„Püppi darf es an nichts fehlen!“

Die Hamburger Tiertafel macht Hunde, Katzen und Meerschweinchen satt, wenn
ihre Herrchen mit wenig Geld auskommen müssen

(aus Hinz&Kunzt 192/Februar 2009)

Tiko ist zum ersten Mal da und kriegt sich gar nicht mehr ein. Schwanzwedelnd zerfetzt der zehnjährige Mischlingsrüde die rote Papierdecke auf dem Tisch neben der Ausgabestelle. Kein Wunder,dass er so aufgeregt ist. Selbst Menschennasen merken: Hier gibt es Futter! Paletten- und säckeweise stapelt es sich im Keller des Altonaer Wohnhauses, in dem sich die Hamburger Tiertafel eingemietet hat. Zweimal im Monat werden die Kellertüren geöffnet für Kunden wie Tiko und ihre Besitzer.

Vom Geben und Nehmen in der Krise

Die Hamburger Tafel ist unverzichtbar geworden. Jetzt kommt die Wirtschaftsflaute bei den Helfern an: Während immer mehr Menschen
um Lebensmittel bitten, gehen die Essensspenden zurück

(aus Hinz&Kunzt 193/März 2009)

„Die Kinder in Afrika haben gar nichts zu essen“, mahnten Eltern früher, wenn der Teller nicht leer gegessen wurde. Im Jahr 2009 ist „Afrika“ um die Ecke, Hunger und der Mangel am Nötigsten sind in Mitteleuropa, in Deutschland, in Hamburg angekommen. Immer mehr Arbeitslose, Rentner und Alleinerziehende kommen mit ihrem Budget nicht aus, sind auf die Unterstützung durch Lebensmitteltafeln angewiesen. Angesichts der enormen Zahl der Hilfebedürftigen stoßen Hilfsinitiativen an ihre Grenzen – zumal Essensspenden rarer werden.

Unterwegs mit Plattenbau-Kids

Filmemacherin Astrid Schult drehte eine Dokumentation über Kinder in Berlin-Hellersdorf.

(aus Hinz&Kunzt 179/Januar 2008)

Der achtjährige Dominik lebt in einer Berliner Plattenbausiedlung. Seine Mutter zieht ihn und seine beiden jüngeren Geschwister alleine groß. Dominik ist gezwungen, das Leben eines Erwachsenen zu leben. Filmemacherin Astrid Schult begleitete Dominik für ihren Film „Zirkus is nich“.

Familien unter Druck

Wie Armut Eltern und Kindern zusetzt – Spurensuche in einer Beratungsstelle und in einer Kita

(aus Hinz&Kunzt 171/Mai 2007)

Kindererziehung ist schon unter normalen Bedingungen schwierig. Aber bei Familien mit zu kleinen Wohnungen, wenig Geld und kaum Perspektiven sind Probleme meist programmiert. Ein Besuch in der Kita Scheplerstraße und in der Erziehungsberatungsstelle Virchowstraße.

Wenn das Sozialamt nicht mehr klingelt

Wie kann das Sozialsystem besser funktionieren?

(aus Hinz&Kunzt 163/September 2006)

Herr Maier verliert seinen Job. Er soll nicht verhungern, das ist in Deutschland Konsens. Sonst nicht viel. Hartz IV und zwei andere Modelle für unser Sozialsystem.

Deine Stimme gegen Armut

Wie Prominente und entwicklungspolitische Organisationen weltweit ihren Regierungen Druck machen. Aus Hamburg mit dabei: TV-Moderator Roger Willemsen. Wollen Sie auch etwas tun? Wir sagen, wie’s geht

Nieren gegen Dollars

Moldawien: Aus Armut verkaufen Menschen ihre Organe

(aus Hinz&Kunzt 128/Oktober 2003)

