Abschied von Sozialarbeiter Stephan Karrenbauer

27 Jahre Einsatz für Hamburgs Obdachlose

Stephan Karrenbauer in seinem Büro im Hinz&Kunzt-Haus. Foto: Mauricio Bustamante

Schweren Herzens verabschiedet sich Hinz&Kunzt von Stephan Karrenbauer. Der Sozialarbeiter hat 27 Jahre lang für die Rechte von Obdachlosen gekämpft und unzähligen Hinz&Künztler:innen zur Seite gestanden.

Hinz&Kunzt Randnotizen

Freitags informieren wir per Mail über die Nachrichten der Woche:

Stephan, kaum jemand in Hamburg hat so beharrlich für die Rechte von Obdachlosen gekämpft wie du. Und du hast viel erreicht. Was freut dich im Rückblick besonders?

Dass die Idee des Hinz&Kunzt-Hauses umgesetzt wurde, mit Wohngemeinschaften für Menschen, die sonst keine Chance auf ein Zuhause gehabt hätten, das war ganz wichtig. Aber welcher Erfolg der größte war, kann ich nicht sagen. Fast alles, was wir an Projekten umgesetzt haben, war ein Erfolg – weil es von einer inneren Begeisterung getragen wurde.

An welche Projekte denkst du da?

Es gibt so vieles, ich kann das gar nicht in eine Reihenfolge bringen. Es ist für mich auch ein Erfolg, wenn ich jemanden überzeugen konnte, den Mut aufzubringen, endlich zum Zahnarzt zu gehen. Eins der ersten großen Projekte, das mir einfällt, war das Winterzelt 1996 auf dem Gerhard-Hauptmann-Platz, das wir aufgebaut und betrieben haben für Menschen auf der Straße, die nicht ins Winternotprogramm gegangen sind. Da haben auch viele Obdachlose mitgearbeitet. 2008 haben wir einen Schrebergarten gemietet, in dem mehrere Leute jahrelang geschrebert haben. Der Stadtrundgang ist ein Megaerfolg, vor Corona hat unser Stadtführer Chris 5000 Menschen im Jahr durch Hamburgs Nebenschauplätze geführt. Wir haben auch erreicht, dass das Pik As nicht mehr so überfüllt ist und heute niemand mehr auf dem Flur schlafen muss. Das war ein Erfolg, genauso wie „Spende dein Pfand“ am Flughafen.

Das Pfandprojekt am Flughafen entstand 2015 nach einer Petition von Hinz&Kunzt, die öffentlich machte, dass bedürftige Menschen Anzeigen wegen Hausfriedensbruch kassierten, weil sie trotz Verbot im Flughafen Pfandflaschen sammelten. Binnen drei Tagen unterzeichneten 57.000 Unterstützer:innen die Petition, das Management des Flughafens bat um eine kooperative Lösung. Die wurde gefunden: Hinz&Kunzt stellte drei „Pfandbeauftragte“ fest ein, sozialversichert und fair bezahlt. Auch bei den „Brotrettern“, einem Kooperationsprojekt mit der Bäckerei Junge, oder als Stadt­führer sind Hinz&Künztler fest angestellt. Projektleiter ist in allen Fällen Stephan Karrenbauer. „Er hat viele Ideen und war auch immer offen für die von anderen. Sobald sich die Chance bot, hat er gute Ansätze aufgegriffen und daraus ein Projekt entwickelt, das ­genau zu Hinz&Kunzt und der bestehenden Situation gepasst hat. Er hat viel Verantwortung übernommen“, sagt Ex-Chefredakteurin Birgit Müller, seine langjährige Mitstreiterin.

Wie fühlt es sich nun an, nach so langer Zeit Hinz&Kunzt zu verlassen?

Nach fast 30 Jahren fällt es natürlich schwer. Hinz&Kunzt ist ein ganz wichtiger Teil meines Lebens. Ich lasse vieles hinter mir, das schmerzt. Trotzdem ist es die richtige Entscheidung, nun zu gehen.

Wieso?

Ich habe gemerkt, dass meine Kräfte nachlassen und ich mir selber nicht mehr gerecht werde. Bei Hinz&Kunzt habe ich alles gegeben, das musste auch so sein. Aber ich bin an den Punkt gekommen, da merke ich: Ich kann mich selber nicht mehr hören. Es ermüdet mich, immer wieder dasselbe kritisieren zu müssen, immer wieder neue Worte finden zu müssen für Missstände, die einfach nicht behoben werden. Zum Beispiel, dass immer noch nicht ganzjährig ausreichend Unterkünfte für Obdachlose geschaffen werden. Wir haben 2000 obdachlose Menschen in Hamburg. Dass man es nicht hinkriegt, denen ein Zuhause zu bieten, ist mir unbegreiflich. Ich weiß nicht, wie ich da noch weiterkommen soll.

