„Scheiße ist das, wenn du hier landest“

Auch in diesem Winter haben viele Obdachlose trotz klirrender Kälte draußen geschlafen, anstatt die städtischen Notunterkünfte zu nutzen. Warum? Fabian Zühlsdorff und Hanning Voigts haben getarnt als Obdachlose eine Nacht im Notasyl Pik As verbracht – und Antworten gefunden.

(aus Hinz&Kunzt 206/April 2010)

Seit mehr als einer Stunde liege ich wach. Es ist halb drei Uhr nachts, und obwohl ich zum Umfallen müde bin, kann ich nicht einschlafen. Im Bett unter mir liegt ein Mann, der sich ununterbrochen kratzt. Durch das Kratzen wackelt und quietscht das metallene Doppelstockbett, außerdem quält mich die Frage, ob mein Bettnachbar eine ansteckende Hautkrankheit hat. Aber auch sonst finde ich im Zimmer 412 der Notunterkunft Pik As keine Ruhe. In einem Raum sind hier 13 Männer untergebracht, nur eines der 14 Betten ist leer. Es riecht nach Schweiß und ungewaschenen Körpern. Nur zwei der Männer scheinen zu schlafen, zumindest schnarchen sie laut. Wie soll ich hier erholsamen Schlaf finden?

Dabei ist mein Aufenthalt im Pik As bisher besser verlaufen als erwartet. Nachdem Hinz&Kunzt-Autor Ulrich Jonas im Dezember 1999 eine Nacht hier verbracht hatte, berichtete er von überforderten Mitarbeitern, exzessivem Alkoholkonsum der Bewohner und skandalösen hygienischen Zuständen. Mittlerweile hat sich einiges geändert: Betrunkene sind heute kaum zu sehen, die Toiletten sind sauber, das Haus ist einigermaßen ruhig.
Vier Stunden zuvor: Unser Aufenthalt im Pik As beginnt gegen 22 Uhr mit einem überraschend freundlichen Empfang. „Wie, ihr habt keine Ausweise dabei?“, fragt uns ein Mitarbeiter erstaunt. Wir schütteln den Kopf. „Na, dann müsst ihr beide uns einfach eure Namen und  Geburtstage aufschreiben“, meint er versöhnlich. „Trinkt erst mal einen Kaffee, meine Kollegin kümmert sich gleich um euch.“

Wir ziehen uns am Automaten einen kostenlosen, dünnen Kaffee. In der Ecke der neonbeleuchteten Eingangshalle kriechen gerade drei junge Männer auf dem nackten Fußboden in ihre Schlafsäcke. Sie reden laut auf Spanisch miteinander. Und im Gegensatz zu uns scheint ihnen die triste Atmosphäre hier nicht die Laune zu verderben. Das seien arme Teufel ohne deutschen Pass, die hier kein Recht auf ein Bett hätten, erklärt uns der Mitarbeiter: „So haben sie bei der Kälte wenigstens ein Dach über dem Kopf.“
Kurz darauf nimmt eine Mitarbeiterin unsere Daten auf. „Wir haben für euch nur noch Platz in einem der Notaufnahmezimmer“, sagt sie entschuldigend, „da schlafen schon mehrere, und besonders hygienisch ist es auch nicht.“ Während sie uns jeweils ein belegtes Brötchen, Decken und frische Bettwäsche in die Hand drückt, schärft sie uns ein: „Ihr müsst auf eure Wertsachen aufpassen.“ Diese Warnung haben wir schon oft gehört. Hinz&Künztler berichten immer wieder von nächtlichen Diebstählen im Pik As.

In Zimmer 412 wird mir schnell klar, dass ich hier kein Auge zumachen werde. Die Luft ist zu unangenehm, die Atmosphäre zu unruhig. Wieder auf dem Flur treffen wir Rolf *, der sich gerade umständlich eine Zigarette dreht. Er trägt einen geflochtenen Bart und hat bis vorgestern auf der Straße geschlafen. „Alle paar Minuten fuhr ein Auto an mir vorbei“, sagt er, „da kriegst du kein Auge zu.“ Ich frage ihn, wie es ihm im Pik As gefällt. „Es ist ruhiger“, sagt Rolf langsam, „aber die Luft ist so schlecht und trocken.“

