Daniel und Mirabella leben obdachlos in Hamburg. Als die junge Rumänin schwanger wird, steht das Paar vor noch größeren Herausforderungen als ohnehin schon.
Mitten in der Nacht auf den 1. August wird Mirabella von heftigen Schmerzen geweckt. Die 22-Jährige ahnt sofort: Irgendwas stimmt nicht. Sie geht raus in die Nacht auf Toilette, legt sich noch mal zu ihrem Mann Daniel auf die gemeinsame Matratze und versucht wieder einzuschlafen. Doch das gelingt nicht, zu stark sind die Schmerzen. Mirabella ist im sechsten Monat mit Zwillingen schwanger. Und Mirabella und Daniel sind obdachlos. Ihre Nächte verbringen sie mit 13 anderen Menschen in einem leer stehenden Garagenkomplex in Stellingen. Um kurz vor 3 Uhr entscheiden die beiden: Wir müssen ins Krankenhaus. Auf dem Smartphone recherchieren sie die nächstgelegene Klinik. Kurze Zeit später sitzen sie im Bus Richtung Universitätsklinikum Eppendorf (UKE). Auch Daniels Bruder verständigen die beiden. Er macht sich ebenfalls auf den Weg ins Krankenhaus, um beim Übersetzen zu helfen.
Dann geht alles ganz schnell. Die Ärzt:innen informieren Mirabella, dass die Zwillinge wegen einer Infektion per Not-Kaiserschnitt geholt werden müssen. Eine halbe Stunde später, am Morgen des 1. August um 4.46 Uhr, erblickt das erste, vier Minuten später das zweite Kind das Licht des Krankenhauses – elf Wochen früher als erwartet.
All das erzählt das junge Paar einen knappen Monat später im Büro von Hinz&Kunzt-Sozialarbeiterin Irina Mortoiu, die an diesem Tag auch übersetzt. Während Mirabella spricht, zupft die zierliche Frau mit den Fingern am Saum ihrer grauen Trainingsjacke und blickt auf den Boden. Spricht sie von ihren Kindern, huscht ihr ein Lächeln übers Gesicht: „Ich habe mir natürlich große Sorgen gemacht. Aber die Kinder sind gesund und machen gute Fortschritte, deshalb bin ich heute beruhigt.“
Mirabella und Daniel sind Roma. Bis vor drei Jahren lebten sie in einem kleinen Dorf in der zentralrumänischen Region Walachei. Gemeinsam mit ihrem ersten Sohn Carlos, Mirabellas Bruder und ihren Eltern wohnten sie in einem kleinen Haus mit drei Zimmern, das die Eltern einst selbst gebaut haben. „Das Leben dort ist bescheiden“, sagt Daniel lapidar. Strom gibt es immerhin. Was fehlt: fließendes Wasser und eine Perspektive. Immer wieder haben sich Mirabella und Daniel bei Unternehmen in der Umgebung beworben, sagt Daniel. Allein: „Die Firmen, die es gibt, wollen uns nicht anstellen. Weil wir keine Ausbildung haben und weil wir Roma sind.“
Ein aktuelles Strategiepapier der rumänischen Regierung erkennt genau die Probleme an, die Mirabella und Daniel beschreiben. Demnach leben zwei Drittel der rumänischen Roma ohne fließendes Wasser, 79 Prozent haben weder Bad noch Toilette in ihrem Zuhause. Auch aus dem Bildungssystem, vom Arbeitsmarkt und von der Gesundheitsversorgung sind viele Roma ausgeschlossen. Im August 2023 hat das European Roma Rights Centre einen besonders krassen Vorfall öffentlich gemacht: Eine junge Romnja brachte ihr Kind auf einem Bukarester Bürgersteig zur Welt, nachdem ihr die Aufnahme in ein Krankenhaus verwehrt worden war.
Die Perspektivlosigkeit in Rumänien führt Daniel und Mirabella nach Hamburg. Hier wollen sie die Arbeit finden, die ihnen in ihrer Heimat verwehrt bleibt – doch insbesondere aufgrund der Sprachbarriere sei ihnen das nicht gelungen, sagen sie. So landen die beiden bei Hinz&Kunzt, wo sie zumindest etwas Geld verdienen können. Täglich stehen sie seitdem von 8.30 Uhr bis zum Nachmittag an ihren Verkaufsplätzen in Pinneberg und Prisdorf.
Im Frühjahr dieses Jahres bemerkt Mirabella ihre Schwangerschaft. Statt sich wie andere werdende Eltern Gedanken über Geburtsvorbereitungskurse oder die Farbe des Kinderzimmers machen zu können, hat Mirabella andere Sorgen: „Mir war klar, dass das Leben auf der Straße ein Risiko für das Kind sein kann“, sagt sie. Doch die junge Mutter sieht sich gezwungen, weiter in der Garage zu übernachten. Mit dem Hinz&Kunzt-Verkauf versucht sie, das Geld für die nötigen Arztbesuche in Rumänien zu verdienen. Denn krankenversichert ist sie zu dieser Zeit weder in Deutschland noch in ihrem Herkunftsland. Auch das ist keine Seltenheit unter rumänischen Roma (siehe Kasten). Mehrmals im Jahr fährt das Paar nach Rumänien, um Sohn Carlos zu sehen und die Familie zu unterstützen. Bei den Besuchen fährt Mirabella mit dem Bus in die nahe gelegene Kleinstadt Argisch. Wie schon bei der ersten Schwangerschaft bezahlt sie die Untersuchungen in bar. Mit einem Arzt hat sie vereinbart, für die Entbindung ins dortige Krankenhaus zu kommen – und die Rechnung vor Ort zu begleichen.