Der Weg zu Andrei und Angela, die ihren Nachnamen nicht nennen wollen, führt hügelaufwärts über eine knöcheltiefe Schlammpiste. Es hat tagelang geregnet in Mingir, einem moldawischen Dorf nahe der rumänischen Grenze, in dem die Bewohner ihr Wasser noch aus Brunnen schöpfen. Ein Auto würde im Schlamm stecken bleiben, ich versuche den Anstieg zu Fuß, rutschend, mehrfach kurz vorm Fallen. Als ich nach 20 Minuten vor dem Haus der Familie stehe, hängen Klumpen von Matsch an meinen Schuhen, die Hosenbeine sind verdreckt. Andrej, erfahre ich später, macht den Weg hinunter ins Dorf derzeit viermal täglich. Morgens trägt er erst seinen Ältesten, Ion, auf den Schultern zur Schule, dann Vasile, den Jüngeren. Mittags holt er die beiden Söhne auf dieselbe Weise wieder ab.

Andrei und Angela geht es für moldawische Verhältnisse einigermaßen gut. Im ärmsten Staat Europas verdienen die Menschen im Schnitt umgerechnet nur 30 Dollar pro Monat, heißt es in einem Bericht über Organhandel für den Europarat, der im Sommer erschienen ist. Mehr als die Hälfte der Moldawier sind arbeitslos. Auch die Eheleute Andrei und Angela beziehen kein geregeltes Einkommen, aber sie können sich und ihre Kinder versorgen. Zum Beispiel besitzen sie ein Stück Land, auf dem sie Gemüse für die Familie anbauen und Wein, den sie verkaufen. Sie halten Hühner und Gänse, die sie selbst essen, aber auch auf dem Markt anbieten. Und sie handeln mit Fisch: Für 8 Lai bekommen sie am Zuchtteich im Dorf ein Kilo, das sie in der Bezirkshauptstadt für 10 Lai verkaufen, macht 2 Lai Verdienst – der Betrag ist so gering, dass man ihn in Euro-Cent nicht ausdrücken kann.

Die Kuh, die ihnen Milch für die Kinder liefert, hätten sie sich von ihren gelegentlichen Einnahmen allerdings nicht leisten können. Ebenso wenig die dringend nötigen Reparaturen am Haus, das Andrei von seinen Eltern geerbt hat. Deshalb entschloss sich Angela vor vier Jahren zu einem riskanten Schritt. Sie wollte ihre Niere verkaufen, wie gut ein Dutzend anderer Bewohner von Mingir auch. Eine Nachbarin, die das Geschäft schon getätigt hatte, bot sich als Vermittlerin an. Die Operation sollte in der Türkei stattfinden, das sich im vergangenen Jahrzehnt zu einem Umschlagplatz für Nieren entwickelt hat. Es ist nicht der einzige. Obwohl Organhandel international geächtet und in den meisten Ländern verboten ist, hat sich weltweit ein Schwarzmarkt etabliert. Wohlhabende Dialyse-Patienten reisen um den halben Erdball, um eine Niere zu kaufen – was ihnen zu Hause bei Strafe verwehrt ist.

Alles war vorbereitet, die Papiere lagen bereit. Doch dann wurde Angela schwanger. Sie bat die Brokerin um Geld für eine Abtreibung, vergebens: Der Eingriff würde sie zu sehr schwächen, und man wolle kein Risiko für den Nierenkäufer, bekam sie zur Antwort. Doch die Familie brauchte Geld, jetzt war das dritte Kind unterwegs. Also beschloss Andrei, anstelle seiner Frau eine Niere zu verkaufen. Im Sommer 1999 brach er auf, zusammen mit zwei anderen Dorfbewohnern. Über die Ukraine reisten sie nach Istanbul. Dort musste er zu medizinischen Tests in eine Klinik, dann wurde er operiert.

Angst? Andrei lacht verlegen. Nein, er habe keine Angst gehabt. Fast scheint es, als habe er die Zeit im Krankenhaus sogar genossen: Er bekam gutes Essen und Medikamente gegen die Schmerzen; es gab warmes Wasser zum Waschen und eine richtige Toilette; sogar einen Fernseher hatte er auf dem Zimmer. Mit 2900 Dollar in der Tasche reiste Andrei nach acht Tagen zurück, im Bus, die Fahrt dauerte mehr als 20 Stunden.

