Die Pfandfrauen
Wie Zeitarbeiterinnen sich durchschlagen
(aus Hinz&Kunzt 130/Dezember 2003)
„Pfandfrauen? – 25-Cent-Weiber wär’ besser“, sagt Gabi Heinrich (Name geändert) und lacht das erste Mal. Ein halbes Dutzend weiß bekittelter Frauen lungert in einem schmalen Flur. Sie warten. Auf Arbeit. Für 5,20 Euro pro Stunde sortieren sie Pfandgut am Fließband. Zeitarbeiterinnen.
Die einfache Halle in einem Hamburger Industriegebiet ist kalt und kameraüberwacht. Keine Dose verlässt unbemerkt das Gelände. Diebstahl wird mit sofortiger Entlassung geahndet. Und nicht nur der eigene Arbeitsplatz ist dann futsch, auch die der anderen hätte die Übeltäterin auf dem Gewissen. So zumindest stellt es der Schichtleiter dar, zeigt auf die Kameras. Alle Köpfe folgen seinem Finger wie dem Tennisball beim spannenden Match.
„Der Ton war nicht okay“, sagt Gabi Heinrich. Sie hat das Angebot der Zeitarbeitsfirma, bei der sie angestellt ist, angenommen – aus Angst davor, entlassen zu werden und in der Folge wegen „selbstverschuldeter Kündigung“ vom Arbeitsamt kein Geld zu bekommen. Nur einmal hat sie sich geweigert: als sie bei einer Firma arbeiten sollte, bei der die Arbeiter gerade streikten. „Das mache ich nicht, ich bin keine Streikbrecherin“, sagt sie. Begeistert war sie vom neuen Job von Anfang an nicht – auch wegen der Arbeitszeiten: Sechs-Tage-Woche, Früh- und Spätschicht im Wechsel. Doch neben der Angst vor der Armut weiß die 42-Jährige, dass Arbeit für sie wichtig ist, ihr Halt gibt. „Ich arbeite gerne, so krank sich das anhört“, sagt sie.
Ein Dutzend Frauen stehen an dem Fließband in der Mitte der Halle. Die Männer entladen und füllen das Pfandgut in Kisten, laden diese auf Rollbänder, die zu den Frauen und dem Fließband führen. Die Maschinen dröhnen, Metall und Glas scheppern. Die Frauen scannen und sortieren die Einweggetränkeverpackungen – in der Mehrzahl leere Bierdosen. Piep. Zerbeult, gepresst, gequetscht. Piep. Wut, Langeweile oder vielleicht nur überschüssige Kraft haben ihren Abdruck hinterlassen. Piep. Glas nach oben, Dosen und Plastikflaschen nach unten. Piep. Der Geruch erinnert an Fußgängerunterführungen und den Morgen nach der Party.
„Ich habe mich ausgeschaltet im Kopf, so richtig wie mit einem Hebel, klick, alles abgeschaltet, nur noch das Piepen gehört“, sagt Gabi Heinrich. Die Arbeit selbst sei okay, nur „definitiv zu anspruchslos“. Dabei sind ihre Ansprüche an einen Job bescheiden. Im Lager hat sie gerne gearbeitet: kommissionieren, Waren zusammenstellen und versandfertig machen. Auch den Umgang mit Computern lernte sie nach anfänglichen Berührungsängsten. Heute bereut sie, dass sie keine Ausbildung hat. Nach dem Hauptschulabschluss begann sie eine Friseurlehre. Doch sie fühlte sich unwohl bei dem alten Lehrmeister, kam in der Berufsschule nicht mit und hatte obendrein familiäre Probleme. Sie brach die Lehre ab und floh aus dem Elternhaus. „Ich hab’s da nicht mehr ausgehalten, wegen meinem Vater – das typische Klischee, aber es ist halt so. Der hat mich verprügelt und so. Irgendwann stand ich mal mit einem Messer vor ihm, und da habe ich gemerkt, das geht nicht mehr. Entweder ist er bald tot oder ich“, sagt sie.
Sie lebte auf der Straße, bis sie mit 20 schwanger wurde. Erst lebte sie im Mutter-Kind-Heim, später bekam sie eine Wohnung. Über die Hamburger Arbeit (HAB) fand sie einen Job und schließlich einen festen Arbeitsplatz für sechs Jahre. Das war Mitte der neunziger Jahre. Dann wurde sie entlassen – wegen betrieblicher Einsparungen. Seitdem schlägt sie sich mit Zeitarbeit durch.
Eine Familie könnte sie von den rund 900 Euro monatlich, die sie am Sortierband verdient, nicht ernähren. Gabi Heinrich hat Glück: Ihre Tochter ist erwachsen und verdient ihr eigenes Geld; sie selbst lebt mit ihrem Freund in einer kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung. Der Freund hat einen besser bezahlten Job – zu zweit kommen sie über die Runden. Der neue Arbeitsplatz liegt am Ende der Welt. Industriegebiet.
