Autor Gunter Gerlach über skurrile Helden, Bücherschreiben als Rollenspiel und sein Leben im Paradies
(aus Hinz&Kunzt 161/Juli 2006)
Gunter Gerlach hat einen guten Schlaf. Den braucht er auch. Denn derzeit residiert der Hamburger Schriftsteller in der schwäbischen Kleinstadt Esslingen. Noch bis Anfang August ist er Stipendiat im ehemaligen Bahnwärterhäuschen, das beim Durchfahren der ICEs regelmäßig vibriert. Frank Keil sprach mit Gerlach, als er neulich kurz in Hamburg vorbeischaute.
Großes Hallo, als Gunter Gerlach an den Tresen seines Stammlokals im Schanzenviertel tritt. Händeschütteln, vorsichtiges Schulterklopfen. Er ist kein Kumpeltyp, dem man mit Macht ins Kreuz hämmern wollte. Auch wenn ihn viele kennen und er viele kennt. Gunter Gerlach – schreibt der nicht Krimis? So komische? Ja und nein. Erst mal setzen und bestellen. Milchkaffee, Rhabarbersaft.
Das mit den Krimis kam so: Im kleinen Eimsbüttler Michael Kellner Verlag erscheint Anfang der Neunziger einer seiner ersten Romane. Titel „Der Fisch“, aber der Verleger nennt ihn „St. Pauli Weekend“ – wegen des Krimifilms „Das Osterman Weekend“. „Krimi“ steht auch dick auf dem Buchumschlag. Die Geschichte von einem Mann, der sich 24 Stunden lang durch St. Pauli treiben lässt und am Ende in die Elbe springt. „Das Buch war alles Mögliche, nur kein Krimi“, erzählt Gunter Gerlach. Doch das Konzept geht auf: Die Auflage verkauft sich schnell, es gibt einen Krimipreis, die Kritik nennt Gerlach den Kafka unter den Krimischreibern. „Das hat mich so herausgefordert, dass ich dachte: Einen Krimi schreiben kannst du doch schon lange.“
Ein Freund fällt ihm ein, der bei ihm im Haus wohnt, ein Allergiker. Darf man über Allergiker Scherze machen? „Kortison“ entsteht, die Geschichte des Frührentners und Privatdetektivs Bartzsch, der sehr genau gucken muss, welche Allergene durch die Luft wirbeln, bevor er anfängt zu ermitteln. Und der Kortison wie eine Droge braucht, was ihn tief in den Sumpf des Medikamentenhandels treibt. Gerlach bekommt sofort einen Vertrag über weitere Folgen. Zu einem Zeitpunkt, als er vorhat, seinen Job in einer Werbeagentur zu schmeißen.
Seitdem schreibt er Krimis und Bücher, die weiterhin keine Krimis sind. Auch wenn Menschen verschwinden, Menschen nicht recht wissen, wer sie sind und was überhaupt los ist. Wie der gutmütige Jakob in „Irgendwo in Hamburg“, dem eines Tages auffällt, dass er in ein Haus gezogen ist, deren Bewohner alle wegen Mordes im Gefängnis waren. Was hat man mit ihm vor?
Die skurrilen Geschichten über Menschen, die am Rande des Lebens taumeln und sich doch wieder fangen, passen nicht schlecht zu Gerlachs Werdegang: Sein erster Verleger stirbt, kaum ist das Buch auf dem Markt. Die verbleibenden zwei Verlagsfrauen überlegen nicht lange: Wir machen jetzt einen Frauenbuchverlag, da können wir dich nicht gebrauchen! Er kann zum Greno Verlag wechseln, damals eine echte Größe. Mit Greno macht er zwei Bücher, dann hört der mit dem Verlegen auf. Auch den Kellner Verlag gibt es nicht allzu lange. Der Schweizer Verleger Gert Haffmans will ihn groß rausbringen, geht aber Pleite. So viel Pech härtet offenbar ab. Beziehungsweise schärft den Blick erst recht für die Absurditäten und Unwägbarkeiten des Alltags. 16 Romane sind bisher entstanden. Dazu Kurzgeschichten, Theaterproduktionen und jede Menge Hörspiele.
