Budapest, Bahnhof Keleti :
„Ungarn ist so ein merkwürdiges Land“

Mitte September reiste unser Autor Frank Keil nach Ungarn. Was ist in dem Land los, das Europa durch seinen Umgang mit Flüchtlingen schockierte? Und wie ergeht es dort den Obdachlosen? Ein Besuch auf dem Bahnhof Keleti in der Hauptstadt Budapest, wo die Flüchtlinge ankamen, und in den Obdachloseneinrichtungen der Stadt.

(aus Hinz&Kunzt 272/Oktober 2015)

Budapest, Mitte September, Bahnhof Keleti. Der mondäne Ostbahnhof. Ich wusste nicht, ob ich ankommen würde. Mal hieß es, der Zugverkehr von und nach Budapest sei wegen der Flüchtlinge eingestellt; mal auch wieder nicht. Nun ist es mitten in der Nacht.

Ich frage einen jungen Ungarn nach dem Weg; danach, wo laut meinem Plan mein Apartment im jüdischen Viertel liegen müsste, in dem ich eine Woche lang wohnen werde. Er zeigt geradeaus, immer geradeaus solle ich gehen. Wir schauen auf die Flüchtlinge, die unter uns auf der teils überdachten Fläche zwischen Bahnhof und Metro in Zelten oder auf Matten campieren. Vielleicht 200, 300 sind es, schätze ich.

Anfang September saßen hier tagelang Tausende fest, sich selbst überlassen. Die Bilder von im Müll liegenden Frauen, Männern und Kindern unter der damals sengenden Sonne gingen um die Welt. Budapester Bürger räumten ihre Kühlschränke leer und brachten alles hierher; Journalisten kauften zwischen ihren Liveschaltungen Lebensmittel und Wasserflaschen. Denn der ungarische Staat tat absolut nichts für die Versorgung der Gestrandeten; private Helfer mussten sich über Facebook erst finden, sich erst organisieren; mussten Spenden, Decken und Zelte einsammeln und mussten drängen, dass die Stadt wenigstens Toiletten aufstellte. Acht Stück stellte sie schließlich. Acht Stück – mehr wurden es nicht. So ging das, bis die Flüchtlinge revoltierten, sich zu Fuß auf den Weg über die Autobahn machten, um nach Österreich zu gelangen – bis Ungarn schließlich Busse schickte und sie kurz vor der Grenze aussetzte.

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Flüchtlinge nächtigen in Zelten am Bahnhof und warten auf die Weiterreise.

Jetzt ist alles deutlich entspannter: Über Nacht kommen die meist erschöpften Flüchtlinge aus Serbien an, werden weiterhin nur von privaten Helfern versorgt und verpflegt, übernachten und drängen sich am nächsten Morgen in die Regionalzüge Richtung Österreich. Und am nächsten Tag wiederholt sich alles.

Für den jungen Ungarn neben mir ist das alles ein vertrauter Anblick, ich sehe es das erste Mal. Er hält ein kleines Paket in der Hand: Kuchenstücke, in Klarsichtfolie eingewickelt. „Ich bin zwar gerade arbeitslos, habe selbst nicht viel, aber das hier möchte ich den Flüchtlingen bringen“, sagt er.

Er fragt mich, woher ich komme, was ich in Budapest vorhabe, und ich erzähle ihm, dass ich für ein Straßenmagazin in Hamburg schreibe, das vor allem Obdachlose verkaufen. Er legt den Kopf schief, grinst mich an und sagt: „Erzähl keinen Quatsch! Es gibt in Deutschland doch keine Obdachlosen!“

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Flüchtlinge warten am Bahnhof auf den nächsten Zug nach Westeuropa.

In Budapest gibt es 13.000 Menschen, die keine eigene Wohnung haben. Schätzungsweise. Man sieht sie in den Unterführungen übernachten, man sieht sie an den Zugängen zur Metro. Und man sieht sie jetzt am Keleti unter den Flüchtlingen. Wie sie zwischen den Flüchtlingen ihre Decken ausrollen oder ihre Pappen auslegen; wie sie sich bei der Lebensmittelausgabe anstellen, wo man sie ein wenig irritiert anschaut: Sind das Flüchtlinge? Aber sie werden natürlich trotzdem versorgt. Und sie ziehen sich wieder in ihre Nischen zurück. Sie bleiben, während die Flüchtlinge bald weiterziehen.