Einen Arzt hat er seit der Operation nicht mehr gesehen. Dabei sind in Deutschland für Nierenspender lebenslange medizinische Kontrollen gesetzlich vorgeschrieben. Falls sich dabei zeigt, dass die übrige Niere erkranken könnte, lässt sich mit Medikamenten gegensteuern und so verhindern, dass der Spender eines Tages selbst die künstliche Blutwäsche benötigt. Sollte Andrei irgendwann Probleme mit seiner einen Niere bekommen, sieht es schlecht für ihn aus. Medikamente kann er sich nicht leisten, die Möglichkeit der künstlichen Blutwäsche gibt es nicht in seinem Dorf. Das Geld für seine Niere ist längst ausgegeben, und Angela denkt wieder darüber nach, wie sie dazuverdienen könnte. Ihr neuer Plan: Sie könnte nach Italien gehen und dort als Haushaltshilfe arbeiten. Laut der Internationalen Organisation für Migration arbeiten bis zu einer Million der 4,3 Millionen Moldawier inzwischen im Ausland, die Überweisungen an die Familien zuhause machen mehr als die Hälfte des Bruttoinlandprodukts aus. Manche Frau, die sich auf eine Anzeige meldet, findet sich allerdings in der Prostitution wieder.

Oft sind es so genannte verwundbare Familien, aus denen die Opfer des internationalen Frauenhandels stammen, berichten Sozialarbeiter in der moldawischen Hauptstadt Chisinau. Das gilt auch für Organgeschäfte. Nach Angaben der moldawischen Journalistin Alina Radu, die in mühsamer Recherche mehr als 30 Fälle von Organhandel in ihrem Land aufdeckte, benötigen die meisten Spender psychologische und soziale Unterstzützung. Wie zum Beispiel Mihail Istrati aus dem Dorf Susleny nördlich von Chisinau. Geld verdient er nur gelegentlich, wenn er Nachbarn bei der Ernte hilft oder im Herbst die Walnüsse in seinem Garten sammelt und zum Markt trägt. Dennoch sagt Istrati, es habe keinen rechten Grund gegeben, warum er vor vier Jahren seine Niere verkaufte.

Natürlich brauchte er Geld, aber das war nicht entscheidend. Er ließ sich beschwatzen, von einem Kumpel aus dem Dorf, der seine eigene Niere verkauft hatte. Istrati ist Waise. Er wünscht sich heute, er hätte Eltern gehabt, die ihn beschützt hätten. Er ist sich sicher: Dann wäre er nicht auf das Angebot eingegangen.

Anders als Andrei und Angela wusste Mihail Istrati mit den 3000 Dollar für seine Niere nichts anzufangen. 400 Dollar nahm ihm allein der Organ-Broker im Dorf ab. Dann waren da noch Freunde und Verwandte, die ihren Teil von seinem plötzlichen Reichtum abhaben wollten. Den Rest gab er für Kleidung und Essen aus und für Decken, die er seiner über 90-jährigen Großmutter schenkte. Dem 29-Jährigen blieben nur ein neuer Fernseher und die 25 Zentimeter lange Narbe als Erinnerung an die Operation.

Istrati hat den Empfänger seiner Niere nicht kennengelernt, nur einmal kurz gesehen, auf dem Krankenhausflur: einen übergewichtigen Mann mit weißem Haar, schätzungsweise 60 Jahre alt. Der Patient war Israeli, sie konnten nicht miteinander reden. Von einer Krankenschwester erfuhr Istrati, dass der Mann sich das Leben mit der neuen Niere einiges hatte kosten lassen: rund 100.000 Dollar, der übliche Tarif für eine illegale Transplantation in der Türkei. Dass er selbst nur einen Bruchteil der Summe bekam, empörte ihn, aber er wagte nicht zu protestieren. Am Ende wäre er womöglich ganz leer ausgegangen.