Schrottberge türmen sich, und Lastwagen bringen immer mehr davon. Hier wirkt die Recyclingbranche. Das Geschäft mit dem Pfand steht noch am Anfang und läuft etwas schleppend an. Viele Stunden verbringen die Pfandfrauen mit Warten. Die Rauchschwaden sind zum Zerschneiden dick. Karten spielen, reden, Zeitschriften blättern. Nichts ist schlimmer als Langeweile.
„Ich muss immer was tun“, sagt Stephanie Helms, reißt blitzschnell die Zuckertütchen auf, schüttet reichlich in ihren Kaffee und rührt kräftig. Wichtig für sie sei vor allem, dass die Zeit schnell vergeht bei der Arbeit. Den Job findet sie ganz gut. Nur der Gestank stört sie. „Ich bin keine Biertrinkerin“, erklärt sie knapp. Die 24-Jährige hat sich den Job selbst gesucht. Bei ihrem alten Arbeitsplatz im Lager und Versand hat sie gekündigt. Sie fühlte sich wohl, Arbeit und Bezahlung waren gut. Aber es gab ein privates Problem mit ihrer Schwester, die auch dort arbeitete. In der verbliebenen Woche Urlaub, die sie noch hatte, hat sie sich über die Zeitarbeit den Dosenjob besorgt.
Zum Arbeits- oder Sozialamt will sie nicht. „Weil mich der ganze Scheiß ankotzt, Formulare ausfüllen und so, da findest du schneller Arbeit, als dass du dein Arbeitslosengeld kriegst. Ist so. Das habe ich oft genug gehabt“, sagt sie und lässt keine Zweifel zu. Sie würde alles machen, um nicht von der Sozialhilfe zu leben, sagt sie. „Ich würd’ sogar Toiletten putzen.“
Gelernt hat sie im Einzelhandel, Bereich Feinkost. Das war Zufall. Sie war eingesprungen. „Weil meine Cousine unter einer Fleischallergie leidet, habe ich nach der Hauptschule einen Ausbildungsplatz bekommen.“ Der Start ins Arbeitsleben war ein Flop. Sie habe nichts gelernt, sondern – tatsächlich – Toiletten putzen müssen. Sie wechselte den Betrieb und beendete die Ausbildung fast. Nur die Prüfung hat sie nicht. Durch die erste ist sie durchgefallen, bei der zweiten war sie krank. Jetzt will sie dahin nicht mehr zurück. Das Thema ist für sie abgehakt. Ihre beste Freundin Jessica schaltet sich ein: „Aber mir hast du in den Arsch getreten, als ich abbrechen wollte.“ Stephanie antwortet: „Ja, das war ja auch gut so.“
Am vierten Tag spricht einer der Schichtleiter eine scharfe Verwarnung aus an alle, vor allem an die Männer. „Jeder ist hier ersetzbar“, ruft er in Erinnerung. Die Angst um den Arbeitsplatz macht sich breit. Ein kleiner, zarter Anfang-20-Jähriger rutscht während der Predigt nervös auf dem Stuhl hin und her und murmelt Entschuldigungen vor sich hin. Kaum hat der Schichtleiter den Raum verlassen, raunzt er den einzigen farbigen Kollegen neben sich herausfordernd an: „Hast Du schon ein Lob bekommen? He? Ich hab schon drei gekriegt.“ Drei Minuten später hat er einen handfesten Streit vom Zaun gebrochen, der sein vorläufiges Ende nur durch das beherzte Schlichten der Kollegen findet.
Stephanie Helms will bleiben; sie ist noch in der Recyclingbranche tätig. Gabi Heinrich wird am Ende der ersten Woche zum Schichtleiter gerufen. Eine gute Nachricht: Sie brauche nächste Woche nicht wiederzukommen. Ein anderer Kunde der Zeitarbeitsfirma, bei dem sie lieber gearbeitet hatte, habe sie angefordert. Gabi Heinrich freut sich, wenn auch nur kurz. Zwei Tage später erfährt sie, dass sie belogen wurde. Das Recyclingunternehmen hatte sie gekündigt.
Annette Scheld
Ab 1. Januar 2004 gilt erstmalig ein Mantel- und Entgelttarifvertrag zwischen den Mitgliedsgewerkschaften des Deutschen Gewerkschaftsbundes und den Arbeitgeberverbänden der Zeitarbeitsunternehmen. In der niedrigsten Gruppe, zu der auch die Pfandfrauen gehören, werden dann 6,85 Euro pro Stunde gezahlt.