Stadtgespräch

„Wir dachten, wir sind hier zu Hause“

Im Café Leonar trägt sie als Symbol des Judentums eine Kette mit dem Davidstern. In keinem anderen Restaurant würde sie das tun. Foto: Dmitrij Leltschuk
Im Café Leonar trägt sie als Symbol des Judentums eine Kette mit dem Davidstern. In keinem anderen Restaurant würde sie das tun. Foto: Dmitrij Leltschuk
Im Café Leonar trägt sie als Symbol des Judentums eine Kette mit dem Davidstern. In keinem anderen Restaurant würde sie das tun. Foto: Dmitrij Leltschuk

Es brauchte seine Zeit, aber dann wurde sie gerne deutsche Staatsbürgerin. Nun plant sie, nach Israel zu gehen. Die Geschichte einer Enttäuschung.

Hinz&Kunzt Randnotizen

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Am 8. Oktober vor über einem Jahr, als tags zuvor bei dem Überfall der Hamas aus dem Gaza-Streifen mehr als 1200 Menschen ermordet und Hunderte weitere entführt worden waren, als sie langsam wieder zur Besinnung kommt und allmählich erfasst, was eigentlich passiert ist, bestellt ihr Partner über das Internet eine israelische Flagge. Um sie an den Balkon ihrer Wohnung zu hängen, der blaue Davidstern auf weißem Grund, weithin sichtbar. „Das machen wir nicht“, sagt sie. „Aus Angst um unsere Kinder.“

Wir sitzen im „Café Leonar“; es ist früher Abend, draußen ist es längst dunkel, viele Tische sind besetzt. „Wir sind ein stilvolles, gemütliches Restaurant und Café direkt im Herzen des jüdischen Grindelviertels“, so steht es auf der Homepage. Hier trägt sie ihre schmale silberne Halskette mit dem Davidstern. In keinem anderen Restaurant würde sie das tun; erst recht nicht im Bus, nicht in der U-Bahn, auch nicht auf der Arbeit. Das war mal anders. „Wobei es nie normal war, jüdisch zu sein; hier nicht und zuvor in Belarus nicht, wo ich geboren und aufgewachsen bin, aber Angst hatte ich trotz mancher Blicke und manch komischer Bemerkungen nie“, erzählt sie.

„Es war nie normal, jüdisch zu sein. Aber Angst hatte ich trotz mancher Blicke und manch komischer Bemerkung nie.“

Vor 22 Jahren ist sie nach Deutschland gekommen: In der Sowjetunion, zu der Belarus lange gehörte, bedeutete jüdisch zu sein keine Religions-, sondern die ethnische Zugehörigkeit. „Deshalb hatte ich überhaupt kein Problem mit den Nachweisen: Es reichte meine Geburtsurkunde, denn da steht schwarz auf weiß „,Nationalität: jüdisch‘“, sagt sie.

Sie erhält einen Aufenthaltsstatus, der ihr problemlos ermöglicht zu arbeiten und in Hamburg zu leben, wo sie ihre beiden Kinder bekommt. Soll sie auch amtlich Deutsche werden? Vielleicht ja, denkt sie, vielleicht nicht. Der deutsche Pass, die deutsche Staatsbürgerschaft ist nichts, was sie einfach so mitnehmen will, nur weil sie es kann. Es ist ihr ernst damit. Im Laufe der Jahre aber, im Jahr 2020 schließlich, fühlt sie sich in Deutschland zu Hause, ist hier angekommen, sie lässt sich einbürgern: „Es war mein Land“, sagt sie rückblickend. „Und ich war stolz, den Pass zu bekommen.“

„Wir fühlen uns verraten.“

Zwei Jahre später beginnt der Krieg Russlands gegen die Ukraine, Hunderttausende Ukrainer:innen fliehen nach Deutschland. „Ich hatte immer Lust zu unterrichten“, erzählt sie. Sie hatte in Belarus Deutsch auf Lehramt studiert. In Deutschland absolviert sie ein zweites Studium: Betriebswirtschaft. Und findet schnell einen Job in der Industrie. Aber der Reiz, doch noch einmal zu unterrichten, der ist geblieben. Wann, wenn nicht jetzt, wäre ein guter Zeitpunkt, vor einer Klasse zu stehen? „Und der Bedarf war ja riesengroß“, sagt sie.

Sie erhält vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge das nötige Zertifikat, kündigt ihren Job, fängt an einer Sprachschule an zu arbeiten, hat Vormittags-, Nachmittags- und Abendkurse. „Manche Kurse waren zu 90 Prozent ukrainisch“, erzählt sie. In anderen Kursen sitzen Menschen aus Syrien und Afghanistan, aus der Türkei, aus dem Iran, dem Irak, aus Tunesien und Ägypten, die alle vereint, dass die überwiegend muslimischen Teilnehmer:innen bei ihr Deutsch lernen wollen; bei der Frau, die an ihrer Halskette einen kleinen Davidstern trägt, so wie andere eben etwa ihr Kopftuch tragen. Und dann kommt der 7. Oktober.

Zuvor aber erlebt die Türkei im Februar 2023 ein schweres Erdbeben. „Ich habe damals allen meinen türkischen Schülern und Schülerinnen eine E-Mail geschrieben und sie gefragt, ob ihre Familien okay seien, ob es ihnen allen gut gehe.“ Sie hätte das nicht tun müssen. Niemand verlangt das von ihr, aber sie möchte ihre Anteilnahme zeigen.