Istrati ist ein schüchterner Mann. Zudem hatte ihm der örtliche Broker eingeschärft, er dürfe nicht von seinen Erfahrungen reden. Doch im Sommer reiste Istrati auf Einladung des Europarats nach Straßburg, um vor einer Kommission der parlamentarischen Versammlung zu berichten. Den Kontakt vermittelte die Journalistin Alina Radu. „Ich möchte, dass sich niemand mehr überreden lässt, ein Organ herzugeben, um Geld zu verdienen“, erklärte Istrati den Parlamentariern. „Ich fühlte mich schrecklich ausgenutzt.“

Martina Keller

Sozial brutal

Kommentar

von Thomas Schröder

(aus Hinz&Kunzt 128/Oktober 2003)

Deutschland im Herbst 2003. Die kleine Julia ist zehn Jahre alt. Sie wohnt irgendwo in einer größeren Stadt und heißt eigentlich anders. Doch sie will nicht, dass jemand von ihr erfährt.

Julia schämt sich, weil sie und ihre Eltern arm sind. Wenn sie zur Schule geht, dann hat die Zehnjährige nur selten ein Pausenbrot dabei. Auch an Klassenausflügen nimmt sie nicht teil. Es ist ihr peinlich, wenn andere Kinder ihre voll gepackten Rucksäcke entleeren. Das Mittagessen nimmt sie in der Suppenküche ein. Zum Kindergeburtstag geht Julia auch nicht mehr, weil sie nie ein Geschenk hat.

Julia ist eines von einer Million Kinder, die auf Sozialhilfeniveau leben. Die Folgen: Sie werden häufiger krank, sind schlechter ernährt und leben oft in vernachlässigten Stadtvierteln. Nicht anders ergeht es den Erwachsenen an ihrer Seite.

Die rot-grüne Bundesregierung hat zwar damit begonnen, regelmäßig Armutsberichte zu veröffentlichen. Aber offenbar haben die erschreckenden Zahlen bisher zu keinen Konsequenzen geführt. Bei der gegenwärtigen Debatte um die Einschnitte in das soziale Sicherungssystem ist vielmehr das Augenmaß verloren gegangen. Die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld II wird dazu führen, dass noch mehr Menschen in die Sozialhilfe rutschen.

Außerdem: Die Kürzungen in der Gesundheitsvorsorge werden dazu beitragen, dass medizinisch notwendige Leistungen nicht mehr in Anspruch genommen werden. Denn die regelmäßigen Arztbesuche mit einer „Eintrittsgebühr“ von geplanten zehn Euro stellen für viele Menschen einen unerschwinglichen Luxusausflug dar. Das gilt auch für Zahnbehandlungen. Es wird deshalb der Tag kommen, an dem Armut in Deutschland wieder im Gesicht abzulesen ist – anfehlenden Zähnen.

Der neueste Vorschlag von Ulla Schmidt, der Bundessozialministerin, wird die Rutschbahn ins Elend zu einem Katapult werden lassen. Die Ministerin plant, dass die bisher an Sozialhilfeempfänger gezahlten einmaligen Leistungen, beispielsweise für den Kauf von Kleidung, künftig entfallen. Stattdessen soll diese Summe als Pauschale in die monatliche Sozialhilfezahlung eingerechnet werden. Der Empfänger müsse eigenständig wirtschaften, verkündet das Ministerium. Die Folgen sind schon jetzt absehbar: Die Betroffenen haben selten gelernt, mit Geld zu wirtschaften. Wenn das überhaupt geht bei nur knapp 290 Euro monatlich. Bleibt es bei der Pauschale, wird manches Geld einfach fehlen, wenn etwa der Kauf von Winterkleidung ansteht. Viele Familien werden deshalb weiter verelenden.

Die Armut wird in den nächsten Jahren noch steigen, und mit ihr die Kosten für die Kommunen. In Deutschland stehen in den nächsten Jahren etwa 1,4 Billionen Euro zur Vererbung an. Deutsche Konzerne wie BMW machen Milliardengewinne. Warum hat keine Partei in Deutschland den Mut, darüber laut nachzudenken? Es scheint in Deutschland chic geworden zu sein, immer nur nach unten zu treten, statt die Solidarität von oben einzufordern.

Deutschland 2003: Die kleine Julia wird auch künftig nicht alleine sein. Im Gegenteil, nach Inkrafttreten der so genannten Reform werden, so wird befürchtet, weitere 500.000 Kinder in die Armut getrieben, mitsamt ihren Eltern.

