Das Projekt mitKids Aktivpatenschaften vermittelt ehrenamtliche Pat:innen an Kinder aus belasteten Familien. Seit einem Jahr führen Mario und der siebenjährige Kiano* solch eine Patenschaft. Wie die ihr Leben bereichert.
Kiano weiß nicht so recht, was er von all dem halten soll. Er rutscht auf dem Stuhl hin und her, verdreht die Augen und fährt mit der Hand durchs krause Haar. Er hat einen langen Tag hinter sich. Frühmorgens aufstehen, Schule bis um vier, zwischendurch eine Runde „Der Boden ist Lava“ mit seinem besten Freund Richard und jetzt dieses Interview. Ziemlich viel für einen Siebenjährigen. Gut, dass sein Pate Mario da ist. 54, mit weißblondem Haar und einem Grübchen auf der Wange, wenn er lächelt. Wenn er über Kiano spricht, erscheint das Grübchen. „Ich kann nicht mehr ohne den Bengel“, sagt er. Noch vor einem Jahr haben sich die beiden nicht gekannt. Ihre Patenschaft begann nicht mit einer Taufe, sie begann mit einer E-Mail. Absender: Mario. Empfänger: mitKids Aktivpatenschaften.
Die Aktivpatenschaften sind ein Projekt der Ehlerding Stiftung. Es vermittelt ehrenamtliche Paten und Patinnen an Kinder aus belasteten Familien. Das sind Familien mit nur einem Elternteil, mit vielen Kindern oder Sprachbarriere. Familien, denen es schwerfällt, jedem Kind genug Aufmerksamkeit zu schenken. Hier setzt die Patenschaft an. Regelmäßige Treffen mit den Pat:innen und eine Extraportion Zuwendung sollen das Selbstbewusstsein der Kinder stärken. Seit Projektstart im Jahr 2007 sind 579 Patenschaften zustande gekommen. In seiner Mail schrieb Mario, auch er würde gerne Pate sein. Heute sitzen er und Kiano gemeinsam in Marios Wohnzimmer, in dem seit einiger Zeit auch Kianos Fahrrad überwintert. Im Keller seiner Familie ist kein Platz mehr dafür. Mario hat Kakao aufgewärmt, schenkt den Gästen Früchtetee ein. Kiano ist etwas schüchtern, schlenkert mit den Beinen. Heute soll es um die beiden gehen und darum, wie sich ihr Leben durch die Patenschaft verändert hat.
„Ich kann nicht mehr ohne den Bengel.“
Mario
Um zu verstehen, warum sich Mario an mitKids Aktivpatenschaften gewendet hat, muss man eines über ihn wissen: Mario kümmert sich. Um so ziemlich alles. Er ist nicht nur gelernter Koch und Rettungstaucher, sondern auch studierter Sozialversicherungsfachangestellter. „Wohl die längste Berufsbezeichnung, die man in Deutschland haben kann“, scherzt er. Der Anreiz zur Patenschaft kam an einem Arbeitstag im Winter vergangenen Jahres. Draußen ließ die Kälte Atemwolken gefrieren, knirschte Eis unter den Schuhsohlen. Drinnen ein Smalltalk mit einer Kollegin. Sie klagte, wie schwer es sei, eine Betreuung für ihre Kinder zu finden. Mario konnte sich zwar nicht vorstellen, ihre Kinder zu betreuen, dafür war ihm die Trennung zwischen Arbeit und Privatem zu wichtig. Doch er hörte in ihren Klagen ein ungelöstes Problem, das mit Sicherheit viele Eltern haben. Hier brauchte es jemanden, der sich kümmert. Er startete eine Google-Suche. Erstes Suchergebnis: mitKids Aktivpatenschaften. Das hört sich nach einer Lösung an, fand Mario und bewarb sich.
Die mitKids-Mitarbeiterinnen begutachteten sein Führungszeugnis, dann ihn selbst und sein Zuhause. Nichts zu beanstanden. Aber: Um Pate zu werden, reicht es nicht, ein guter Mensch zu sein. Man muss ein guter Mensch mit Zeit sein. Drei Stunden die Woche sollte man fürs Patenkind aufbringen. Es ist nicht so, dass Mario viel Freizeit hatte. Im Gegenteil: Überstunden waren Alltag, genauso Arbeit am Wochenende. Er ist jemand, der von sich sagt, eine wichtige Person im Unternehmen zu sein. Er bleibt gern länger, weil er Sinn in seiner Arbeit sieht. Den sieht er auch heute noch, doch seinem Patenkind zuliebe will er früher Schluss machen. Ein Workaholic verschiebt seine Prioritäten. Die mitKids-Mitarbeiterinnen geben grünes Licht. Sie stellen ihm Kiano vor.
