Leben im Spagat
Mariia Zaritska war Schülerin des Kyiv State Ballet, bis sie vor dem Krieg nach Hamburg floh. Seitdem wartet sie darauf, in die Ukraine zurückkehren zu können – und tanzt jeden Tag.
Mariia Zaritska war Schülerin des Kyiv State Ballet, bis sie vor dem Krieg nach Hamburg floh. Seitdem wartet sie darauf, in die Ukraine zurückkehren zu können – und tanzt jeden Tag.
(aus Hinz&Kunzt 148/Juni 2005)
„Tanzen ist kein Job für mich, sondern eine Erfüllung. Etwas auszudrücken, was ich in mir finde, ist mir noch viel wichtiger, als eine Technik in Perfektion vorzuführen“, sagt der 30-Jährige. Jung, der seit 1994 zum Ensemble gehört und 1998 zum Solisten avancierte, ist eine Ausnahme: Unter den 56 Tänzern der Hamburger Compagnie ist er der einzige Deutsche. „Für einen Jungen hierzulande ist der Tänzerberuf offensichtlich kein Wunschziel“, sagt er. „Fußballer oder Tennis-Profi zu werden ist bestimmt verlockender. Viel Geld verdient man als Tänzer auch nicht.“
(aus Hinz&Kunzt 124/Juni 2003)
Da weiß man doch sofort, welcher der Zwillingsbrüder Bubenícek welcher ist: Der da im blauen T-Shirt, der da so ruhig und manierlich mit seinen Tänzerkollegen am Kantinentisch sitzt und parliert, muss Otto sein, Erster Solist am Hamburg Ballett, Entdeckung von John Neumeier. Und der da, der gerade reinkommt, sich schwungvoll hinsetzt und gleich den ganzen Tisch zum Lachen bringt, ist natürlich sein Zwillingsbruder Jirí, ebenfalls Erster Solist am Hamburg Ballett und natürlich auch eine Entdeckung von John Neumeier. Denn Otto, so weiß der Experte, ist der Zurückhaltendere von beiden, der oft die melancholischeren oder tieferen Rollen bekommt, Jirí der Quirligere, der jetzt auch eigene Choreografie-Projekte hat.
Pustekuchen, natürlich ist es genau umgekehrt. Aber später beim Gespräch in der Bibliothek des Ballettzentrums rückt alles wieder an seinen Platz. Jirí, der gerade eine Miniskusoperation hinter sich hat, trommelt mit den Fingern auf die Tischplatte, antwortet schnell und man spürt, da will einer ganz schnell wieder auf die Bühne. Otto dagegen sinniert den Bruchteil einer Sekunde länger – und kommt deswegen oft nicht ganz so schnell zu Wort.
Zehn Jahre sind die 28-jährigen eineiigen Zwillinge jetzt bei John Neumeier in Hamburg. Der Ballettchef hatte die Brüder einige Zeit zuvor bei einem Wettbewerb in Lausanne entdeckt. Neumeier saß mit in der Jury, die beiden gewannen den ersten Preis, und Neumeier bot ihnen an, in seine Ballettschule nach Hamburg zu kommen. Aber die beiden zeigten gutes Selbstbewusstsein. „Wir gingen in Prag schon auf eine gute Schule“, sagt Jirí. „Die wollten wir zu Ende machen.“
Nach dem Konservatorium, beide waren inzwischen 18 Jahre alt, fragten sie nochmal bei Neumeier an und wurden ins Ensemble aufgenommen. Wieder mal ein Abschied. Das kannten die Gebrüder Bubenícek schon seit ihrer Kindheit. Otto fiel er immer besonders schwer.
