Barbaras Hummer-Welt
Eine Entdeckungsreise in die Keller des Fischmarkts
(aus Hinz&Kunzt 123/Mai 2003)
Hein Gas präsentiert die Dart-Reportage: Hamburg hat viele unbekannte Ecken. Mit Häusern voller Geschichte und Menschen mit besonderen Lebensläufen. Um sie zu finden, werfen die Reporter einen Dartpfeil auf den Stadtplan. Die Geschichten erzählen von viel menschlicher Wärme oder dem Mangel daran. Diesmal: die Große Elbstraße.
Benommen von der fischigen Salzluft, stolpere ich ziellos zwischen pompösen Designer-Bauten und tristen, schäbigen Häusern durch die Große Elbstraße. Ein Lkw donnert dicht an mir vorüber. Achtern teilt ein Ozeanriese majestätisch das Elbwasser in Back- und Steuerbord. Kreischende Möwen streiten über seiner Heckwelle um aufgewirbelte Fischfetzen.
Am gegenüberliegenden Hafenkai rollen hochbeinige Containerbrücken, wie von Geisterhand gesteuert, exakt über blaue Eisencontainer. Doch den Star dieser Reportage sehe ich nicht. Denn Barbara Pötke arbeitet unter Land, im Keller XII des Altonaer Fischmarkts. Nur wenige Meter unterhalb der Fischbaracken-Tristesse beginnt hier eine andere Welt: die Welt der Barbara Pötke. Die Welt der Hummer.
Es ist mehr Zufall, dass ich ausgerechnet die Treppe zur Großen Elbstraße 210 erklimme. Und großes Glück, dass mich Betriebsleiter Jörg Pöhlmann mit „Hummer-Bärbel“, wie sie von ihren Kollegen gerufen wird, bekannt macht: „Unsere Barbara ist genau die Richtige für Sie. Eine absolute Koryphäe. Selbst die renommierte Hummeraufzuchtstation auf Helgoland bittet sie immer wieder um Rat.“
Wer Bärbel bei der Arbeit zusieht, dem wird schnell klar, warum sie als Expertin gilt. Denn nicht nur ihre 28-jährige Erfahrung mit Hummern beim Fischgroßhändler Goedeken begründet ihre Kompetenz. Vielmehr lernt sie durch den liebevollen Umgang mit den Gliederfüßern, was keine Versuchsreihe jemals herausbekäme: Sie versteht ihre „Lieblinge“ und weiß, was sie wollen.
Wenn Barbaras weiche Finger die empfindsame Schlundpartie der rotbraunen Hummerleiber kraulen, recken sie sich wohlig aus dem Wasser. Tatsächlich scheinen sie ihr taffes Frauchen in den weißen Schlabber-Hosen zu erkennen. Bärbel beugt sich dann noch tiefer über die Salzwasserbecken und kost die Hummer sanft mit „meine Süßen“. Dann greift sie barhändig zwei Hummerrücken heraus und erklärt fachfrauisch den Unterschied zwischen Männchen und Weibchen.
Schon Barbaras Mutter war bei Goedeken beschäftigt. Das Faible für Fisch scheint bei Familie Pötke also bereits in den Genen verankert, und so erstaunt es nicht, wenn die 52-Jährige strahlt: „Ich bin mit den Hummern verheiratet.“ Für einen Ehegatten bleibt da, nach eigenem Bekunden, keine Zeit. Verwendet Bärbel doch ihr ganzes Geschick darauf, die natürliche Umgebung vor der kanadischen Atlantikküste so naturgetreu wie möglich nachzuempfinden: Die Wassertemperatur beträgt acht Grad Celsius, die Luft ist lediglich zwei Grad wärmer.
Drei Pulloverschichten und feste schwarze Stiefel schützen Barbara vor der Kälte. Eine blau-weiße Wollmütze bändigt ihre langen dunkelblonden Haare und hält den Fransenpony aus dem Gesicht. Gegen kneifende Kampfscheren helfen jedoch nur fest sitzende Gummibänder, die die Zangen zusammenhalten, und eine Menge Erfahrung. Deshalb überprüft Bärbel, wie jeden Morgen um sechs, die 15 Wasserbecken auf kraftlose Tiere und gelöste Gummis. Denn nicht nur Barbaras rechter Unterarm wurde bereits Opfer einer Kneifattacke. Die kannibalischen Hummer stürzen sich auch auf geschwächte Artgenossen und „versauen“ anschließend mit ihren Fäkalien das saubere Salzwasser. Normalerweise scheiden die Tiere während ihres Bassinaufenthalts nämlich gar nichts aus: Sie werden einfach nicht gefüttert, denn so bleibt die Wasserhygiene am ehesten erhalten.