Thomas Schröder (38) ist Sprecher des Bundesverbandes Sozialer Straßenzeitungen. Der Kommunikationsberater war früher Büroleiter für einen SPD-Abgeordneten im Deutschen Bundestag.

Tanzen gegen die Armut

Jugendliche aus Kolumbien zum Workshop auf Kampnagel

(aus Hinz&Kunzt 117/November 2002)

Álvaro Restrepo ist Kolumbiens bekanntester Tänzer. Statt international Karriere zu machen, hat er sich entschlossen, Kinder und Jugendlichen aus Cartagenas Elendsviertel im zeitgenössischen Tanz zu unterrichten. Jetzt tritt ein Teil der Truppe auf Kampnagel auf.

Santiago wischt sich den Schweiß mit dem rechten Arm von der Stirn. Lächelnd nimmt er den Beifall der anderen entgegen, die ihn für sein Solo feiern. „Immer hatte ich Hunger“, heißt es da, und die Kette und der Bilderrahmen, mit denen er tanzt, sind Symbole für eine gefesselte Jugend. Eine Jugend, die sich nicht entfalten darf.

Santiago stammt aus Kolumbien, aus Cartagena de las Indias, und begann vor fünf Jahren, seinen eigenen Körper und dessen Ausdrucksfähigkeit zu entdecken. „Der Tanz hat mein Leben und mein Denken verändert“, sagt der 19-Jährige mit den kurzgeschorenen dunklen Locken. „Ich habe gelernt, nicht nur meinen eigenen, sondern auch den Körper der anderen zu respektieren.“

Keine Selbstverständlichkeit in einem von Bürgerkrieg, Selbstjustiz und Wirtschaftskrise geprägten Land. Und Cartagena, wo Santiago geboren ist, gilt landesweit als die Stadt mit der höchsten Flüchtlingsquote. Jeder siebte der rund 700.000 Einwohner ist auf der Flucht vor dem Bürgerkrieg in der Karibikstadt gestrandet – vor allem Frauen und Kinder, die sich oft ohne jede Hilfe eine neue Existenz aufbauen müssen.

Die meisten von ihnen leben im Barrio Nelson Mandela, dem riesigen Flüchtlingsviertel der Hafenstadt. Das Geld für die Schuluniform, die Hefte und Stifte ist da oft nicht drin. „In Nelson Mandela müssen viele Kinder zum Unterhalt der Familie beitragen“, erzählt Yorneis, ein Kollege von Santiago. „Sie verkaufen in den Straßen Essen oder Kaugummis.“ Respekt vor dem Körper ist da eher selten. Das Leben ist oft reiner Überlebenskampf – vor allem bei den Straßenkindern.

Diese Kinder und Jugendliche sind es, die das von Álvaro Restrepo gegründete Colegio del Cuerpo (Schule des Körpers) besuchen und dort zum Tanzen animiert werden. „Der gemeinsame Tanz ist wie eine Ruhepause von Elend und Angst für die Kinder“, sagt Santiago.

Das Colegio ist ein einzigartiges Projekt in Kolumbien und allein dem Engagement von Álvaro Restrepo zu verdanken. Der kleingewachsene Mann genießt einen exzellenten Ruf in der internationalen Tanzszene. Trotzdem hat er sich gegen eine Karriere und für den Aufbau seiner Schule entschieden. Für Restrepo kein Widerspruch, denn für ihn gehört „die soziale Arbeit zu den zentralen Aufgaben eines aktiven Künstlers“.

Schon als junger Mann arbeitete er in Bogotá mit Straßenkindern. Dann entdeckte er den Tanz, brach sein Studium der Philosophie und Literatur in Bogotá ab und studierte in New York zeitgenössischen Tanz. Doch die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen ließ den 44-Jährigen nie los, und als er 1991, nach zehn Jahren im Ausland, nach Kolumbien zurückkehrte, kam er mit dem festen Ziel, in Cartagena seine eigene Schule aufzubauen.

