung und exekutierten die Anordnungen der Gerichte und der Behördenleitung. Eine belastende und frustrierende Situation. Aber keiner von ihnen schien ins Grübeln zu kommen. Bei kaum einem spürte man, dass er sich in die Situation seiner Klientel hineinversetzen würde. Bei den Beamten schien eher, je nach Gemütslage, Routine bis Zynismus vorzuherrschen.

Mehrmals hörte ich: „Wir sehen das sportlich: Entweder gewinnen die oder wir.“ Damit war gemeint: Wir von der Ausländerbehörde sehen uns als Team, das den Wettkampf sucht, und wenn die Leute im Flugzeug sitzen, haben wir gewonnen. Eine Seite, die Ausländerbehörde, bestimmt immer das Tempo. Und wer keinen guten Anwalt für Ausländerrecht hat – und von denen gibt es in Hamburg nicht viele –, der hat fast schon verloren.

Im April 2005, knapp drei Jahre nach Beginn der Recherchen, wurde der Film unter dem Titel „Abschiebung im Morgengrauen“ im NDR ausgestrahlt.

Noch nie habe ich so viele Mails und Briefe zu einem Film erhalten. Die meisten waren ermutigend und unterstützend, einige äußerten allerdings auch, mit den Geduldeten werde noch viel zu nett umgesprungen. Bis heute werde ich zu Veranstaltungen mit dem Film im ganzen Bundesgebiet eingeladen.

Von der Behörde kam monatelang keine Reaktion. Erst im Herbst 2005 schrieb mir Ralph Bornhöft, der Leiter des Einwohnerzentralamtes (der Ausländerbehörde übergeordnet), und beklagte sich über den seiner Ansicht nach tendenziösen Film.

Welche langfristige Wirkung entfaltet eine solche Fernsehdokumentation? Schürt sie nur die Empörung derer, die schon immer gegen die deutsche Abschiebepraxis waren? Mein Eindruck ist, dass der Film einem über Jahre vernachlässigten Thema wieder einen größeren Platz in den Medien verschafft hat. Ich führe keine Statistiken, aber mir kommt es so vor, als würden Fernsehmagazine, Zeitungen und Zeitschriften in den vergangenen Monaten verstärkt über die so belastende Situation von geduldeten Familien berichten und so den Druck auf die Politik erhöhen, diese Praxis zu ändern. Vielleicht – hoffentlich – trügt mein Eindruck nicht.

Michael Richter

1961 in Heidelberg geboren. Seit 1995 freier Fernsehautor und Regisseur. Im April wurde er für den Film „Abschiebung im Morgengrauen“ mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet. 1998 erhielt Richter den Katholischen Journalistenpreis, 1999 den RIAS-Preis für deutsch-amerikanische Verständigung, 2005 den Deutschen CIVIS-Preis. Neben seiner Fernseharbeit veröffentlichte er 2003 ein Buch mit dem Titel „Gekommen und geblieben – Lebensgeschichten türkischer Migranten“.