Und nun, nach dem, was an der Grenze des Gaza-Streifens geschehen ist? Ein Schüler, ein Kurde, sei auf sie zugegangen: „Er hat mich in den Arm genommen und in seinem etwas gebrochenen Deutsch gesagt: ‚Es tut mir so leid um deine Leute.‘“ Er habe gar nicht gewusst, ob und wie oft sie schon Israel besucht habe. Er weiß, dass sie Jüdin ist, das reicht ihm. Er bleibt der Einzige, der in der Schule auf sie zugeht. Niemand sonst spricht sie an. Niemand sagt etwas.

Sie nimmt einen Schluck zu trinken. Nein, es sei nichts direkt Schlimmes passiert. Aber sie fühlt sich unwohl und unwohler und abends, wenn sie durch das leere, dunkle Schulgebäude geht, hat sie schlicht Angst. Ihr Partner holt sie nun ab. Nach einigen Tagen kündigt sie und kehrt in ihren alten Beruf zurück.

Doch das ist es nicht allein. Da waren noch die Demonstrationen. Die in Berlin-Neukölln etwa, wo Süßigkeiten verteilt wurden, um die Mordtaten der Hamas zu feiern. Demonstrationen an manchen Universitäten, wo mehr oder weniger offen von jungen Leuten die Abschaffung des Staates Israel gefordert oder in Kauf genommen wurde. Und später die Demonstration in Hamburg am Jungfernstieg: „Es war eine Demonstration gegen Antisemitismus in Deutschland, nicht mal eine Solidaritäts-Demo für den Staat Israel“, sagt sie. Da müssten doch ziemlich viele Leute zusammenkommen, wie sonst auch, ist sie überzeugt. Sie holt tief Luft: „Am Ende standen etwa 100 Leute im Regen, kaum jemand aus der Hamburger Bevölkerung war da, es war fast mehr Polizei anwesend als Demonstranten.“

Was sie zusätzlich schmerzt: Auch ihre Freunde zeigen sich nicht; die, mit denen sie in den vergangenen Jahren so oft auf der Straße war, für die Demokratiebewegung in Belarus, gegen den Krieg gegen die Ukraine oder für die Black-Lives-Matter-Bewegung, an vielen Wochenenden, immer wieder. „Ich stand da und dachte: Die kommen noch. Die kommen gleich um die Ecke, die kommen die Stufen aus dem U-Bahntunnel emporgestiegen, und dann sind wir wieder viele.“ Sie sagt: „Ich dachte, das kann nicht sein, dass keiner kommt.“ Dann kommt doch noch eine Freundin – sie wird ihr ein Halt in den nächsten Wochen.

Von den anderen aber haben sich viele nie wieder gemeldet. Von einem befreundeten Paar weiß sie, dass es an ihrer Seite steht, dass es aber schlicht Angst hatte, auf diese Demonstration zu gehen. „Und die anderen, die ich hinterher sprechen konnte, haben gesagt: ‚Es ist alles nicht so eindeutig.‘“ Sie sagt: „Die, für die der Ukraine-Krieg sehr eindeutig war und für die Putin eindeutig das Böse ist, sagten das; aber geht es um uns Juden, ist alles nicht mehr so eindeutig.“ Sie sagt: „An guten Tagen denke ich: Sie meinen es nicht so. Aber an all den anderen Tagen denke ich: Schau hin, traue deinen Augen und sieh, was nicht ist.“

Dabei bräuchte es nicht viel, um etwas zu tun: „Man kann einen jüdischen Menschen, den man kennt, anrufen oder anschreiben. Und wenn man keinen kennt, kann man sich bei der Jüdischen Gemeinde melden und einfach ein paar warme Worte sagen.“ Und sie lacht kurz auf: „Man muss nicht in die israelische Armee eintreten, wir Juden sind für jede kleine Geste dankbar.“ Sie wird wieder ernst und sagt: „Wir fühlen uns verraten; wir dachten, wir sind hier zu Hause.“

Und nun? Im Herbst war sie wieder in Israel. Hat zusammen mit ihrem Partner, der sich als Atheist bezeichnet, während sie in der Synagoge immer öfter Trost erfährt, als Erntehelfer:in gearbeitet: „Ich war wieder unter meinen Leuten, wo ich nichts erklären musste. Ich fühlte mich vom ersten Tag an zu Hause und war zwei Wochen lang glücklich.“

Entsprechend ungern ist sie zurückgekommen. „Auf meine Kinder, die auf mich gewartet haben, habe ich mich gefreut, na klar, aber sonst?“ Sie sagt: „Wenn ich könnte, wäre ich geblieben; wenn ich könnte, wäre ich jetzt dort.“ Von daher sei für sie auszuwandern keine allgemeine Option, es sei der Weg, den sie gehen werde. Und sie setzt hinzu: „Ich lerne jetzt Hebräisch, und auch wenn ich diese Sprache nie so gut können werde wie Russisch oder Deutsch, es wird sich etwas finden.“ Und zum ersten Mal klingt sie so, als könnte es irgendwann mal wieder einen unbeschwerten Alltag für sie geben. Es braucht noch seine Zeit. •

Artikel aus der Ausgabe:
Ausgabe 382

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Wie stressig die tägliche Suche nach einem Schlafplatz ist, zeigt ein Tag mit dem obdachlosen Hinz&Kunzt-Verkäufer Vasile. Außerdem in unserem Schwerpunkt zum Thema Stress: Wir haben mit Forscherin Ulrike Ehlert darüber gesprochen, was gegen Stress hilft. Und Entspannungskurse auch armen Menschen zugänglich zu machen, versucht der Verein „Yoga hilft“.

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