Einige Jahre sollte es allerdings noch dauern, bis der Traum in Erfüllung ging. Für die Anschubfinanzierung sorgte der Bürgermeister, für Räume eine private Stiftung, und über einen Kooperationsvertrag mit einer großen Schule, dem Colegio Inem, kamen die Schüler. „480 waren es am Anfang, das war 1997. Mit 90 von ihnen haben wir begonnen, systematisch zu arbeiten“, erinnert sich Wilfram Barrios, die rechte Hand Restrepos.

Aus nahezu allen Stadtvierteln Cartagenas kommen die insgesamt 20 Schüler, die nahezu alle seit fünf Jahren am Colegio zeitgenössischen Tanz lernen. Zu ihnen gehört auch Santiago, der von einer internationalen Tanzkarriere träumt und nur zu gern in Europa bei einer Kompanie anheuern würde. „Wenn ich professionell tanzen will, habe ich in Kolumbien keine Chance, denn moderner Tanz ist dort weitgehend unbekannt“, gibt sich Santiago realistisch.
Der ausdrucksstarke Tänzer stammt aus einer Mittelklassefamilie. Sein Vater ist Lithograph, die Mutter arbeitet als Verwaltungsangestellte im Gesundheitssystem. Damit kommt er aus besseren Verhältnissen als viele seiner Tanzkollegen aus der „Grupo Piloto Experimental“.

Yorneis stammt hingegen aus ärmlichen Verhältnissen. Sein Vater ist Arbeiter, seine Mutter Hausfrau. Erst als sie eine Vorführung des Colegio besuchten, begriffen sie, was ihr Junge hier lernt und was es ihm bedeutet. „Vorher haben sie mich immer gefragt, ob ich heute Cumbia oder Vallenato getanzt habe“, sagt Yorneis lachend. Doch mit den beliebten kolumbianischen Populärtänzen hat der sympathische 16-Jährige genauso wenig am Hut wie die übrigen Mitglieder der Kompanie.

Rund 100 Kinder aus Nelson Mandela sind es, die einmal pro Woche gemeinsam mit Restrepo und seinen Schülern tanzen. Weitere 100 kommen aus anderen Armenvierteln der Stadt. „Es ist in einem Land wie Kolumbien besonders wichtig, den Körper als eigenes Territorium zu entdecken und zu entfalten. Inneren Frieden zu finden ist die Vorraussetzung, um Frieden innerhalb der Gesellschaft zu säen“, sagt der mager wirkende Mann mit der schmucklosen Nickelbrille.

Pasión, Leidenschaft, gehört für ihn zum Tanzen. „Ohne Leidenschaft und Begeisterung ist das Leben nur die Hälfte wert“, sagt Restrepo, der aus den Kindern und Jugendlichen seinen Enthusiasmus schöpft: „Für mich sind sie menschliche Diamanten, die nur ein wenig Hilfe brauchen, um zu strahlen. Poliert man sie nicht, dann entwickeln sie sich vielleicht wie so viele, die in den Krieg ziehen oder in die organisierte Kriminalität.“

Klar ist Restrepo, dass nicht alle Schüler Profi-Tänzer werden können. Aber für einige ist es eine reale Perspektive. Die Kooperation mit dem Tanzzentrum im französischen Angers ist deshalb besonders wichtig. Zwei bis drei Jahre sollen sich die Mitglieder der „Grupo Piloto“ nach ihrem Schulabschluss in Frankreich weiterqualifizieren. Die einen als Tänzer, die anderen als Choreograph, Theatertechniker oder Kostümschneider. Aber auch Schnupperkurse in Tanztherapie, Dokumentation oder Presse kann sich Restrepo gut vorstellen.
Knut Henkel

Bildzeitung: Wieder Hetze gegen Bettler

Hinz&Kunzt antwortet: Kämpft nicht gegen arme Menschen, sondern gegen Armut!

„Elends-Bettler belagern Weihnachtsmärkte“, schreibt die Bildzeitung heute, 26. November. Sie zitiert das gebrochene Deutsch eines Mannes: „Alles Gute für Familie, bitte, alles Gute für Familie.“

Eine Besucherin wird so zitiert: „Ich glaube, er (ein Mann, der nach Geld fragte) tat nur so, als sei er behindert“.