Sie sind das Herz unserer Arbeit: die rund 500 wohnungslosen Hinz&Künztler:innen, die das Magazin auf Hamburgs Straßen verkaufen. Ihnen wird nun in der Hafencity ein imposantes Street-Art-Denkmal gesetzt.
Ein Samstagmittag Mitte Oktober, mit massig Hamburger Wetter. Mächtige Windböen, Starkregen, knallige Sonne – alles im wilden Wechsel. „Das kenne ich aus Dublin, vier Jahreszeiten an einem Tag“, sagt lächelnd der junge, bärtige Mann mit dem freundlichen Gesicht und beißt genüsslich in seine Stulle, mit der er einen Regenschauer überbrücken will. Gleich danach aber wird Aches, einer der bekanntesten irischen Street-Art-Künstler, hier in der Hafencity auf einer riesigen Hauswand (27 x 14 Meter) an seinem neuesten Werk weiterarbeiten (das inzwischen vollendet ist): einem im wahrsten Sinne des Wortes überlebensgroßen Mural, das den 2020 verstorbenen Hinz&Künztler Uwe Dierks zeigt. Damit setzt er nicht nur Uwe und seinen Kolleg:innen, sondern allen Obdachlosen der Freien und Hansestadt ein Denk-Mal.
Der Standort Shanghaiallee, Ecke Hongkongstraße ist dabei bewusst gewählt. „Wir wollten für dieses Werk eine möglichst große Sichtbarkeit schaffen“, sagt Lukas Grellmann, der im Rahmen des Projekts „Walls Can Dance“ der Freiraumgalerie inzwischen Wandgemälde in der ganzen Stadt realisiert und dieses Projekt für Hinz&Kunzt mit angeschoben hat. Wer mit dem Auto auf dem Weg in die City von den Elbbrücken kommend den Schlenker über die Hafencity nimmt, macht plötzlich große Augen: Uwes riesenhaftes Porträt ballert einen dermaßen an, dass der Blick kaum davon lassen kann.
Sichtbarkeit ist eh ein passendes Stichwort. „Uwe muss ein guter Typ gewesen sein, immer fröhlich trotz seines schwierigen Schicksals“, weiß Aches (gesprochen: Äjks), 31, zu berichten. „Und ich möchte mit meinen Arbeiten zeigen, dass Menschen immer mehr als nur das eine Gesicht haben, das wir von ihnen kennen.“ Sein Werk an der Hauswand Shanghaiallee 20 zeigt in der für Aches typischen Art deshalb nicht nur einen Uwe, sondern im Spiel der sich überlappenden Formen und Farben Gelb, Magenta und Cyan gleich drei Gesichter des Hinz&Künztlers – beinahe wie bei einem Prisma. Und je länger man hinschaut, desto mehr Facetten gibt es zu entdecken. „Genau wegen dieser fotorealistischen Herangehensweise haben wir Aches für dieses Projekt ausgewählt“, sagt Lukas Grellmann. „Gerade Obdachlose werden ja von anderen oft nur aus diesem einen Blickwinkel betrachtet. Und das wird ihnen als Menschen einfach nicht gerecht.“
Das berührt den Kern. „Uwe, Ausweisnummer 38, gehörte zu den ersten Verkäufer:innen des Straßenmagazins. Als wir ihn kennenlernten, war er Anfang 50 und stark verelendet“, sagt der ehemalige Hinz&Kunzt-Sozialarbeiter Stephan Karrenbauer, der den alkoholkranken und spielsüchtigen Uwe über viele Jahre begleitet hat, bis zu seinem Krebstod mit 78 Jahren. Und weiter: „Er hatte eine Odyssee hinter sich: Kinderheim, Männerwohnheim, Straße, vom Staat bezahltes Billighotel auf dem Kiez. Manchmal hatte er einen Job, aber nie lange.“ Aber das war eben nur das eine Gesicht. Denn, so Karrenbauer, „Uwe war auch einer der optimistischsten Menschen, die ich je kennengelernt habe. Und die Menschen begegneten ihm freundlich und liebevoll. Vielleicht weil ausgerechnet dieser alkoholkranke und spielsüchtige Mann so etwas wie Unschuld verkörperte – und pure Lebensfreude.“
Als Verkäufer der „ersten Stunde“, an den sich auch noch heute viele Hinz&Künztler:innen erinnern, hat Uwe Dierks nun in der Hafencity ein zweites Leben bekommen – so, wie man es jedem Menschen in Not wünscht. Uns Uwe, einer für alle.