Bevor ein Hummer bei Bärbel im Becken landet, wird er vor der kanadischen Küste aus dem Atlantik gezogen. Der Transport von Toronto bis in die Große Elbstraße dauert per Flugzeug zwei Tage, bis zur Verarbeitung vergehen maximal weitere sieben. Denn Frische ist in Bärbels Branche oberstes Gebot.
Täglich frische Aufträge meldet der Flachbildschirm an der weißgekachelten Wand. Gourmets aus ganz Deutschland bestellen hier. Heute sind zehn Tütchen zu je 200 Gramm Hummerfleisch angefordert. Also stiefelt Bärbel hinüber zu den Salzwasserbecken, in denen sich an die hundert Tiere gleicher Gewichtsklasse in den Ecken stapeln. Geschickt greift Barbara einige heraus und setzt sie auf den Boden.
Die Krustentiere genießen es, frei über die Kacheln fegen zu dürfen, bis sie aufgrund von Sauerstoffmangel langsam „schlaff“ werden. Denn Hummer besitzen Kiemen, sie brauchen das Wasser, um atmen zu können. Dies mag brutal klingen, doch Hummerexpertin Barbara ist sicher, dass ihr „Trick“ für die Gliederfüßer angenehmer ist, als bei vollem Bewusstsein in das kochende Wasser geschmissen zu werden: „Als ich unerfahren war, habe ich das noch gemacht. Einige Hummer versuchten dann aus dem Kochtopf heraus zu springen. Schrecklich. Heute lasse ich sie vorher dösig werden, dann bekommen sie vom Abkochen gar nichts mehr mit.“
Und so fischt Bärbel die „betäubten“ Hummer nach einigen Stunden aus den Ecken und sammelt sie in einem Sieb. Sie lehnt sich gegen die schwere Eisentür und trägt ihre dösigen „Lieblinge“ hinüber zum Verarbeitungsraum. Doch diese Tür ist für Bärbel nicht nur eine Tür, nicht nur eine Möglichkeit von einem Raum in den nächsten zu gelangen. An dieser Tür legt Barbara ihre Gefühle ab. Die reglosen Tiere in ihrem Sieb sind jetzt bestellte Hummerware, 200-Gramm-Tütchen, und nicht mehr ihre „Süßen“. Ein Glück, dass Barbara scheinbar so rigoros zwischen beiden Bereichen trennen kann: „Sonst würde das jemand anders machen. Und der wäre sicher nicht so rücksichtsvoll“, sagt sie, und es klingt fast, als wolle sie sich bei den Tieren entschuldigen. Also versenkt Bärbel das Sieb mit den dahindämmernden braunen Hummern im schäumenden Wasser des riesigen Kochbassins und schließt den Deckel. Nach zehn Minuten wuchtet sie die nun wunderschön rotleuchtenden Tiere heraus und schreckt sie, „wie Frühstückseier“, unter kaltem Wasser ab.
Doch nicht alle Hummer landen in Keller XII zwangsläufig unterm Messer. Der schöne Leo genoss für sechs Jahre das angenehme Leben eines Hummer-Dressmans. „Wie ein treuer Hund“ flitzte er jeden Morgen zur Schaubeckenscheibe, um sein Frauchen zu begrüßen. Und abends schien es Bärbel, als wolle er sie nach Hause begleiten. Als Leo weiter wuchs und seine dritte Häutung nicht überlebte, begrub Barbara ihren „Liebling“ im heimischen Garten in Bergedorf.
Einen neuen Leo hat sie derweil noch nicht gefunden, und so legt sie die Hummerleiber auf ihre Papierunterlage und beginnt die noch dampfenden Tiere zu zerteilen. Mit geübten Schlägen knackt sie die harten Panzer, Fleischstückchen spritzen durch den Raum, ein Fetzen bleibt auf ihrer Stirn kleben. Tack, tack, tack klingt der Dreiertakt, mit dem ihr kleines schwarzes Messer über die Hummerscheren tanzt. Als sich schließlich ein weiß-roter Fleischberg angesammelt hat, holt Barbara die 200-Gramm-Plastiktütchen und portioniert die Delikatesse nach Augenmaß.
Gegen 16 Uhr säubert „Hummer-Bärbel“ ein letztes Mal den Arbeitsplatz, sagt ihren Lieblingen „Gute Nacht“ und löscht das Licht. Für die Tiere ist die Dunkelheit das Signal zur Beutejagd, und so beginnen sie triebgesteuert in ihren kleinen Bassins umherzuwuseln, auch wenn es gar nichts zu erlegen gibt. Manchmal schleicht Barbara dann mit der Taschenlampe durchs Dunkel und beobachtet ihre „Süßen“. „Wenn es den Tieren gut geht, geht es auch mir gut“, verabschiedet sie sich und stellt das letzte Tütchen mit Hummerfleisch in den Styroporkarton.