Der Episodenfilm „Lichter“ erzählt mit rauer Poesie von Menschen und ihren Träumen
(aus Hinz&Kunzt 126/August 2003)
Der Morgen graut. Ein Lastwagen holpert einen Waldweg entlang und stoppt. Aus dem Laderaum klettern ein Dutzend Menschen. Der Fahrer kommandiert: „Aussteigen! Wir sind da! Ich sage es nur einmal. Hört gut zu! Ihr versteckt euch jetzt den ganzen Tag im Wald. Wenn es dunkel wird, geht ihr die Straße bis zu den ersten Lichtern runter. Beim ersten Haus links werdet ihr erwartet. Von dort bringt man euch in die Stadt.“
Doch niemand wartet auf die Flüchtlinge aus der Ukraine. Und die Lichter, die in der Ferne leuchten, sind auch nicht Berlin, sondern Sublice, eine polnische Kleinstadt an der Oder. Erst auf der anderen Seite des Flusses liegt Deutschland. Für die Flüchtlinge platzt ein Traum. Doch sie geben nicht auf. Einige versuchen es auf eigene Faust, andere – wie Anna und Dimitri mit ihrem Baby – suchen verzweifelt nach Helfern.
Auch Ingo gibt nicht auf. Er glaubt in Frankfurt/Oder mit einem Matratzen-Discounter das große Geschäft machen zu können. „Ein Drittel seines Lebens liegt der Mensch im Bett. Das haben die hier nur noch nicht kapiert. 20 Prozent Arbeitslose. Was meinen Sie, was die den ganzen Tag machen? Na? Liegen im Bett. Schon wieder ’n Grund für ’ne gute Matratze.“ Ingo ist Macher und Macker zugleich. Für eine Werbeaktion engagiert er ein paar Arbeitslose und scheucht sie mit Matratzen behängt durch die Straßen. Er ist ständig in Bewegung – und doch zieht es ihn unaufhaltsam abwärts. Bei einer Polizeikontrolle kommt es raus: Den Führerschein musste er schon vor drei Monaten abgeben. Betretenes Schweigen. Mit den Augen sucht Ingo den Boden ab, mit der Hand schiebt er nervös seine Brille zurecht. Sekunden werden zu einer Ewigkeit. Und dies ist nur der Anfang von Ingos Geschichte.
„Das ist so einer, dem fällt das Ei runter und dem wird die Milch sauer im Kühlschrank. Der ist einfach so“, sagt Schauspieler Devid Striesow, der den Ingo spielt. Ingo kämpft mit allen Mitteln, ohne Rücksicht auf Verluste und fällt doch immer tiefer. Sein Aktionsgeist, die Visionen und Energie der Figur haben Striesow für die Rolle begeistert.
Nach dem passenden Schauspieler für die Rolle des Ingos haben sie am längsten gesucht, berichtet Autor und Regisseur Hans-Christian Schmid. „Lichter“ ist Schmids vierter Kinofilm. Ein Episodenfilm. Ort und Zeit verbinden die Geschichten unterschiedlicher Menschen, die alle mehr oder weniger direkt mit der Grenze zu tun haben: Sie leben hier, sind auf der Durchreise, oder wollen einfach nur weg. Zum Beispiel der polnische Taxifahrer Antoni, der dringend Geld braucht für das Kommunionskleid seiner kleinen Tochter. Doch alles läuft schief. Bei der zusätzlichen Nachtschicht mit dem Taxi baut er einen Unfall. In seiner Not versucht er sich als Fluchthelfer.
Aber ein Strom wie die Oder lässt sich nicht einfach durchschwimmen. Am Ende weiß Antoni sich nicht anders zu helfen und wird zum gemeinen Dieb. Oder Philip, der junge Architekt aus dem Westen. Sein ganzer Stolz, eine von ihm entworfene Glasfassade eines großen internationalen Bauprojekts, wird bei einem Geschäftsessen im Vorbeigehen eingespart. So entsteht ein ganzes Geflecht von Geschichten, die, elegant miteinander verknüpft, nicht nur vom Kampf um das Glück, sondern vor allem auch vom Scheitern erzählen.
Bekannt und erfolgreich geworden ist Schmid vor allem mit den Teenagerkomödien „Nach fünf im Urwald“ und „Crazy“. Der neue Film ist ein Drama vor aktuellem politischen Hintergrund, in dem die Menschen immer wieder an Grenzen stoßen. Ernste Stoffe haben es bekanntlich schwerer an der Kinokasse als Komödien und Actionfilme. „Ist halt nicht Arnold Schwarzenegger“, meint Devid Striesow und wünscht sich Akzeptanz und Interesse auch für die Art, wie in „Lichter“ Geschichten erzählt werden.
Diese Art des Erzählens, ihre Poesie und Anziehungskraft wurzelt vor allem in einem mitfühlenden und zärtlichen Blick auf die Menschen, von denen erzählt wird. „Mit all dem, wofür die Figuren stehen, wofür sie kämpfen, imponieren sie mir auch, bei allen sehe ich diesen Funken“, sagt Schmid. Er fühlt sich Sonja am nächsten. Die junge Dolmetscherin hilft Kolja, einem der ukrainischen Flüchtlinge, der bei der Flucht durch die Oder vom Bundesgrenzschutz festgenommen wird. Gegen den Widerstand ihres Freunds bringt sie Kolja über die Grenze.
Maria Simon spielt die Sonja und sieht eine große Qualität in ihrer Geschichte. Denn „Sonja hat eine Entscheidung getroffen, einem ganz persönlichen Ideal zu folgen und auch die Konsequenzen zu tragen. Möglicherweise scheitert sie auch daran und muss dafür büßen.“ Die junge Schauspielerin beklagt, dass in Deutschland Scheitern oft gleichgesetzt wird mit Versagen und dem Gefühl von Wertlosigkeit. Doch „Stärken und Schwächen, Freud und Leid – das wechselt sich ab“, wendet sie ein. Im Leben wie im Film.
Die Grenze, der Osten – den beiden Schauspielern waren die Orte bereits vor den Dreharbeiten vertraut. Maria Simon ist in Leipzig aufgewachsen, ihre Mutter kommt aus Russ-land. Devid Striesow hat in Rostock gelebt. Er kennt den speziellen Charme der Plattenbausiedlungen gut, durch die seine Figur Ingo ketterauchend streift.
Für Autor und Regisseur Schmid war die Ostgrenze neu. Er ist von München nach Berlin gezogen und dann am Wochenende einfach mal losgefahren. Nur eine Autostunde liegt Frankfurt/Oder von der Hauptstadt entfernt. Den Ort fand er von Anfang an spannend. Die Idee zu „Lichter“ gehe aber auf viele einzelne Momente zurück, so Schmid. Schon vor zwei Jahren fiel ihm ein Artikel in die Hände über Menschen, denen man vergegaukelt hatte, sie seien nahe London. Tatsächlich hatte man sie in einem Wald in Polen abgesetzt. Er fragte sich, wie es weitergeht mit diesen Menschen. Mit dem Formulieren von Botschaften ist Schmid vorsichtig. Er wünscht sich, dass „man nachdenkt über die Zusammenhänge zwischen Arm und Reich, zwischen einer EU, die Mauer hochzieht, und anderen Leuten, denen man es verwehrt, auf dieses Gebiet zu kommen.“
Schauspielerin Maria Simon ist direkter. Sie weiß sehr genau, was sie sich wünscht: „Dass die Leute aus dem Film kommen und denken: Meine Fresse, mir geht es gut, ich habe doch da irgendwie eine Verantwortung, etwas zu machen.“
Annette Scheld