„Dort ein Fritz, hier ein Iwan“
(aus Hinz&Kunzt 119/Januar 2003)
Viele Aussiedler fühlen sich nirgends willkommen. Nicht in der alten Heimat und nicht in Deutschland. Bloß gut, dass es die Familie gibt.
„Wenn wir nach Deutschland gehen, sind wir reich“, pflegte Oma Hertha zu sagen. Dabei klopfte sie auf die Kiste, die prall gefüllt war mit Reichsmark. Über Jahrzehnte hütete sie ihren Schatz im fernen Kasachstan. Um so größer war die Enttäuschung nach der Ankunft in Deutschland 1973. Keiner wollte die riesigen Geldlappen annehmen.
Elena Böhm erinnert sich gut an diese Zeit. Sie selbst kam, damals neunjährig, zusammen mit Oma Hertha als Aussiedlerin nach Deutschland. Nach der Landung am Flughafen Frankfurt sah sie in den Geschäften überall die Auslagen und Lichter glitzern. „Ich dachte, ich bin mitten im Paradies“, sagt die dunkelhaarige, fröhliche Frau. Doch schon beim ersten Mittagessen im Erstaufnahmelager Friedland wich die Euphorie: Es gab Spinat, und der schmeckte fürchterlich. „Was für ein armes Land muss das sein“, dachte die kleine Elena, „dass die Leute Gras essen müssen.“
Großes Gelächter in der Runde. Am Tisch in den Räumen der Beratungsstelle „Der Begleiter e.V.“ in Bergedorf, sitzen Aussiedler aus dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion. Normalerweise kommen sie hierher, um beim Sprachtreff Deutsch zu lernen oder es aufzu-bessern. Heute erzählen sie von ihrem Leben. Geschichten wie die von Elena Böhm, die heute als Aussiedlerberaterin beim „Begleiter“ arbeitet, haben alle auf Lager. Doch was im Nachhinein lustig klingt, führte bei der Ankunft in Deutschland zu Tränen.
„Mein Sohn hat zwei Tage lang mit dem Kopf auf dem Tisch gelegen und nichts gegessen und getrunken“, erzählt Olga Bytschinski, die 1998 nach Deutschland kam und nach der Erstaufnahme zunächst kurz auf einem Schiff in Hamburg-Neumühlen untergebracht war. „Das Ungeziefer überall, der Schmutz – wir hatten Angst, einen großen Fehler gemacht zu haben“, so die 60-Jährige. Schließlich hatte die Familie in der russischen Kleinstadt, 20 Kilometer von Moskau entfernt, ganz gut gelebt.
Wenn Olga Bytschinski an die Ausflüge zum Pilzesammeln in die nahegelegenen Wälder denkt und an das schöne Wetter dort, wird der Blick der kleinen Frau im dicken Wollpullover weich. Und sie gerät ins Schwärmen, wenn sie stockend von ihrer „Lieblingsbeschäftigung“ erzählt, ihrem Beruf: 25 Jahre lang hat sie als Bauingenieurin gearbeitet. In Deutschland wurde ihr Diplom nicht anerkannt, und egal, um welchen Job sie sich bewarb, sie hörte das, was auch in Deutschland Geborene zunehmend hören: zu alt. Seither lebt Olga Bytschinski von einer spärlichen Rente, und die Motivation, das gebrochene Deutsch aufzupeppen, sinkt von Jahr zu Jahr.
