Armut in der S-Bahn

„Ich bettele nicht gerne“

Turgut bettelt in der Bahn. An seinem besten Tag habe er 30 Euro verdient, sagt er. Foto: Mauricio Bustamante
Turgut bettelt in der Bahn. An seinem besten Tag habe er 30 Euro verdient, sagt er. Foto: Mauricio Bustamante
Turgut bettelt in der Bahn. An seinem besten Tag habe er 30 Euro verdient, sagt er. Foto: Mauricio Bustamante

Hamburger Verkehrsunternehmen gehen mit neuer Härte gegen das Betteln in Bahnen vor. Was bedeutet das für die Menschen, die fürs Überleben um Geld bitten?

Hinz&Kunzt Randnotizen

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15:15 Uhr an einem Freitag, U3-Haltestelle Feldstraße. Es ist noch nicht ganz Feierabend, die Bahn leer. Um 15:17 Uhr setzt sich eine Frau mit grün-weißen Luftballons, um 15:26 Uhr blickt ein Mann auf sein Handy, eine Frau mit einem Rollator steigt zu. Das ist eine ganz normale U-Bahn-Fahrt. Es ist aber auch: ein Experiment.

Im Mai hatte der HVV angekündigt, er wolle strikter gegen Betteln vorgehen, da sich Fahrgäste häufiger beschwerten. Ein Bettelverbots-Motiv erscheint im Fahrgastfernsehen und es gibt regelmäßig Durchsagen, die daran erinnern, dass Betteln nicht erlaubt ist. Welche Auswirkungen hat das auf Menschen, die genau das tun?

Es wäre interessant, sie selbst zu fragen. Auf einer ersten Fahrt einen Tag zuvor, rund um den Hauptbahnhof, über St. Pauli, bis nach Altona, war da aber niemand, den man hätte fragen können. Ein Faktor in diesem Experiment ist natürlich: Zufall. Ein Bettler könnte gerade in den nächsten Waggon eingestiegen sein, eine Frau, die nach Geld fragt, in der nächsten S-Bahn sitzen. Doch wie wahrscheinlich ist es überhaupt, auf einer Fahrt um eine Spende gebeten zu werden?

Es gibt dazu keine konkreten Zahlen. Es gibt nur eine Zahl, die aus einer aktuellen Anfrage der Linken an den Senat hervorgeht: Im Jahr 2023 wurden insgesamt 68.440 Euro an Strafen wegen Bettelns oder Musizierens verhängt. Da ein Bußgeld 40 Euro beträgt, wären das 1711 Menschen. Allein bis Mai waren es in diesem Jahr schon 52.760 Euro, also 1319 Menschen. Ob das an den steigenden Zahlen von Bettler:innen oder an den neuen Maßnahmen liegt, ist unklar.

Es ist mittlerweile 15:43 Uhr, die Bahn ist voll, an jeder Tür steht ein Fahrrad. Ein Mädchen isst Chips, es riecht nach Zwiebeln, Schweiß und einem sehr süßen Parfüm. Um 15:50 Uhr steigt eine Frau mit einer kleinen Louis-Vuitton-Tasche ein, ein Mann mit einer großen Louis-Vuitton-Tasche steigt aus. Um 16:02 Uhr, Rödingsmarkt, ist es immer noch voll, ein Mann erklärt seinem Sohn: „Die Leute haben Feierabend.“ Dann läuft die Durchsage: „Betteln ist in unseren Bahnen nicht erlaubt.“