Im Treppenhaus kommt uns ein alter Mann in zerschlissenen Jeans entgegen. Er trägt keine Schuhe, seine schorfigen Hände und Füße stecken in schmutzigen Verbänden. Lallend fragt er mich nach einer Zigarette. „Danke Mann, du bist der Boss“, sagt er, als ich ihm eine gebe. Sein Anblick ist deprimierend. Der Alte tut mir leid. Im Aufenthaltsraum ist die Stimmung besser. Im Fernsehen läuft der Hollywood-Western „Der mit dem Wolf tanzt“. Die Film-Idylle mit Indianern und weiter Prärie will nicht so recht zu dem spartanisch eingerichteten Zimmer passen, aber immerhin ist der Raum sauber und dient nicht mehr vorrangig zum Trinken wie noch vor zehn Jahren. Neben Fabian und mir sitzt Arne, ein junger Punker mit roten Haaren. „Mit 18 bin ich zu Hause abgehauen, hab meine Lehre geschmissen, mal hier und mal da gepennt“, erzählt er. Nach Hamburg ist er wegen seiner Freundin gekommen, die hat ihn im September 2009 aus der Wohnung geworfen. „Seitdem schlag ich mich so durch“, sagt Arne. Das Pik As stört ihn nicht, er ist froh über die Unterkunft: „Ich stelle kaum Ansprüche.“

Als der Aufenthaltsraum gegen ein Uhr früh geschlossen wird, gehe ich kurz an die frische Luft. Im Innenhof stehen zwei junge Männer mit Bierdosen in der Hand. Der eine guckt mich plötzlich an. „Und du musst hier pennen?“, fragt er. Ich nicke. „Scheiße ist das, wenn du hier landest“, meint er, „hast du wenigstens ein Einzelzimmer?“ Ich verneine. „Ach du Scheiße“, sagt er und sieht mich mitleidig an. Ich schäme mich ein bisschen, ihm etwas vorzuspielen.
Um halb zwei Uhr gehe ich ins Zimmer 412 und lege mich ins Bett. Ich fühle mich unwohl, an Schlaf ist nicht zu denken. Fabian nickt immerhin für zwei Stunden ein. Gegen fünf Uhr halte ich es einfach nicht mehr aus. Als wir zum Ausgang gehen, schlafen in der Eingangshalle sieben Menschen, einige einfach gegen die Wand gelehnt.

* alle Namen geändert

Die Kosten der Übernachtung in Höhe von 24 Euro pro Person haben wir an fördern und wohnen überwiesen.

Das Pik As in der Neustädter Straße 31a ist Hamburgs zentrale Notunterkunft für obdachlose und wohnungslose Männer. Getragen wird es vom städtischen Unternehmen fördern und wohnen. Das Haus hat derzeit 190 Betten, zumeist in Vier-Bett-Zimmern. Außerdem gibt es 24 Einzelzimmer, in denen die Bewohner auch Hunde halten können. Das Pik As ist verpflichtet, jederzeit allen
obdachlosen Männern einen Schlafplatz zur Verfügung zu stellen.
Von November 2009 bis Februar 2010, während des Winternotprogramms für Obdachlose, haben im Schnitt 167 Menschen pro Nacht in der Notunterkunft geschlafen.
Obwohl das Pik As nur eine vorübergehende Notlösung sein soll, leben einige Bewohner seit vielen Jahren dort, darunter auch einige Hinz&Künztler. Das Winternotprogramm wird nach Angaben von fördern und wohnen in diesem Jahr am 15. April enden.


„Wir sind doch kein Hotel!“: Wie es Hinz&Kunzt-Autor Ulrich Jonas vor zehn Jahren ging, als er eine Nacht im „Pik As“ verbrachte

Hornköppe spielen Stadtmusikanten

Es wird ernst: Ein halbes Jahr, nachdem die Hornköppe sich zum ersten Mal getroffen haben, stehen sie jetzt so richtig auf der Bühne.

Den ersten Durchlauf mit Kulissen, Kostümen und vor Publikum spielen die wohnungslosen Laienschauspieler vor Bewohnern der fördern und wohnen-Senioreneinrichtung in Groß Borstel. Die Senioren freuen sich über einen abwechslungsreichen Abend und eine originelle Interpretation des Märchens von den Bremer Stadtmusikanten – und nehmen es den Laienschauspielern kein bißchen übel, dass für die ein oder andere Szene vor der großen Premiere noch geprobt werden muss. Wir waren beim Kostüm-und-Kulissen-Durchlauf dabei…

DAS STÜCK

Die Fabel von den bremer Stadtmusikanten wird bei den Hornköppen zur Geschichte einer Hausbesetzung: