Arne Semsrott über den Rechtsruck

„Wir alle können uns wehren!“

Arne Semsrott nimmt  die Zivilgesellschaft  in die Pflicht. Foto: picture alliance / REUTERS
Arne Semsrott nimmt  die Zivilgesellschaft  in die Pflicht. Foto: picture alliance / REUTERS
Arne Semsrott nimmt die Zivilgesellschaft in die Pflicht. Foto: picture alliance / REUTERS

Am 9. Juni ist Europawahl, im Herbst werden drei Landtage gewählt. Der Politikwissenschaftler und Aktivist Arne Semsrott warnt vor dem Irrglauben, es reiche, die AfD nicht zu wählen – und sagt, was gegen einen Rechtsruck wirklich hilft.

Hinz&Kunzt Randnotizen

Freitags informieren wir per Mail über die Nachrichten der Woche:

Hinz&Kunzt: Sie rufen zu Aktionen gegen rechte Umtriebe auf, besonders vonseiten der AfD. Sind dabei auch Politiker:innen willkommen, die mehr Abschiebungen aus Deutschland fordern?

Arne Semsrott: Es geht grundsätzlich darum, die Demokratie zu schützen und demokratische Werte zu verteidigen. Alle, die dazu bereit sind, sollen das bitte tun. Man kann nicht erwarten, dass die in allen politischen Fragen dieselbe Meinung haben. Aber ich glaube, dass ein Grundkonsens wichtig ist: Die Würde des Menschen ist unantastbar und alle Menschen sollen sicher sein vor Verfolgung!

Gehen wir zu naiv mit der Gefahr für die Demokratie durch rechte Politik um?

Wer ist mit „wir“ gemeint? Einige Menschen spüren schon jetzt am eigenen Leib, wie groß die Gefahr ist. Sie sind von Abschiebungsplänen betroffen oder müssen tagtäglich um ihre körperliche Unversehrtheit bangen, weil sie an gefährlichen Orten in Deutschland wohnen. Trotzdem sind weite Teile der Gesellschaft, auch Abgeordnete im Bundestag, daran gewöhnt, dass es in den letzten Jahrzehnten für die Mehrheitsgesellschaft glimpflich ausgegangen ist. Jetzt sind wir in einer anderen Situation: Eine rechtsextreme Partei ist so nah dran an der Macht, wie sie es in der Bundesrepublik noch nicht war.

Gleichzeitig gab es Anfang des Jahres zahlreiche Demos gegen den Rechtsruck – es waren die größten Proteste in der Geschichte der Bundesrepublik.

Es gibt ein sehr großes Widerstandspotenzial gegen eine Regierung, die versuchen würde, von jetzt auf gleich die Demokratie auszuschalten und eine Diktatur zu errichten. Solche radikalen Schritte würden auf große Gegenwehr stoßen. Gefährlicher ist eine Politik der kleinen Schritte: Eine deutliche Verschärfung des Asylrechts, eine Politik, die darauf abzielt, Minderheiten stärker in die Mangel zu nehmen und aus dem WIR auszugrenzen. Das kann dazu führen, dass eine Regierung unter Teilnahme der AfD es dann leichter hat, weil sie die jetzt schon vorhandenen Maßnahmen weiterdrehen kann.

Die massive Einschränkung des Asylrechts ist keine Erfindung der AfD …

Genau, das wird damit begründet, dass man der AfD den Wind aus den Segeln nehmen wolle. Ich glaube aber, das Gegenteil ist der Fall: Die AfD ist eine außerordentlich erfolgreiche Partei. Sie ist zwar noch nirgendwo auf Landes- oder Bundesebene in der Regierung, hat es aber geschafft, dass die Ampelkoalition eine Einschränkung des Asylrechts vorgelegt hat, wie wir sie in den letzten Jahrzehnten nicht gesehen haben. Salopp gesagt: Wenn ich in den Iran abgeschoben werde, ist es mir egal, ob die AfD oder die Grünen an der Regierung sind – am Schluss bin ich abgeschoben.

Was halten Sie davon, den Verfassungsschutz gegen die AfD einzusetzen?

Ich halte das für den grundsätzlich falschen Weg, weil wir damit der Exekutive eine Macht an die Hand geben, die dann die AfD an der Macht auch nutzen kann. Der Verfassungsschutz ist sowieso eine problematische Einrichtung, die sich großenteils einer demokratischen Kontrolle entzieht – das wissen nicht zuletzt die Angehörigen der Opfer des NSU.

Ein viel effektiveres Mittel ist, auf rechtsstaatliche Institutionen zu setzen, die demokratisch kontrolliert sind: Bundestag und Bundesrat können ein Verbot der AfD beantragen, das Bundesinnenministerium die AfD-Jugendorganisation „Junge Alternative“ verbieten.

Wie steht es um die rechtsstaatliche Institution Justiz?

Durch die Asylrechtsverschärfungen der letzten Jahre haben die Verwaltungsgerichte der unteren Instanzen deutlich mehr Macht bekommen, über das Schicksal der Menschen zu entscheiden; es gibt weniger Möglichkeiten, mit Einzelfallentscheidungen in höhere Instanzen zu kommen. Das führt dazu, dass ein Verwaltungsgericht zum Beispiel in Sachsen eine sehr restriktive Politik in Bezug auf Abschiebungen durchsetzen kann. Die Eingriffsmöglichkeiten auf die Justiz sind begrenzt und das ist auch gut so, weil wir eine unabhängige Justiz haben wollen. Aber das ist da ein Problem, wo sie von rechts unterwandert wird.

Was muss geschehen?

Ich glaube, dass vor allem zwei Dinge helfen: Das eine ist Transparenz. Nur 0,9 Prozent aller Gerichtsurteile in Deutschland werden veröffentlicht, was dazu führt, dass sehr viele problematische Urteile der Öffentlichkeit gar nicht bekannt werden. Gäbe es eine gesetzliche Verpflichtung zur Veröffentlichung, wäre die Möglichkeit größer, einzelne Urteile zu diskutieren und zu skandalisieren. Der andere Punkt ist, dass die Exekutive durchaus die Möglichkeit hat, rechtsextreme Jurist:innen aus dem Justizbetrieb zu entfernen oder versetzen zu lassen; da ist sie noch sehr zögerlich.

Viele Menschen gehen davon aus, dass es mit der Demokratie in dem Moment vorbei ist, in dem die AfD an die Macht kommt. Das ist aber nicht der Fall. Auch eine AfD an der Regierung kann nicht automatisch alles durchsetzen. Es gibt ja noch die Verwaltung: Beamte können sich dagegen wehren, AfD-Politik umzusetzen, Polizist:innen können sich dagegen wehren, Weisungen auch tatsächlich umzusetzen. Und wir alle können uns wehren, es ist nämlich nie zu spät!

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Burkhard Plemper

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