Aufbruchstimmung in Argentinien
Arbeitslose übernehmen Fabriken und zwingen den Staat, ihnen zu helfen
(aus Hinz&Kunzt 136/Juni 2004)
Es war ausgerechnet der „Tag des Papierarbeiters“, als die Belegschaft der Papierfabrik San Jorge erfuhr, dass ihr Arbeitgeber pleite war. Er hatte sieben Millionen Dollar Schulden angehäuft, die Polizei räumte das Gelände in der Provinzstadt La Plata nahe Buenos Aires, und die Arbeiter standen auf der Straße.
Doch statt nach Hause zu gehen und sich ins Heer der argentinischen Arbeitslosen einzureihen, besetzte Pedro Montes, bis dato Elektriker bei San Jorge, nur Tage nach der Kündigung gemeinsam mit 24 Kollegen die Fabrik und gründete eine Kooperative. Heute ist Pedro ihr Präsident. „Wir schoben abwechselnd Wache, damit keiner die Fabrik plündern konnte“, erzählt der stämmige 50-Jährige. Mehrere Monate hielten sie aus, ohne Lohn, unterstützt nur von Arbeitslosenorganisationen, die ihnen täglich Lebensmittel brachten.
Seither sind zweieinhalb Jahre vergangen, in denen sich in La Plata wie auch in ganz Argentinien eine Parallelgesellschaft verfestigt hat: mit eigenen Organisationen, eigenen Unternehmen und eigenen Führern. Es ist das Reich derer, die im normalen Wirtschaftsleben keinen Platz mehr hatten. Doch sie sind nicht verschwunden – im Gegenteil: Ihr politischer und ökonomischer Einfluss bestimmt den Alltag des Landes heute sichtbar mit.
Das Genossenmodell der Papierfabrik hat seit seinen ersten Tagen zahlreiche Nachahmer gefunden. 150 Kooperativen mit insgesamt 12.000 Genossen gibt es in Argentinien. Was niemand erwartet hätte: Die Arbeiter von San Jorge sind heute erfolgreicher als der Pleite gegangene private Betrieb. Anfangs konnten sie nur Klopapier herstellen. Mit den ersten Erlösen brachten sie dann weitere Maschinen in Schwung und pressten Pappkartons aus Altpapier. In normalen Zeiten hätte ihnen kaum einer die Recycling-Ware abgenommen, aber weil die Regierung damals die Bindung des Peso an den Dollar löste und massiv abwertete, war importiertes Papier plötzlich so teuer, dass die Kooperative ihre Produkte problemlos absetzen konnte. Unter dem neuen Namen Union Papelera Platense nutzt die Fabrik heute wieder 70 Prozent ihrer maximalen Kapazität. 60 Genossen gibt sie Arbeit.
Alle Mitglieder der Kooperative sind sozialversichert, Strom, Wasser und Steuern werden pünktlich bezahlt, „alles wie in einem ganz normalen Unternehmen“, sagt Pedro stolz. So ist eine für Argentinien inzwischen normale, im westeuropäischen Wirtschaftsleben hingegen kaum vorstellbare Mischung aus Legalität und Illegalität entstanden. Unter den Genossen wird nach Abzug aller Kosten der Überschuss verteilt. Jeder bekommt gleich viel. Während der ersten vier Monate gab es zwar nichts zu verteilen, danach aber bekamen die Arbeiter umgerechnet 30 Euro. Bis heute hat sich die monatliche Ausschüttung auf 350 Euro gesteigert, was in Argentinien einem Mittelklassegehalt entspricht. In anderen Zeiten wäre die Entstehung und die Duldung einer solchen Kooperative nicht möglich. Aber Argentinien durchlebt seit drei Jahren die schwerste politische, wirtschaftliche und soziale Krise seiner Geschichte: Das Währungssystem kollabierte, Milliarden Dollar wurden ins Ausland überwiesen, Konten gesperrt, die Wirtschaft versank in der bislang tiefsten Rezession. Der Staat, faktisch bankrott, stellte zeitweise alle Zahlungen an internationale Gläubiger ein, der damalige Präsident wurde vertrieben, und nicht weniger als vier mehr oder minder lange amtierende Übergangspräsidenten wurden vom Chaos aufgerieben.
