Der Hamburger Verein „Welcome Dinner“ bringt neugierige Hamburger:innen mit Neuankömmlingen aus der ganzen Welt zusammen. Jochen Harberg (Text) und Mauricio Bustamante (Fotos) waren bei einem Treffen zu Gast.
Pünktlich um 19 Uhr klingelt es an einem Sonntagabend Ende Oktober im fünften Stock eines Hochhauses in Eimsbüttel. Neugierig öffnet Laura Trager die Wohnungstür. Die 37-Jährige weiß, wer kommt – und hat zugleich keine Ahnung, mit wem sie und ihr Mann Chris die nächsten zwei Stunden verbringen werden. Ein Paradox nach Plan: Das heutige Abendessen bringt auf Verabredung vier Menschen aus unterschiedlichen Kulturen zusammen, die sich nie zuvor gesehen haben. Sozusagen ein Blind Eat.
In der Tür stehen Sevgi und Kadir und überreichen als kleines kulinarisches Mitbringsel einen Teller mit selbst gemachtem Börek. Das türkische Ehepaar hatte sich schriftlich beim Hamburger Verein Welcome Dinner (siehe Infokasten) gemeldet. Der hat es sich nach schwedischem Vorbild zur Aufgabe gemacht, interkulturelle Begegnungen auf Augenhöhe zu vermitteln – ganz zwanglos am Küchentisch. Das Konzept: Neuankommenden „den Zugang zu unserer Gesellschaft erleichtern und gleichzeitig Hamburger:innen ein Kennenlernen ermöglichen“, so heißt es auf der Homepage des Vereins. Laura Trager ist dort sogar Mitglied – wobei jeder Mensch Gast oder Gastgeber:in werden darf. 2015 zu den Hochzeiten der Sympathiewelle für Geflüchtete habe es um die 120 solcher Treffen pro Woche gegeben, sagt Laura, heute seien es noch um die 20 bis 30 Verabredungen im Jahr. Und doch sei jeder einzelne dieser Abende wertvoll, „um ein Gespür für die Sorgen und Nöte anderer Menschen zu bekommen, die zu uns kommen“.
„Man bekommt ein Gespür für die Sorgen anderer Menschen.“
Laura Trager
Während Laura in der Küche die Vorspeise ihres Drei-Gänge-Essens vorbereitet – einen Büffelmilchkäse-Teller mit Tomaten –, beginnen Sevgi und Kadir in noch stockendem, gleichwohl gut verständlichem Deutsch zu erzählen. Sie sind gerade sieben Stationen mit dem Bus gekommen und haben für diesen besonderen Abend ihre beiden Söhne, sieben und zehn Jahre jung, ausnahmsweise allein gelassen. Dafür, sagt der Vater lächelnd, sei auch die auf stets maximal 30 Minuten am Stück begrenzte TV- und Online-Erlaubnis für die Jungs außer Kraft gesetzt. Kadir ist seit zweieinhalb Jahren in Deutschland: Der Elektroingenieur ist inzwischen ein anerkannt politisch Verfolgter. Mit seiner kritischen Meinung über den türkischen Staatspräsidenten Erdoğan habe er daheim in der Türkei einfach nicht hinter dem Berg halten können, erzählt er. Das führte zunächst zu einer Kündigung bei seinem damaligen Arbeitgeber aus einem sicherheitsrelevanten Bereich. Aber auch in der anschließend aufgenommenen Selbstständigkeit sei er immer wieder drangsaliert worden, bis hin zu wiederkehrenden Hausbesuchen durch die Staatsorgane. So habe die Familie nicht weiterleben wollen, doch Schweigen, sagt Kadir, sei keine Option gewesen: „Dafür bin ich nicht gemacht.“ Er verließ seine Heimat Richtung Deutschland, Sevgi und die Kinder sind vor eineinhalb Jahren nach Hamburg nachgekommen. Die Familie wohnt in zwei Zimmern in einem Heim, gemeinsam mit vielen anderen Geflüchteten.
Inzwischen ist auch Lauras amerikanischer Ehemann Chris, der noch Getränke besorgen war, zu der kleinen Runde dazugestoßen. Er stammt aus Wisconsin und erzählt grinsend, dass auch er mit der deutschen Sprache so seine Schwierigkeiten habe. Mit Laura spreche er deshalb Englisch – das sorgt für lächelndes Verständnis auf der anderen Seite des Tisches. Sevgi und Kadir büffeln gerade im Deutsch-Sprachkurs C1 für ihren Abschluss – laut Goethe-Institut bestätigt dessen erfolgreiches Bestehen „ein weit fortgeschrittenes Sprachniveau“. Deshalb sei dieser Abend, der inzwischen beim Hauptgang angelangt ist – auf dem Markt gekaufte Steinpilz-Gnocchi in Butter geschwenkt –, für die beiden ein gutes Training, sagt Sevgi, und Kadir fügt hinzu: „Wir wollten auch gerne neue Menschen kennenlernen.“ Laura zaubert von irgendwoher eine alte Hinz&Kunzt-Ausgabe auf den Tisch – mit Labskaus auf dem Titel. Ob die beiden das schon mal gegessen hätten? Es sei schließlich das Hamburger Nationalgericht. Und schiebt flugs ein Zubereitungsvideo auf dem Handy hinterher. Die Runde lacht herzlich über den seltsamen Geschmack der Einheimischen.
Der erfolgreiche C1-Abschluss soll für Sevgi und Kadir nun die Eintrittskarte zurück ins Berufsleben werden. Kadir hat hier zwischenzeitlich schon als Monteur gearbeitet, aber natürlich würde er die erlernte Ingenieurstätigkeit vorziehen. Und auch Sevgi „will nicht nur Mutter sein“. Sie möchte gerne wieder in ihren Job als Agraringenieurin zurückkehren. Der größte Wunsch der Familie ist jedoch: endlich eine eigene Wohnung. Doch ihre Erfahrungen bei der Wohnungssuche sind bedrückend. Obwohl der Staat einen Zuschuss zur Miete zahlen würde und man etliche Bewerbungen abgegeben habe, seien sie „in einem Jahr nicht einmal zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen worden“, sagt Kadir betrübt. Während des Nachtischs – Quark-Sahne-Creme mit Kirschen und Lebkuchen obendrauf – entsteht ein angeregtes Gespräch über die Schwierigkeiten auf dem Hamburger Wohnungsmarkt. Eine beglückende Erfahrung hat das Paar indes gemacht: Die Söhne fühlen sich in Hamburg pudelwohl, die Schule sei gut und mache Spaß, die Integration wunderbar gelungen.
Doch nun möchte man den Nachwuchs nicht noch länger allein lassen: Das gemeinsame Essen geht seinem Ende entgegen. Mehr als zwei spannende Stunden sind wie im Nu verflogen, die Paare verabschieden sich herzlich, posieren gern noch für ein gemeinsames Erinnerungsfoto. Und Kadir sagt: „Wenn wir irgendwann mal eine eigene Wohnung haben, dann laden wir euch ein!“