Die beiden Brüder stammen aus einer tschechischen Zirkusfamilie. Bis sie acht Jahre alt waren, fuhren sie mit ihren Eltern, Akrobaten, mit den anderen Artisten und Tieren durch die Lande. Unterrichtet wurden sie mit acht anderen Kindern in einer Art Zwergenschule. „In der ersten Reihe saßen die Erstklässler, in der zweiten die Zweitklässler, in der dritten die Drittklässler“, zählt Jirí auf. Und so weiter. Für die Geschwister gabs allerdings kein Undsoweiter, sondern ihren ersten großen Abschied. Sie sollten auf eine richtige Schule gehen – und tanzen lernen. „Darauf legte unser Vater großen Wert“, sagt Jirí. Ballett galt zumindest in ihrer Familie nicht etwa als affektiert und als nur etwas für Mädchen. „Unser Vater war der Meinung, dass man so am besten eine elegante Haltung und Körperbeherrschung lernt.“
Richtig Lust dazu hatten die Jungs zuerst trotzdem nicht, denn sie mussten ihr Zirkusleben aufgeben und nach Prag zu ihrer Großmutter übersiedeln. „Das war zwar toll“, sagt Otto, aber er erinnert sich immer noch daran, dass die Eltern mal fünf Monate lang auf Tournee in Japan waren. „Ich hab sie schon sehr vermisst.“
Trotzdem: Das Tanzen wurde zur großen Leidenschaft. Prag zu verlassen und weg in die große Welt zu gehen, „war immer unser Traum“, sagt Jirí heute. Unbekümmert sagt er das. Auch den Umzug in den Westen hat er gut gewuppt. „Ich habe gerade anfangs meine Freunde sehr vermisst“, sagt Otto. „Und auch, dass ich nicht mehr in meiner Sprache sprechen konnte.“
Nicht nur in dieser Zeit waren sich die beiden eine große Stütze. Schließlich verbringen sie den ganzen Tag in der Ballettschule zusammen. Getrennt waren die Brüder höchstens mal für einen Monat. In den Ferien. Und selbst da reißt die innere Verbindung nicht ab: Vor ein paar Jahren waren sie beide – wieder mal – getrennt im Urlaub. Otto in Monte Carlo und Jirí in Florida. „Wir riefen gleichzeitig bei unserer Mutter an, der eine auf der einen Leitung, der andere auf der anderen, um sie zu fragen, wie es dem jeweils anderen geht.“
Wohnen tun die beiden allerdings nicht zusammen. Otto lebt in der Nähe der Schule in Hamm, Jirí in Winterhude. Und worauf alle Geschwister neidisch sein können: „So etwas wie Eifersucht gibt es zwischen uns nicht“, sagt Jirí, und sein Bruder nickt. Nicht mal in puncto Frauen. „Wir haben einen unterschiedlichen Geschmack“, sagt Otto. „Jirí hat immer ruhigere Freundinnen, ich eher verrückte.“ Davon hat Otto allerdings gerade genug. „Ich bin momentan Single.“ Natürlich streiten sich die beiden auch mal, „allerdings nur über die Arbeit.
Wir sind schließlich zwei ganz unterschiedliche Persönlichkeiten.“ Und selbst eine Trennung können sich die beiden vorstellen. „Wenn wir beide Frauen haben“, sagt Otto. „Es ist schließlich leichter, nur für zwei Menschen zu entscheiden als für vier.“ Jirí hofft, dass das bald der Fall sein wird. Er wünscht sich eine Familie. Und: „Ich bin auch bereit, mein eigenes Leben zu leben. Und ich glaube jetzt schon manchmal, dass wir ein zu enges Verhältnis haben.“
Auf der Bühne allerdings kann es beiden nicht eng genug sein. „Ich will nicht besser sein als Otto“, sagt Jirí über gemeinsame Auftritte. „Aber ich will ihm ganz nah sein, nur mit ihm kann ich eine richtige Harmonie herstellen“, sagt er. „Deswegen können wir hervorragend synchron tanzen.“ Besonders macht sich das beim Pas de Deux bemerkbar. „Das ist schon sehr speziell“, sagt Jirí. Nicht zuletzt deshalb, weil diese Schrittfolge für Zwei normalerweise ein Mann und eine Frau tanzen.
Vorerst allerdings freuen sich die Brüder auf ihren Wiedereinstieg ins aktive Tanzen. Denn nicht nur Jirí war krank, sondern, wie es sich für einen Zwilling gehört, auch Otto. Wenn er auch etwas völlig anderes hatte: eine Entzündung am Fuß. In „Peer Gynt“ wird Otto den Eros tanzen und sein Bruder die Aggression. „Eine Pause, wie wir sie jetzt hatten, ist manchmal ganz wertvoll“, sagt Jirí. „Denn wer tanzt, lebt manchmal zu wenig – und ist erschöpft.“
Dazu braucht man unbedingt ein Privatleben. Dabei ist es ganz nützlich, dass die beiden auf der Straße nicht unbedingt erkannt werden. Nicht so wie eine von Ottos Freundinnen: eine gewisse Juliette, Ex-Superstar, die früher übrigens auch mal im Ballettzentrum tanzte. „Die muss jetzt ständig Autogramme geben“, sagt Otto. „Wer ein Privatleben hat, bekommt wieder neue Impulse“, sagt Otto und folgt Jirí in den Übungsraum. „Und wer erfüllt ist, dem merkt man das auch auf der Bühne an.“
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