„Er wollte einmal das Meer sehen.“
Mario über Kianos Wünsche
Ein Junge aus einem Hochhaus in Eidelstedt. Dort wohnt er gemeinsam mit seiner Mutter und seinen drei kleinen Schwestern in einer Zweieinhalbzimmerwohnung. In dem halben Zimmer stehen sein Bett und der Kleiderschrank der Familie. Vor Kurzem wurde er eingeschult. Sein Lieblingsfach ist Deutsch und seine Lieblingsfarbe Blau.
Seit März sehen sich die beiden mindestens einmal pro Woche. Sie gehen auf den Spielplatz oder Pferdereiten. „Im Niendorfer Gehege gibt es eine Pferdekoppel. Da kann man eine riesengroße Runde mit den Ponys laufen“, sagt Mario.

„Nicht nur mit den Ponys“, wirft Kiano ein. Wenn er spricht, dann leise und mit schüchterner Vorsicht. Wie zur Bestätigung sucht er Marios Blick.
„Stimmt. Es gibt auch größere Pferde. Als wir das letzte Mal da waren, haben wir gehofft, er bekommt das größte“, sagt der Pate. Wenn sie im Niendorfer Gehege sind, schauen sie auch bei den Hirschen vorbei. Die fressen ihnen Eicheln und Kastanien direkt aus der Hand. „Erst vorgestern waren wir wieder dort“, sagt Mario.
„Und gestern beim Turnier“, sagt Kiano. Seit einigen Monaten spielt er in der Fußball-Jugendmannschaft des SV Lohkamp. Er trägt die Rückennummer 14, spielt Sturm und Mittelfeld und antwortet auf die Frage „Ronaldo oder Messi?“, ohne mit der Wimper zu zucken, „Ronaldo“. Sein Traumberuf: Profifußballer. Der Grundstein dafür ist gelegt – dank Mario. Er hat Monate gebraucht, um den Jungen in einen Verein zu bekommen. „Die Fußballvereine sind proppenvoll“, sagt er. Er las Zeitungsannoncen, fuhr sein Patenkind zu freien Trainings, hielt Pläuschchen mit den Trainern, bis ihm einer steckte, dass der SV Lohkamp noch Kinder aufnehme. Beim Turnier gestern hat Kianos Mannschaft zwei Spiele gewonnen, eines unentschieden gespielt und eines verloren. Mario saß auf der Tribüne und jubelte.
Fußball spielen – abgehakt. Kianos nächster Herzenswunsch: schwimmen lernen. Im Hallenbad? „Nein, in der Ostsee“, sagt Kiano mit leiser Stimme. „Er wollte einmal das Meer sehen“, springt Mario für ihn ein. „Da dachte ich, nun ja, wir sind ja hier im Norden – also gar nicht so weit weg vom Meer.“ Im Sommer sind sie also an die Ostsee gefahren und Kiano ist zum ersten Mal ins Meer gegangen. „Er wollte, dass ich ihn immer wieder ins Wasser schmeiße“, lacht Mario. „Irgendwann konnte ich nicht mehr.“ Schwimmen hat er an dem Tag nicht gelernt. „Aber das kriegen wir schon noch hin“, sagt Mario. „Immerhin bin ich gelernter Rettungstaucher.“ Er zeigt auf die schwarzen Koffer hinter der Wohnzimmertür. Darin lagert seine Tauchausrüstung. Er hat keine eigenen Kinder. Die Stunden mit Kiano nutzt er, um sein Wissen und seine Werte weiterzugeben. „Ich bin so stolz auf den Bengel und alles, was er so kann.“
Dazu gehört inzwischen auch Kochen. In Marios Küche darf Kiano beim Schnippeln helfen. Er bekommt dann ein Schneidebrett und ein kleines Messer. Daheim darf er höchstens den Tisch abräumen. Seine Mutter traut sich noch nicht so recht, dem Siebenjährigen ein Messer in die Hand zu drücken, und schnippelt lieber selbst. Alles muss etwas schneller gehen, immerhin hat sie vier Kinder zu versorgen. Mario hingegen kann sich Zeit nehmen, Kiano beim Schneiden zu beaufsichtigen. Sie kochen oft gemeinsam – auch heute. Sie wollen einen Tomatensalat zubereiten und gehen in die Küche.
Ein Blick durch die Küchentür. Kiano lacht. Der Junge steht auf einem Holzschemel, ohne würde er nicht über die Arbeitsplatte reichen. Er halbiert Cherrytomaten. Mario kramt im Kühlschrank nach einer Zitrone. Er legt sie auf Kianos Schneidebrett, schon ist sie halbiert und bereit, gepresst zu werden. „Wenn du die Zitrone mit dem Messer anpiekst, lässt sie sich leichter ausdrücken“, sagt Mario. Kiano tut wie ihm geraten, und tatsächlich, es klappt. Kurzerhand beschließt Kiano, noch eine Limonade zu machen. Er schnappt sich die andere Zitronenhälfte und sticht sie vorsichtig mit dem Messer ein, so wie sein Pate es ihm gezeigt hat.