Tod eines Mädchens

Krankenpfleger Amadeus von der Oelsnitz über Armut und AIDS in Malawi

(aus Hinz&Kunzt 116/Oktober 2002)

Halima ist klein, dünn und still. Man sieht der Zehnjährigen an, dass sie AIDS hat. Ihr Gesicht ist von Hautausschlag entstellt. So sitzt sie in meinem Behandlungszimmer.
Halima ist ein Waisenmädchen aus einem Heim in Chiradzulu, einem ländlichen Distrikt in Malawi. Sie ist das erste Kind, das „Ärzte ohne Grenzen“ in diesem Jahr in sein Medikamentenprogramm für AIDS-Kranke aufgenommen hat.

Ich bin als Krankenpfleger für „Ärzte ohne Grenzen“ in das kleine südost-afrikanische Land gekommen. Zwischen 15 und 20 Prozent der Bevölkerung Malawis ist infiziert mit dem HI-Virus, sie leiden unter Hunger, Tuberkulose und Malaria. Armut ist der Boden, auf dem jeglicher Mangel in Malawi gedeiht: Fehl- und Unterernährung, schlechte oder gar keine Schulbildung, früher Tod.

Als ich im Februar in Chiradzulu ankomme, ist Winter. In 1500 Metern Höhe ist es nachts kalt, am Tag oft neblig und nur wenige Grad über Null. Trotzdem gehen die Menschen auch in dieser Jahreszeit meist barfuß, ihre Kleidung ist dünn und oft zerfetzt.

Am Anfang ist es schwer, mich an alles zu gewöhnen, die Sprache, die Gerüche, das Wetter, die Art zu leben und die Weise, in der die Menschen leiden. Sie leiden stiller als wir, in sich gekehrter, als hätten sie sich ihrem Schicksal schon ergeben.

Morgens stehen lange Schlangen zerlumpter Patienten vor der Ambulanz des kleinen staatlichen Krankenhauses, in dem wir arbeiten. Ich bin von meiner Arbeit mit der offenen Drogenszene im „Drob Inn“ am Hamburger Hauptbahnhof viel Schlimmes gewohnt – Gerüche, offene Wunden, Hilflosigkeit -, dies hier ist neu. In Malawi sind nicht nur wenige von Armut betroffen. Es sind viele.

Die einfachen Bauern in Malawi warten geduldig, egal ob im Regen oder in stechender Sonne, bis wir sie behandeln. Es riecht scharf nach ungewaschenen Menschen und nach der roten Erde. Die Kinder berühren mich besonders. Es gibt immer mehr Waisen im Südosten Afrikas, wo Eltern und Verwandte ganzer Großfamilien in kürzester Zeit an AIDS sterben. Übrig bleiben oft nur die Alten und die Kinder, die nicht selten auch infiziert sind.
Auch Halimas Eltern sind an AIDS gestorben. Nun sitzt sie mir gegenüber. Ich kann kaum sprechen, als Halima mich mit ihren traurigen Augen ansieht. Dabei ist es meine Aufgabe, die Patienten auf die Medikation vorzubereiten und denen, die nicht lesen und schreiben können, die Einnahme nach Tageszeiten zu erläutern und sie über Nebenwirkungen aufzuklären.
Was um Gottes Willen soll ich Halima denn sagen? Kann ich irgendwas versprechen? Was in ihrem kranken Leben gibt ihr Hoffnung? Die Medikamente sind stark und haben gerade am Anfang heftige Nebenwirkungen, oft leiden die Patienten dann mehr unter der Medizin als an der Krankheit selbst.

Ich versuche zu lernen, mich an den Anblick und die Arbeit mit den kleinen kranken, hungernden Kindern zu gewöhnen. Es dauert lange, bis ich nicht mehr jede Nacht davon träume.

Ich fahre mit dem Jeep in das Waisenhaus, um nach Halima zu sehen. Ich bringe ihr Bonbons mit und Geld für Essen, wohl mehr für meine Seele denn als richtige Hilfe. Ich bin traurig und gequält – und damit natürlich keineswegs professionell distanziert.
Sechs Monate Arbeit in Malawi haben meinem Leben eine neue Blickrichtung gegeben. Die westlichen Industrienationen tragen die Verantwortung für die unmenschliche Verweigerung der großen Pharmafirmen, den Afrikanern Aidsmedikamente zu erschwinglichen Preisen zur Verfügung zu stellen. Afrika ist kein finanzstarker Markt. Aber der überwiegende Teil der HIV-Infizierten der Welt lebt – lebt noch – auf diesem Kontinent. Trotzdem bekommen nur die wenigsten Behandlung.

Unser Projekt von „Ärzte ohne Grenzen“ versucht, den Menschen mit Hilfe von Medikamenten ein längeres Überleben mit der HIV-Infektion zu ermöglichen. Und wir versuchen aufzuklären – über die Krankheit und wie man sich und andere vor ihr schützen kann. Doch in einem armen Land wie Malawi bedeutet die Benutzung von Kondomen, dass die gesamte traditionelle Familienplanung aus dem Ruder läuft. Eine Altersvorsorge gibt es nicht, und so müssen die Menschen eigentlich viele Kinder zur Welt bringen, die später die Felder bestellen. Verhüten sie, bleiben die Felder unbestellt. Verhüten sie nicht, bleibt das Risiko einer AIDS-Infektion. Der Kreislauf ist schwer zu durchbrechen.

Nach Wochen der Tortur geht es Halima besser. Sie kommt nach stundenlangem Fußmarsch ins Krankenhaus, um ihre Medizin zu holen. Wir alle freuen uns so. Eine Woche später mache ich auf meiner Rundfahrt durch den Busch Halt am Waisenhaus. Halima ist tot. Die Schwestern berichten von Gelbsucht und plötzlicher Schwäche, und ich stehe da und kann nicht mehr denken.

Menschen in Malawi haben eine für uns oft seltsame Art zu trauern, und der Tod ist so präsent in ihrem Leben, so täglich gegenwärtig, dass ihr Umgang distanziert und nüchtern scheint. Einen weißen Mann weinen zu sehen, war meinen Kollegen fremd und wohl auch ein bisschen peinlich. Ich habe es nicht geschafft, ihnen das zu ersparen.
Auch wenn Halima nicht mehr lebt: Unsere Arbeit in dem Medikamentenprojekt ist schon heute ein Erfolg, für eine kleine, aber wachsende Gruppe von Menschen. 200 Patienten nahmen bisher an dem Programm teil. 18 sind gestorben. Hätten sie keine Medikamente bekommen, dürfte kaum einer von ihnen noch am Leben sein.

Jetzt wird es langsam Sommer in Malawi, die Temperaturen steigen, die schlechte Kleidung ist nicht mehr so wichtig. Und vielleicht haben die anderen kranken Kinder in dem Waisenhaus eine bessere Chance als Halima, in einem so schönen und so furchtbaren Land zu überleben.

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