Doch dann kommt alles anders. Nach der turbulenten Geburt in Hamburg kann Mirabella zunächst vier Tage im Krankenhaus bleiben. Die Kinder liegen auf der Frühchen-Intensivstation, die Mutter darf sie mehrmals täglich sehen. Auch Daniel, der die Tage nach der Geburt in einem Warteraum des Krankenhauses verbringt, hat regelmäßig Kontakt zu den Zwillingen. Zeit zum Durchatmen haben die beiden trotzdem nicht. Einen Tag, bevor Mirabella aus dem Krankenhaus entlassen werden soll, fahren sie in ihrer Not direkt zu Hinz&Kunzt. Damit die frisch entbundene Mutter ihre Nächte nicht in der Garage verbringen muss, mietet Sozialarbeiterin Irina Mortoiu für einige Tage ein Hotelzimmer für das Paar an, anschließend finanzieren die Anlaufstelle für wohnungslose EU-Bürger:innen „Plata“ und andere Hilfseinrichtungen mehrere Wochen lang die Unterbringung in wechselnden Hotels.
Die Frühgeborenen müssen im Krankenhaus bleiben. Jeden Morgen kommen Daniel und Mirabella zu Besuch, um Zeit mit den Zwillingen zu verbringen und sie zu stillen. Anschließend verkaufen sie Hinz&Kunzt, bis Mirabella gegen Mittag wieder zu den Kindern fährt und mehrere Stunden bei ihnen bleibt. „Das tut ihnen gut“, erklärt die junge Mutter. Gegen Abend kommt Daniel dazu, um ebenfalls bei den Kindern zu sein, bis sie schließlich wieder gemeinsam zum Hotel aufbrechen und die Zwillinge im Krankenhaus zurücklassen. Trotz aller Strapazen und der Trennung von den Kindern können sie ihr Glück kaum fassen: „Wir haben ein Badezimmer, wir können duschen, wir können auf eine richtige Toilette gehen. Das Bett ist viel bequemer als die Matratze in der Garage“, sagt Daniel. „Und es ist sauber“, ergänzt seine Frau.
Nach einigen Wochen im Hotel kommen sie schließlich in einem Zimmer unter, das ihnen ein Unterstützer vermittelt hat. So erzählen sie es Sozialarbeiterin Irina Mortoiu. Zumindest bis die Kinder aus dem Krankenhaus kommen, dürfen sie dort bleiben. Ungeklärt ist zu diesem Zeitpunkt, was passiert, wenn die Kinder das Krankenhaus verlassen können – und wer den Klinikaufenthalt und die Geburt bezahlt.
Um eine Lösung zu finden, setzt sich Irina Mortoiu mit Beratungsstellen, dem sozialen Dienst des UKE, der rumänischen Botschaft und der rumänischen Krankenkasse in Verbindung. Nach unzähligen Telefonaten und E-Mails gelingt es ihr, Mirabella und die Kinder in Rumänien rückwirkend krankenzuversichern – die Kosten der Geburt und des Krankenhausaufenthalts sind damit gedeckt. „Ohne fremde Hilfe und die Zusammenarbeit von den vielen Einrichtungen wären Daniel und Mirabella auf einer Rechnung von mehreren Tausend Euro sitzen geblieben, die sie niemals hätten begleichen können“, sagt Irina Mortoiu. „Die Schulden hätten sie noch weiter unter Druck gesetzt.“
Am 10. Oktober können die Kinder das Krankenhaus gesund verlassen. Weil ihnen die jungen Eltern ein Leben auf der Straße unter keinen Umständen zumuten wollen, fahren sie sofort nach Berlin. Dort holen sie bei der rumänischen Botschaft die letzten nötigen Papiere ab. Weil die Kinder noch keine Ausweisdokumente besitzen, benötigten sie eine Bescheinigung, um in Rumänien einreisen zu können. Nachdem auch das erledigt ist, geht es mithilfe der finanziellen Unterstützung von Plata mit dem Flugzeug von Berlin zurück in die Heimat.
Dort will sich Mirabella erst mal um die Kinder kümmern, sagt sie. Daniel will erneut versuchen, einen Job zu finden. Und wenn das nicht klappt? „Dann muss ich wieder zurück nach Hamburg kommen. Eine andere Möglichkeit sehe ich nicht.“
Einen Monat später: Mitte November steht Daniel plötzlich im Hinz&Kunzt-Vertriebsraum. Mirabella und den Kindern gehe es gut, sagt er. Doch einen Job hat er in Rumänien abermals nicht gefunden. Mit dem Flixbus ist er deshalb zurück nach Hamburg gekommen. „Es ist hart, meine Familie zurückzulassen“, sagt Daniel. „Aber wir brauchen dringend Geld.“ Den nächsten Heimatbesuch plant er für Weihnachten. Die Nächte verbringt er bis dahin ohne seine junge Familie auf der Matratze in der leer stehenden Garage.