Ansonsten können sie bei „Menhely Alapívány“ (zu Deutsch: „Stiftung Obdach“) unterkommen, eine Stiftung, die mehrere Unterkünfte unterhält. Ich treffe in deren Tagestreff Zoltán Gurály, Soziologe und Sozialarbeiter. Er kümmert sich auch um Budapests Straßenzeitung „Fedél Nélkül“ („Kein Dach mehr über dem Kopf“): Zwölf Seiten, dünnes Papier. Die meisten Artikel werden von Obdachlosen geschrieben: Gedichte, Erzählungen, Lebensberichte. Manchmal werden auch Interviews mit Prominenten veröffentlicht.

Die Zeitung hat keinen festen Verkaufspreis. Man gibt, was man geben will. „In Ungarn gibt es nicht viele Leute, die für eine soziale Sache Geld ausgeben“, begründet das Zoltán Gurály. „Viele unserer Leute halten ein Exemplar unserer Zeitung auch einfach nur hoch, während sie betteln; wir sind darüber nicht glücklich, aber wir haben es akzeptiert.“

Ich frage ihn nach dem Gesetz gegen Obdachlose, von dem ich gelesen habe. Ja, das sei eine merkwürdige Sache: Nach Amtsantritt der Orbán-Regierung 2010 habe die Stadt Budapest eine Verordnung erlassen, dass in besonders attraktiven Vierteln der Stadt das Lagern und Übernachten auf der Straße verboten sei. Als dann das oberste Gericht diese Verordnung als rechtswidrig kassierte, habe Orbán mit seiner komfortablen Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament einfach ein neues Gesetz beschlossen – so mache man das heutzutage in seinem Land.

Und – wird es angewandt? „Es wird nicht angewandt, das ist es ja: Wir wissen nicht, warum nicht.“ So, wie auch in diesem Moment nicht klar sei, wie hart und konsequent die Regierung ihr Dutzend Eilgesetze gegen die Flüchtlinge, aber auch die Helfer anwenden wird – oder nur teilweise oder vielleicht auch nicht. Es sind Gesetze, die die ein- und durchreisenden Flüchtlinge kriminalisieren. Und die, die ihnen helfen. Das Kaufen von Zugtickets oder das Aufsammeln erschöpfter Flüchtlinge am Straßenrand könnten dann als Schleppertätigkeit bewertet werden – das Verteilen von Lebensmittelspenden soll als gewerbsmäßige Tätigkeit verstanden werden und wäre anzumelden und ebenfalls zu bezahlen. Aber so sei es: Machtausübung beginne damit, dass man offen ließe, ob man seine Macht einsetzen wird. Wenn man unberechenbar bliebe. „Das Klima, in dem wir alle hier arbeiten, ist sehr schlecht“, sagt Zoltán Gurály. Und er schüttelt den Kopf: „Ungarn ist so ein komisches Land.“

Die zweite große Einrichtung neben „Menhely Alapívány“ ist das Obdachlosenzentrum „Fütött utca“ („Beheizte Straße“) der methodistischen Kirche Ungarns. Es wird geleitet von Gábor Iványi. Er ist eine Art Ikone der ungarischen Oppositionsbewegung, dabei hat er Viktor Orbán vor vielen Jahren getraut und seine ersten Kinder getauft. Doch als dessen rechtskonservative Regierung immer offener gegen sozial Schwache und Obdachlose vorging, etwa die Sozialhilfe kürzte, erhob Iványi seine Stimme. Im Gegenzug fiel er in Ungnade. Orbán ließ sich von seiner Parlamentsmehrheit gar im Sommer 2011 eigens ein neues Kirchengesetz zimmern: Demnach sollen nur noch die Religionsgemeinschaften staatliche Gelder für ihre sozialen und karitativen Tätigkeiten bekommen, wenn sie mehr als 30.000 Mitglieder zählen.

Es gibt aber keine 30.000 Methodisten in Ungarn. Also sind in den vergangenen Jahren eine Menge Leute in die methodistische Kirche eingetreten, die es sonst mit Gott nicht so haben – die aber Gábor Iványi und seine Mitarbeiter schätzen. So kann er mittlerweile seine Arbeit wieder fortsetzen.