Auf diesem Weg hat sich viel getan. „Seit dem Hamburger Dogma hab ich einen gewaltigen Schritt gemacht. Ich würde alle meine früheren Bücher heute total anders schreiben“, sagt er. „Dogma“ kennt man aus dem Kino. Spröde Filme, mit der Handkamera gedreht, ohne künstliches Licht. Kein technischer Schnickschnack, der von einer müden Handlung ablenkt. „Jede gute Kunst entsteht durch die Beschränkung der Mittel“, fasst Gerlach die Grundidee zusammen. Neulich war er im „Da Vinci Code“. „Das ist doch gar kein Film! Da stehen Schauspieler steif in der Gegend rum und geben Erklärungen ab!“ Gunter Gerlach nippt am Glas und kriegt sich wieder ein.
Jedenfalls formuliert er zusammen mit anderen Hamburger Autoren ein strenges Regelwerk: Kein Satz darf mehr als 15 Wörter haben. Keine Metaphern, die wie die Tür ins Haus fallen. Erzählt wird in der Gegenwart und Adjektive bitte nur im Notfall. Die Folgen: ein unmittelbarer, direkter Schreibstil. Schnörkellos, ohne Wortgeklingel.
Gerlachs neuester Streich: „Ich weiß“ – ein Roman über einen Mann, der alles im Voraus weiß. Der somit wüsste, was in diesem Artikel steht und ihn nicht lesen würde. Es sei denn, er hat wirklich nichts anderes zu tun. Ein Misanthrop also, ein Knurrhahn, ein Oberlangweiler, denn was sollte ihn überraschen. Kann man so auf Dauer leben? Was ist mit der Liebe, wenn man schon vorher stets weiß, was passiert? Da trifft es sich gut, dass unser Held auf ein Institut für Lebensfreude stößt. Das ihm verspricht, sich seines kleinen Problems anzunehmen.
Solche Geschichten sind zwar ausgedacht, der Held rückt dem Autoren aber bedrohlich nahe: „Ich entdecke einen bestimmten Charakter, überspitze ihn und übe mich wie ein Schauspieler in der Darstellung dieses Charakters“, beschreibt Gerlach seine Arbeitsweise. „Dann setze ich meinen Helden einer bestimmten Situationaus und spiele diese Rolle durch. Für mich ist daher jedes Buch ein wahnsinniges Abenteuer, das ich selber erlebe. Aber ich nähere mich auch dem Irrenhaus. Denn ich spiele diese Rolle Monate. Jeden Tag. Von morgens bis abends.“
Mit ganz praktischen Folgen: „Als ich ,Ich weiß‘ schrieb, über diesen Menschenfeind, saß ich hier am Tresen und hab genauso gedacht wie dieser Typ! Ich war dieses Arschloch! Und als ich ,Der Haifischmann‘ schrieb, über einen jungen Mann, der sich in jede Frau verguckt, war ich selbst permanent verliebt! Wie dieser Typ.“ Trotzdem möchte er von solchen Erkundungen nicht lassen: „Ich lebe im Paradies.“ Wirklich? „Na klar! Ich kann vom Schreiben leben, und ich muss nichts auf die hohe Kante legen, denn die nächste Station, da kostet es nichts mehr.“ Dieses Jahr wird er 65 Jahre alt, die Pflichten des Familienlebens liegen hinter ihm: Die Tochter ist längst erwachsen, lebt in Barcelona. Was ihn zurzeit beschäftigt, ist die langsame Wandlung seiner Helden: Es sind nicht mehr allein die Verlierertypen, die froh sind, wenn sie ein kleines Eckchen zum Überleben finden. Sie beginnen sich zu wehren!
Um ihnen dabei zu helfen, nützt die Disziplin aus seinem ehemaligen Angestelltenleben, die er sich erhalten hat, wenn er sein kleines Büro am Rande von St. Pauli aufsucht. Morgens Verwaltungsarbeit: Briefe beantworten, Lesungen anbahnen, Termine machen. Ab mittags schreiben. Fällt ihm nichts ein, steht er auf, geht spazieren, setzt sich ins Café: „Es macht mich wahnsinnig, wenn ich vor einem leeren Blatt oder einem leeren Bildschirm sitze. Ich gehe sofort raus, brauche nur Menschen zu beobachten und es fällt mir was ein.“ Auch am Sonntag, denn er hasst den Sonntag: „Weil da nichts normal ist!“ Stattdessen nimmt er sich lieber einen Wochentag frei, schlendert durch die Straßen und genießt es, dass alle anderen arbeiten müssen, nur er nicht. „Was für ein Luxus“, sagt er noch.