Gerade ältere Aussiedler haben kaum Chancen auf dem hiesigen Arbeitsmarkt. Aber warum sind sie nach Deutschland gekommen? Natürlich haben alle auf wirtschaftlichen Wohlstand gehofft. Aber das war nicht der einzige Grund: „Wir waren da doch die Faschisten“, sagt die 50-jährige Ludmilla Miller. Schon als Schulkind in Kirgisien hatten Klassenkameraden ihr diesen „Spitznamen“ verliehen. Und später bei Bewerbungsgesprächen wurde die mit dem verräterischen Nachnamen Lichtenwald geborene Frau regelmässig mit der Begründung abge-lehnt: „Wir brauchen keine Deutschen.“
Waldemar Renschler, der gemeinsam mit seiner Frau Jelena 1995 nach Hamburg kam, erlebte direkt, wie der Zweite Weltkrieg friedliche Nachbarn zu Feinden machte. Der 69-Jährige wurde in der Ukraine geboren. Als Achtjähriger kam er 1944 zum ersten Mal nach Deutschland – als Deportierter. Wie alle seine Landsleute stand auch der kleine Junge nach dem Angriff Hitlers auf die UdSSR unter Gene-ralverdacht, mit dem Reich zu kollaborieren. Nach dem Sieg der Roten Armee im Zweiten Weltkrieg brachte ihn ein Zug zurück – allerdings nicht in die Ukraine, sondern nach Sibirien ins Arbeitslager.
Obwohl die Sowjet-Deutschen im Jahr 1964 offiziell rehabilitiert wurden, bestimmte die Kollektivbeschuldigung noch lange die Einstellung gegenüber dieser nationalen Minderheit. „Dabei hatten viele von ihnen gegen die Nazis gekämpft“, sagt Elena Böhm.
Wir sind eine verlorene Generation“, meint Ludmilla Miller. „Dort waren wir der Fritz, und hier sind wir der Iwan.“ Die resolute Frau mit dem modernen Kurzhaarschnitt spricht sehr gut Deutsch. Ihren slawischen Akzent kann die gelernte chemisch-technische Assistentin dennoch nicht verbergen. „Ich versuche mich zu integrieren, aber wenn ich den Mund aufmache, schlagen mir hier oft Aggressionen entgegen.“ Alle nicken. Schon in Russland war man wegen der ewigen Ablehnung lieber unter seinesgleichen geblieben, hatte untereinander geheiratet. Hier in Deutschland wiederhole sich das nun. „Wir haben unsere Familien. Das ist das Wichtigste“, sagt Elena Böhm. Heimat ist da, wo die Familie ist.
Doch manchen reicht das nicht. „Ich selbst habe nie schlechte Erfahrungen gemacht“, sagt Nadine Ruks. Aber die schlanke 38-Jährige sorgt sich um ihren Vater. Er geht kaum noch aus dem Haus, lebt völlig zurückgezogen und frustriert. Ein Urlaub in Russland sollte Linderung bringen, aber der bewies erneut, dass sich der Vater auch in der Ferne nicht Zuhause fühlt. „Viele Aussiedler leiden unter Depressionen“, bestätigt Elena Böhm. Das Bergedorfer Krankenhaus habe beim „Begleiter“ daher schon mal angefragt, ob man einen russischsprachigen Psychologen vermitteln könne.
Nadine Ruks selbst hat sich durchgebissen. Die Englischlehrerin kam vor sechs Jahren nach Deutschland, ihrem Mann zuliebe und ohne ein Wort Deutsch zu können. Heute spricht sie fast akzentfrei und macht eine Umschulung zur Bürokauffrau. Mit ihren in Deutschland gebo-renen Kolleginnen trifft sie sich zum Kaffee. Sie fühlt sich wohl. Und ihrem achtjährigen Sohn, dem fällt inzwischen das Russische schwer. „Dagegen will ich was unternehmen“, sagt Nadine Ruks und lacht. Spinat mag er deshalb noch lange nicht. Obwohl er natürlich genau weiß, dass er kein Gras vor sich hat.
Annette Bitter
Das Deutsche Rote Kreuz (DRK) gibt die Zahl der Aussiedler, die im Jahr 2002 aus Staaten der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland gekommen sind, mit rund 85.000 an. Im Jahr 1994 waren es noch 213.214 Menschen. Die Neuankömmlinge werden im bundesweit mittlerweile einzigen Erstaufnahmelager Friedland (bei Göttingen) untergebracht, bevor sie nach einem festen Schüssel auf die Bundesländer verteilt werden. Hamburg nimmt rund 2 Prozent der Menschen auf.