Ich habe Glück, es lässt sich einrichten, dass er mich empfängt: in seinem Büro mit einer gepolsterten Tür. An der Wand hängt ein handsigniertes Porträt von Elisabeth der Zweiten, sie hat es ihm persönlich überreicht. „Fragen Sie, fragen Sie!“, sagt er, verschränkt die Hände über seinem sehr imposanten Bauch und lächelt gütig. Und er erzählt, wie er als junger Mann Anfang der 70er-Jahre Theologie studierte, wie er sich immer mehr für die verarmten und ausgegrenzten Roma Ungarns interessierte, wie er als Armenpastor aufs Land ging (er wählt das schöne Wort „Gesellschaftspastor“), dann Mitglied der oppositionellen Helsinki-Gruppe wurde und dafür fast im Gefängnis gelandet wäre. Und wie er nach dem Systemwechsel 1990 eine der ersten Schulen für Sozialarbeit gründete: „Wissen Sie, es gab vorher keine Sozialarbeiter, weil es ja im Sozialismus keine sozialen Probleme geben durfte.“ Er lacht in sich hinein: „Es gab auch erst nach der Wende ein Wort für ,ohne Obdach sein‘ – hajléktalan“. Und er bestätigt, was mir schon Zoltán Gurály erzählt hatte: In Ungarn werden Armut, Elend und Not wie etwas Ansteckendes wahrgenommen, und also sei es am besten, wenn man Not, Elend und Armut einfach nicht zeige, weil es sie dann nicht mehr gibt.

Auch die Geschichte des Hauses, in dem wir gerade sitzen, erzählt einiges: Es ist ein ehemaliger staatlicher Schlachthof mit Schlachterei sowie den Kühl- und Lagerräumen, den man nicht mehr brauchte, als ab 1990 die westlichen Wurst und Fleischwaren, vertrieben über die neuen Supermärkte, den heimischen Markt in kürzester Zeit zusammenbrechen ließen. „Wir haben das Gebäude für 99 Jahre gepachtet, und wir haben es aus eigenen Mitteln umgebaut.“ Aber nun hat er leider den nächsten Termin, aber sei ich mal wieder in der Stadt, ich könne mich gerne wieder melden. Und jetzt werde mir einer seiner Sozialarbeiter alles zeigen. Und der führt mich nun durch das Haus, zeigt mir die Krankenstation, den Tagesraum, die Suppenküche. Und die Räume im Keller, in denen etwa 30 blanke Metallbetten stehen und ebenso viele schäbige Matratzen an der Wand lehnen: Man kann hier übernachten, morgens muss man gehen.

Ich bin hin- und hergerissen: Einerseits gibt es anrührend liebevoll ausgestattete Abteilungen wie ein kleines Hospiz; andererseits schockiert mich der pragmatische Umgang mit den hier Lebenden: Der Sozialarbeiter klopft nicht einmal an, wenn wir einen nächsten Raum betreten, in dem ärmlich gekleidete Menschen Fernsehen schauen oder auf einem zerwühlten Bett liegen; ich werde nicht einmal vorgestellt. Ich halte meine Kamera in der Hand, aber mir will es einfach nicht gelingen, Fotos zu machen. Es ist, als würde ich in eine ganz eigene Welt abtauchen.

Wir stehen schließlich in einem langgestreckten Raum, in dem sich die Wohnungslosen tagsüber aufhalten können. In einer Abseite hinter Maschendraht stehen ein paar Betten: In einem liegt ein älterer Mann. Er liegt da und schaut mich aus großen Augen an und ich weiß nicht, wie ich zurückblicken soll, während der Sozialarbeiter mir sachlich erzählt, dass oben im ersten Stock die, die einen Job gefunden haben, kleine Zimmerchen hätten und nicht morgens um sechs Uhr geweckt würden wie alle anderen. Als ich wieder nach dem Mann schaue, hat er die Augen geschlossen und scheint zu schlafen.

Es gibt in dem verwinkelten Bau auch einige Zimmer für Flüchtlinge. „Wollen sie in Ungarn bleiben oder wollen sie irgendwann weiterziehen?“, frage ich. „Man weiß es nicht“, sagt der Sozialarbeiter. In der Gemeinschaftsküche, die zu diesen Zimmern gehört, steht ein Mann, ich vermute aus Afri ka. Er steht einfach da, starrt an die Wand, wippt mit dem Oberkörper vor und zurück und redet leise vor sich hin.

„Wir haben in Budapest große Obdachlosenunterkünfte, aber diese arbeiten rein karitativ und nicht politisch“, sagt Balog Gyula, Urgestein der ungarischen Obdachlosenbewegung und Mitbegründer von „A Város Mindenkié“ – übersetzt: „Die Stadt gehört allen“. Ihm zur Seite steht Tompa István, der gerade mit seiner jungen Frau und dem gemeinsamen Baby zur Untermiete untergekommen ist. Er hat als Kind viel österreichisches Fernsehen geschaut – und sich so mit der deutschen Sprache vertraut gemacht. Er übersetzt für uns.

