Stadtgespräch

Angst vor der Stromsperre

Rainer Zerbe hat mehrere Monate lang die Stromrechnung nicht bezahlt – aus Geldnot. Hilfe sucht er zunächst vergeblich. Dann gibt es doch noch ein Happy End.

Hinz&Kunzt Randnotizen

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„Ich fühle mich leer“, sagt Rainer Zerbe*. Erschöpft stützt sich der 52-Jährige auf seinen Gehstock. Vergeblich hat er an diesem Donnerstagnachmittag Anfang November Hilfe gesucht. Hat in der Fachstelle für Wohnungsnotfälle Nord vorgesprochen und dort gesagt bekommen: „Wir kümmern uns um Mietschulden, nicht um Energieschulden.“ Ist daraufhin ein Stockwerk tiefer zum Grundsicherungsamt gegangen – das sei für ihn zuständig, hieß es oben. Hat dort am Empfang ein paar weiße DIN-A4-Seiten in die Hand gedrückt bekommen, mit dem Hinweis, er solle die Übernahme seiner Stromschulden schriftlich beantragen und den Brief in den Kasten werfen, der am Eingang des Amtes hängt. Was genau er schreiben soll und wann er mit Antwort rechnen kann, hat ihm niemand gesagt. Als er nochmals nachfragt, diesmal in Begleitung des Hinz&Kunzt-Redakteurs, stellt sich heraus: Dieses Amt ist gar nicht zuständig für ihn. Sondern das in Barmbek.

Bis vor einem guten Jahr stand der allein lebende Vater dreier erwachsener Kinder voll im Berufsleben: begleitete Heranwachsende mit Einschränkungen im Schulalltag und arbeitete im Nebenjob als Beleuchter beim Theater. Er habe beides geliebt, sagt Rainer Zerbe. Doch dann kam der Tag, der so vieles änderte: Am 2. November 2023 will Zerbe einem Kind auf dem Pausenhof zur Hilfe eilen, bleibt an einer Steinkante hängen, stolpert und verdreht sich dabei das Bein. Mehrere Bänder und eine Sehne reißen.

Viele Rezepte, hohe Kosten

Eine lange Krankengeschichte beginnt: Trotz monatelanger Reha ist Rainer Zerbe bis heute nicht arbeitsfähig, muss Spezialschuhe tragen und braucht einen Stock, auf den er sich beim Gehen abstützen kann. Und eine Hiobsbotschaft jagt die nächste. Im August stellt sich bei einer Routineuntersuchung heraus, dass er schwere Herzprobleme hat: „Ich habe nur noch eine freie Arterie.“ Im Oktober erfährt Zerbe, dass er zuckerkrank ist. Hinzu komme ein verdrehter Darm. „Ich muss dringend ins Krankenhaus!“, sagt er.

Rainer Zerbe weiß, dass man seine Stromrechnungen bezahlen muss. Und was droht, wenn man das nicht macht. Dennoch zahlt er vier Monate lang keinen Cent. Die Folge: 541,63 Euro Schulden und die Ankündigung, dass Vattenfall ihm den Strom abdrehen und das Geld einklagen wird. Es sei ihm einfach alles über den Kopf gewachsen, sagt Zerbe. Viele Krankheiten bedeuteten viele Rezepte, bedeuteten hohe Kosten. Das Krankengeld, das er bekommt, beträgt nur 70 Prozent seines früheren Lohns. Und dass er Wohngeld bekommen kann, habe er viel zu spät erfahren. „Ich habe mir immer wieder gesagt: Nächsten Monat schaffst du es, etwas zurückzuzahlen.“ Und dann schaffte er es wieder nicht. Er schäme sich dafür, sagt Rainer Zerbe. In seiner Not wendet er sich an Hinz&Kunzt. Als er dort anruft und seine Geschichte erzählt, bricht er vor Verzweiflung in Tränen aus.

Nächsten Monat wollte er zahlen …

Kurz darauf geschieht ein kleines Wunder: Obwohl das Grundsicherungsamt Barmbek an diesem Vormittag keine Sprechzeit hat, sucht Rainer Zerbe das Gespräch. Und hat Glück: Eine Sachbearbeiterin schickt ihn direkt zum Amtsleiter, erzählt der Hilfesuchende später aufgeregt am Telefon. Der erklärt zwar, dass eigentlich doch die Fachstelle für ihn zuständig sei. Aber er schickt ihn nicht weg, sondern sagt: „Wir übernehmen die Schulden und rufen noch heute bei Vattenfall an.“

Kurz vor Redaktionsschluss (20. November) gibt es ein Happy End: Ein Konzernsprecher bestätigt gegenüber Hinz&Kunzt den Eingang des Geldes und erklärt, „dass wir keine Klage erheben werden“. Zudem verzichte Vattenfall „aus Kulanz“ auf den November-Abschlag von Rainer Zerbe. Und: Das Unternehmen sei bereit, „die Höhe des Abschlags zu prüfen und gegebenenfalls zu reduzieren“.

Artikel aus der Ausgabe:
Ausgabe 382

Entspannt euch!

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Autor:in
Ulrich Jonas
Ulrich Jonas
Ulrich Jonas schreibt seit vielen Jahren für Hinz&Kunzt - seit 2022 als angestellter Redakteur.

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