Stephan Karrenbauer gehört in Hamburg zu den ersten Sozialarbeiter:innen, die sich ­gezielt für Obdachlose einsetzen. Als er bei Hinz&Kunzt anfing, war das Bild in der Innenstadt nach Ladenschluss noch ein ganz anderes als heute: In fast jedem Hauseingang schliefen Obdachlose. Es waren Menschen aus der ehemaligen DDR, die gestrauchelt waren beim Versuch, im Westen Fuß zu fassen, schwere Krisen erlitten und alkoholkrank geworden waren. Andere landeten, nachdem sie eine Gefängnisstrafe verbüßt hatten, direkt auf der Straße. Einige kamen aus Heimen der Jugendhilfe. Für sie gab es damals keine Angebote, Straßensozialarbeit fand in der ­City nicht statt. Dass sich das änderte, ist ein großer Verdienst von Stephan Karrenbauer und Birgit Müller, ehemals Chefredakteurin von Hinz&Kunzt. Im Team mit vielen ­anderen bildeten sie eine Lobby für die Hilfs­bedürftigen und überzeugten auch die Geschäftstreibenden in der City, Obdachlose nicht als Störenfriede, sondern als Menschen zu sehen, die zur Hamburger Gesellschaft dazu gehören.

Stephan Karrenbauer und der ehemalige Vertriebsleiter Dieter Redenz bei der Übergabe eines ausrangierten Polizeibullis. Foto: Frederika Hoffmann

Seit deinem Beginn bei Hinz&Kunzt hat sich für Obdachlose in Hamburg vieles verbessert. Sind wir auf einem guten Weg?

Ja, wir haben viel geschafft. Aber es reicht noch nicht. Jeder Hamburger, der mit offenen Augen durch die Stadt läuft, sieht, dass etwas nicht stimmen kann, wenn Menschen offensichtlich auf der Straße verelenden. Das große Ganze hat sich nicht verändert.

Hamburg hat sich wie viele andere Städte das Ziel gesetzt, Obdach­losigkeit bis 2030 abzuschaffen.
Wie kommen wir voran?

Obdachlosigkeit ist als Problem erkannt worden. Nun müsste ein Plan entwickelt werden, dieses Problem aus der Welt zu schaffen. Was aber passiert? Wir sehen den Missstand, wir schreien auf, und dann macht die Stadt ein bisschen was. Dieses Bisschen ist gut, aber nicht genug. Jeder Mensch braucht Hoffnung, und diese Hoffnung muss ich als Sozialarbeiter den Leuten auf der Straße vermitteln können. Es reicht nicht, zu sagen: Wenn du Glück hast, bekommst du irgendwann was.

Wie kommen denn obdachlose Menschen überhaupt an einen Platz im Wohnheim ran – und von dort aus
weiter?

Wir haben in Hamburg ein System, bei dem obdach- und wohnungslose Personen in bestimmte Stufen eingeteilt werden, die sich an ihrer sogenannten Wohnfähigkeit bemessen. Bei diesem Kriterium geht es darum, ob den Leuten zugetraut wird, dass sie eine eigene Wohnung überhaupt führen können. Wer dieses Stufensystem durchlaufen hat, bekommt in der Regel irgendwann die Chance auf eine Wohnung.

Was spricht gegen so ein System?

Dass es die Menschen ein Stück weit entmündigt. Wohnungslose im Wohnheim etwa bekommen zunächst keinen eigenen Mietvertrag, sondern die Einrichtung schließt den ab. Nach einem Jahr wird dann entschieden, ob die Person einen Mietvertrag auf ihren Namen bekommt. So eine Regelung für erwachsene Leute finde ich bedenklich. Es gibt Leute, die lehnen es ab, sich in so ein Stufensystem hinein zu begeben, weil sie sich da mies behandelt fühlen – und das kann ich gut nachvollziehen.

Auch wer auf der Straße lebt, kann Verantwortung für sich selbst übernehmen – dieses Prinzip war und ist dem Sozialarbeiter ­wichtig. Auch er musste manchmal Geduld aufbringen, wenn Hinz&Künztler:innen ­lange brauchten, um Unterstützung anzu­fragen oder einige Anläufe brauchten, um bei Ämtern und Behörden ihre Rechte geltend zu machen. Doch ihnen diese Aufgaben voreilig abzunehmen, hält er für falsch – weil es den Menschen die Chance nimmt, selbst etwas zu erreichen. „Dass er die Leute gelassen, aber dabei immer im Blick gehabt hat, das hat s­eine Arbeit besonders gemacht“, sagt Mitstreiterin Birgit Müller.

Hat Hamburg heute ein Winternot­programm, mit dem du einverstanden sein kannst?