Und es folgt ein spannender Exkurs in die junge Geschichte des Landes aus Sicht der Obdachlosen: Wie im Staatssozialismus ein sogenannter Asozialenparagraf dafür sorgte, dass etwa Männer, die eine Scheidung aus der Bahn warf, in Wohnheime mit Mehrbettzimmern eingewiesen wurden und sie nicht einfach ihrer Wege gehen durften. Wie nach der Wende im Schwung der Euphorie ganze Wohnsiedlungen privatisiert, also verscherbelt wurden. Und der Staat nicht daran dachte, einen gewissen Grundbestand an bezahlbaren Wohnungen zu halten. Mit heute verheerenden Folgen: Es gibt keinen sozialen Wohnungsbau; nur drei Prozent aller Mietwohnungen in Ungarn sind überhaupt in kommunalem Besitz. Sodass, wer einmal seine Wohnung verliert, eigentlich keine Chance hat, je wieder eine zu bekommen.

Zugleich steht massenhaft Wohnraum leer; schon in der Innenstadt sieht man halbe Straßenzüge leer stehen, während prächtige Bauten aus der K.-u.-k.-Monarchie in Hotels für westliche Touristen umgewandelt wurden. Es gäbe also viel Platz, um die Obdachlosen unterzubringen. Und es gäbe auch viel Platz für die Flüchtlinge. Überhaupt die Flüchtlinge: Mitstreiter von „A Város Mindenkié“ waren Anfang September dabei, als sie sich auf eigene Faust aufmachten, um Budapest zu verlassen. „Heute helfen einige von unseren Unterstützern am Bahnhof Keleti mit“, sagt Balog Gyula.

„Die Stadt gehört allen“ ist nicht die einzige Organisation, die sich neben ihren eigenen Belangen für die der Flüchtlinge einsetzt. Auch die jüdische Community Ungarns hat unter ihrem neuen Sprecher Rabbi Zoltán Radnóti in einem offenen Brief Viktor Orbáns Flüchtlingspolitik kritisiert und sie unumwunden „unmenschlich“ und „beschämend“ genannt. Das mag für unsere Ohren nicht allzu rebellisch klingen – in Ungarn erfordert so etwas viel Mut.

Ich habe wieder Glück, und Rabbi Radnóti trifft sich mit mir auf einen schnellen Kaffee im „Café Tel Aviv“. Er entschuldigt sich zunächst für sein mageres Englisch – das nicht schlechter sein wird als meins. „Also, die …“, er stockt. Er sucht nach einem Wort. Er holt sein Handy hervor, öffnet eine App für ein Englischwörterbuch, er tippt Buchstaben ein, wird nicht fündig. Er schaut mich fragend an: „Wie sagt man zu diesen Leuten, die jetzt alle kommen, aus Syrien, aus Afghanistan?“ – „Refugees? Flüchtlinge?“, versuche ich es. „Refugees!“, ruft er erleichtert aus. „Es ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich dieses Wort benutze. Ich muss es mir unbedingt merken.“ Und wir beide lachen herzhaft.

Und dann erzählt er: Ja, sie sammeln Spenden. Lebensmittel, Kleidung, Hygieneartikel und auch Geld. Wobei es nicht einfach gewesen sei, diese Aktion zu starten: „Es gibt auch bei uns in der Community viele Vorbehalte gegenüber den Flüchtlingen. Und wieder andere hatten schlicht Angst, sich mit der Regierung anzulegen, denn die mag es ja gar nicht, dass man diesen Menschen hilft.“ Doch am Ende hätten sie beschlossen, ihren Weg zu gehen, sich notfalls gegen die Regierung zu stellen und eben zu helfen. Das Gespendete ginge unmittelbar an die Südgrenze nach Röszke. Dort, wo die Zustände für die Menschen so unhaltbar seien und gleichfalls nur zivile Helfer vor Ort wären.

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Die Werbung auf dem Zug feiert noch den Mauerfall. 25 Jahre später führt Deutschland wieder Grenzkontrollen ein.