Die Folgen sind bis heute dramatisch: Knapp 20 Prozent der 14 Millionen Erwerbsfähigen haben keine Arbeit, ein weiteres Fünftel ist unterbeschäftigt. Obwohl die Wirtschaft 2003 knapp acht Prozent wuchs und auch 2004 nach Schätzungen der Dresdner Bank Lateinamerika etwa fünf Prozent zulegen wird, sinkt die Arbeitslosigkeit kaum. Laut dem offiziellen Statistikinstitut Indec lebt mehr als die Hälfte der 37 Millionen Argentinier in Armut.
Der einzelne Arbeitslose hat nur die Wahl, dies hinzunehmen – oder sich einer der Arbeitslosenorganisationen anzuschließen. Sie bilden heute ein mächtiges Gegengewicht zum Staat. Die meisten Arbeitslosen verfolgen keine alternativen Gesellschaftsentwürfe, sondern wollen zurück in eine imaginäre „gute alte Zeit“, zum Wohlfahrtsstaat, der zugunsten der Arbeitnehmer in den Wirtschaftsprozess eingreift und Einkommen umverteilt. Sie wollen einen Staat, in dem eine gewerkschaftliche Struktur das Rückgrat der Gesellschaft bildet und in dem notfalls eben auch Fabriken besetzt und fortgeführt werden. Wo der Staat das nicht leistet, legen die Arbeitslosenbewegungen selbst Hand an.
Was die Organisationen außer Suppenküchen, der Betreuung von Schulkindern und der Herstellung von Lebensmitteln noch unter Selbstorganisation verstehen, bekam unlängst eine Elektrizitätsgesellschaft zu spüren. Sie hatte den Strom in einer besetzten Fabrik abgedreht, in der 82 Familien Unterschlupf gefunden hatten. Die Arbeitslosen besetzten die Hauptstraße so lange, bis der Strom wieder floss. Von den Straßensperren, auf Spanisch „piquetes“, erhielten die aufsässigen Arbeitslosen ihren Namen: Piqueteros. Jetzt sammeln ihre Mitglieder jeden Monat von den Bewohnern der Fabrik das Geld für den Strom ein und bezahlen für sie die Rechnung.
Im ganzen Land können die unterschiedlichen Piquetero-Gruppen schätzungsweise rund 500.000 Menschen mobilisieren. Die Organisationen haben es geschafft, dass Präsident Nestor Kirchner direkt mit ihren Führern verhandelt Lieber bewilligt Kirchner ihnen ein Weihnachtsgeld von 100 Euro pro Kopf, als dass er blutige Auseinandersetzungen wie in den vergangenen Jahren riskiert.
Die Arbeiter der Papierfabrik von San Jorge haben indes andere Sorgen. „Politik interessiert uns nicht, wir wollen einfach nur unsere Arbeitsplätze erhalten“, sagt Jorge, wie Pedro ein Gründungsmitglied der Kooperative. Ungeklärt ist vor allem ihre rechtliche Situation.
Enteignungen waren ursprünglich nur „für einen öffentlichen Zweck“ möglich. Doch inzwischen haben mehrere Stadt- und Provinzregierungen entschieden, es sei besser, eine Kooperative zu legitimieren, als die Zahl der Arbeitslosen noch zu erhöhen. So auch im Fall der Papierfabrik von San Jorge, die dem Eigentum des Besitzers entzogen und den Besetzern zugesprochen wurde. Für die Nutzung des Geländes müssen sie allerdings etwa 2400 Euro Miete pro Monat zahlen.
Allerdings muss der Staat eine Entschädigung an den Besitzer zahlen. Geschehen ist nichts. „Die Provinz hat kein Geld“, weiß Pedro. Jetzt wollen die Arbeiter das Geld selbst aufbringen. Ein Angebot haben sie schon gemacht.