Dass die Stadt in der Halskestraße ein Hotel angemietet hat, um Obdachlose in Einzelzimmern unterzubringen, ist ein Quantensprung. Trotzdem werden auch dort mehrere Hundert obdachlose Menschen in einem Haus untergebracht.

Was ist daran problematisch?

Im Winternotprogramm kommen extrem kranke Menschen zusammen, die stark alkoholisiert sind oder die sich in einem psychischen Ausnahmezustand befinden. Du willst zu so einer Gruppe von Menschen nicht dazugehören. Dieses Argument nennen obdachlose Menschen meist nicht, sie sagen eher: „Ich habe Angst, beklaut zu werden.“ Das mag vorkommen. Aber ich glaube, die Konfrontation mit der eigenen Krise hindert viele daran, ins Winternotprogramm zu gehen.

Seit Beginn des Jahres sind schon wieder acht wohnungslose Menschen auf der Straße gestorben, darunter auch Pluto, ein bekannter und beliebter Hinz&Künztler. Was lösen solche Todesmeldungen in dir aus?

Immer noch: Trauer. Ich werde aber auch aggressiv. Wenn ich daran denke, was wir gerade für Pluto alles unternommen haben, damit man ihm hilft! Was Pluto gebraucht hätte, war ein Zuhause. Er hat sogar das Winternotprogramm immer bis zum letzten Tag in Anspruch genommen. Wenn man das alles so spürt und mitbekommt, und dann sterben die Leute auf der Straße – irgendwann fehlen einem einfach die Worte. Ich merke, dass ich darüber gar nicht mehr sachlich diskutieren kann. Das ist auch ein Grund, warum ich es für sinnvoll halte, früher zu gehen.

Welche Ziele hättest du gerne noch erreicht?

Das oberste Ziel ist nicht erreicht worden, und zwar dass wir gemeinsam mit der Sozialbehörde ein Konzept erarbeiten, wie alle Obdachlosen in Hamburg eine dauerhafte, menschenwürdige Unterkunft bekommen. Es kann nicht sein, dass die Sozialarbeit in Hamburg nur noch das Leben der Menschen auf der Straße erhalten soll, weil die Angebote fehlen, die eine wirkliche Integration möglich machen. Daran muss weitergearbeitet werden.

Beharrlich Missstände ansprechen und ­zeigen, wie es besser gehen kann – damit ­haben Stephan Karrenbauer und seine Mitstreiter:innen bei Hinz&Kunzt politisch viel für Obdachlose bewirkt. Nach einer Deutschlandreise präsentierten er und Birgit Müller der Sozialbehörde eine Sammlung an guten Projekten für Obdachlose, die in ­anderen Städten schon etabliert waren, und s­tießen damit auch ein Umdenken in der Bürgerschaft an. Mit dem früheren Sozial­senator Detlef Scheele liefen sie nachts durch die Innenstadt, um auf die Menschen aufmerksam zu machen, die dort Platte machten. Als das Betteln in der Hamburger Innenstadt verboten werden sollte, startete Hinz&Kunzt Aktionen dagegen und wendete das Blatt. In vielen kleinen Schritten veränderten ­Stephan Karrenbauer und die, die mit ihm an einem Strang zogen, die politische Agenda, initiierten Runde Tische und etablierten einen beständigen Dialog zwischen Stadt und ­ziviler Obdachlosenhilfe.

Als politischer Sprecher warst du auch Lobbyist für die Rechte von Obdach­losen. Bist du zufrieden mit dem, was Hinz&Kunzt politisch geschafft hat?

Hinz&Kunzt hat erreicht, dass das Thema Obdachlosigkeit inzwischen über Jahrzehnte fest verankert ist in den Köpfen der Politiker. Das haben wir hinbekommen: Den Hamburgern immer wieder klar zu machen, dass es keine Normalität ist, dass Menschen auf der Straße schlafen. Deshalb gibt es keinen Senat, der sich uns gegenüber verweigert hat oder nicht bereit wäre, Gespräche zu führen. Vielleicht auch, weil Politiker grundsätzlich gerne lieber mit guten Geschichten in unserer Zeitung stehen. Wir sind Meinungsmacher.

Artikel aus der Ausgabe:

Keine Angst vorm Alter

Über Wohnungslosigkeit im Alter, alte Freundschaften und Wege aus der Altersarmut. Außerdem: Ökonom Marcel Fratzscher über die sozialen Folgen der Inflation und eine Reisereportage aus Albanien.

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Autor:in
Annabel Trautwein
Annabel Trautwein
Annabel Trautwein schreibt als freie Redakteurin für Politik, Gesellschaft und Kultur bei Hinz&Kunzt - am liebsten über Menschen, die für sich und andere neue Chancen schaffen.

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