Wie wird es weitergehen? In den nächsten Tagen, Wochen, Monaten? Wie alle, die ich das gefragt habe, sackt er kurz zusammen, schüttelt ratlos den Kopf: „Ich weiß es nicht; wirklich nicht. Ich habe keine Idee.“ Er richtet sich wieder auf: „Wir Ungarn kennen das nicht: fremde Menschen. Wir kennen das nicht, dass Menschen an unserer Grenze stehen und zu uns hereinwollen. Wir müssen das erst lernen, damit umzugehen, und ich hoffe, dass wir das lernen.“

Die Antwort auf sein Engagement kam übrigens postwendend: Orbán schickte Grüße zu Rosch ha-Schana, dem jüdischen Neujahrstag, ergänzt um einige Ausführungen: dass Ungarn weiterhin und ganz entschieden seine Grenzen schützen werde und dass in Ungarn nur Platz für Ungarn sei. Ein deutlicher Hinweis, dass die Juden, die in Ungarn leben, es sich genau überlegen sollten, ob sie dazugehören wollen.

Und wo ich gerade in die jüdische Welt Budapests eintauche, schaue ich noch im „Aurora“ vorbei – ein Club, der maßgeblich von der jüdischen Jugendorganisation „Marom“ getragen wird und in dem einige NGOs ihren Sitz haben; auch „Die Stadt gehört allen“ ist regelmäßig zu Gast.

Es sind meist junge Leute, die hier aktiv sind; viele sind jetzt vor Ort am Keleti, um die Flüchtlinge zu versorgen. Aron übernimmt es, mir die Geschichte des Clubs zu erzählen: wie sie drüben im jüdischen Viertel einen ersten Treffpunkt eröffneten; wie die Polizei den Treff stürmte, unter dem Vorwand, das Gebäude sei baufällig. Und wie sie jetzt im Roma-Viertel von Budapest einen Neuanfang wagen wollen. „Wir möchten, dass sozial interessierte Leute hier in der Bar einen Kaffee oder ein Bier trinken, sich wohlfühlen, vielleicht mal abends eine unserer politischen Veranstaltungen besuchen und die sich vielleicht langfristig einer unserer NGOs anschließen“, sagt er.

„Woher nimmst du die Kraft, diese Arbeit zu tun?“, frage ich. Er lacht verlegen, schaut an mir vorbei: „Also, ich selbst werde in zwei Tagen Ungarn verlassen; ich gehe nach London, um dort zu arbeiten.“ Ja, es tue ihm leid, aber er gehe. „In diesem Land sehe ich für mich keine Zukunft mehr.“ Damit ist er nicht allein: 600.000 Ungarn haben seit 2010 ihr Land verlassen. Vor allem Leute wie Aron. Gut ausgebildet, motiviert, jung. Und wo ging es oft hin? Nach Deutschland.

Soll ich damit schließen? In der Redaktion sprechen wir oft darüber, ob man nicht am Ende einer Geschichte etwas Positives aufzeigen sollte oder ob das nicht im Gegenteil nur billiger Trost sei. Ich gehe gedanklich noch mal zum Bahnhof zurück. Stehe da an meinem letzten Abend inmitten der Flüchtlinge und der Helfer, vor mir eine Frau im Schneidersitz. Sie trägt einen Hidschab, hält ein schlafendes Kind auf dem Arm, ein zweites steht neben ihr, reibt sich müde die Augen, während der Familienvater dünne Matratzen und Decken, von Ikea gespendet, heranschleppt. Sie sind gerade frisch angekommen. Haben es geschafft, nach Keleti zu gelangen, statt in einem der völlig überfüllten Auffanglager an der Grenze auf nicht absehbare Zeit festgehalten zu werden.

Eine Frau tritt hinzu, keine der Helferinnen, sondern eine Budapesterin mit schmalem Rucksack und in einer geringelten Strickjacke. Sie grüßt die vor ihr Sitzende, reicht Babywindeln und eine Papiertüte mit Lebensmitteln. Sie führt ihre rechte Hand an ihren Mund und macht heftige Kaubewegungen. Die beiden Frauen fangen plötzlich laut an zu lachen, denn was soll man mit Keksen und Bananen und Äpfeln schon anderes machen, als sie zu essen? Dann verabschieden sie sich voneinander – und lächeln sich dabei an.

Text und Fotos: Frank Keil

P.S.: Kurz nach der Rückkehr unseres Autors hat Ungarn seine Grenzen gegen Flüchtlinge abgeriegelt. Bei Redaktionsschluss war zumindest ein Grenzübergang nach Serbien wieder geöffnet. Wenn Sie diese Geschichte lesen, kann die Situation schon wieder völlig verändert sein.

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