Die Durchsagen gibt es in U-Bahnen nun alle drei Stunden, in S-Bahnen stündlich. Ein Sprecher des HVV erklärte, es gebe diese Maßnahmen, weil der HVV das Serviceversprechen für seine Fahrgäste „immer weniger einhalten kann“. Im vergangenen Jahr habe es 337 Beschwerden wegen Belästigung gegeben (Betteln wird als Grund nicht einzeln erfasst), 2024 waren es bislang 190. Aus dem Senat heißt es, er „unterstütze die Verkehrsunternehmen in ihren unterschiedlichen Bemühungen, dass sich Bürger:innen bei der Nutzung des Öffentlichen Personennahverkehrs in Hamburg wohl und sicher fühlen“. Ob es überhaupt erlaubt ist, deswegen das Betteln zu verbieten, ist umstritten. „Betteln stört in den meisten Fällen nicht den Verkehrsbetrieb“, sagt die Juristin Luisa Podsadny von der Gesellschaft für Freiheitsrechte. „Allgemeine Ansprachen und Bitten dürfen nicht einfach untersagt werden, um anderen Fahrgästen die Interaktion mit Menschen in Armut zu ersparen.“ Schließlich hätten auch bettelnde Menschen Grundrechte, die die staatlichen Verkehrsbetriebe gewährleisten müssten.

Um 16:22 Uhr, kurz vor der Station Sternschanze, geht ein Mann durch den Gang, leicht gebückt, den Blick nach unten, mit einem Kaffeebecher in der Hand. Am Ende des Waggons huscht er hinaus, er möchte in die Bahn auf der anderen Seite einsteigen. Er hält dann doch kurz an, stellt sich als Turgut vor, seit neun Monaten lebe er im PikAs, einer Notunterkunft für Obdachlose. Seit ein paar Monaten bettle er in der Bahn. Er kann nicht sicher sagen, ob sich die Stimmung durch die Ansagen in der Bahn verändert habe, immer wieder erlebe er schließlich Beleidigungen. Vor kurzem habe ihn eine Frau beschimpft, habe gerufen: Betteln sei verboten! „Ich mache das auch nicht gerne“, sagt Turgut, er ist 56 Jahre alt. Er fängt an zu weinen, als er den Plastikbeutel mit seinen Papieren ausbreitet, die Liste mit den 32 Medikamenten, die er jeden Tag nehmen soll, den Bescheid, dass er keine Grundsicherung erhalte. In den vergangenen sechs Stunden habe er 13 Euro verdient, an seinem besten Tag seien es 30 Euro gewesen.

Es ist verboten, was Turgut tut – das war es auch schon vor den Durchsagen. Deshalb möchte er seinen vollen Namen nicht in der Zeitung lesen. So wie auch Sven.

Um 16:49 Uhr, Station Landungsbrücken, läuft ein Mann schnell durch die Reihen, sagt, er sei Sven, er lebe auf der Straße, wünscht einen schönen Abend, ein schönes Wochenende, eilt dann schnell aus dem Wagen. Auf dem Bahnsteig erzählt Sven, er schnorre schon seit zehn Jahren. Seine beste Strategie: höflich sein. Neuerdings, seit es die Durchsagen gebe, bedanke er sich für die Hilfe und sage extra noch mal dazu – „trotz der Durchsagen“.

Nach zwei Stunden, um 17:15 Uhr, lief die Durchsage einmal, zweimal waren Sicherheitsteams in der Bahn, und zwischen all den Menschen, die in den Freitagabend fuhren, auch Turgut und Sven. Ihr Tag ist noch nicht vorbei, ihre Schicht geht solange, bis der Becher voll genug ist.

Artikel aus der Ausgabe:

Ist das Heimat?

Was Heimat für unsere Verkäufer:innen bedeutet, wieso Heimatvereine als Gegengewicht zum Senat galten und was am Heimat-Begriff kritisch ist, erfahren Sie im Schwerpunkt. Außerdem: Spatzen von St. Pauli und ukrainische Kids auf dem Skateboard.

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Autor:in
Anna-Elisa Jakob
Anna-Elisa Jakob
Ist 1997 geboren, hat Politikwissenschaften in München studiert und ist für den Master in Internationaler Kriminologie nach Hamburg gezogen. Schreibt für Hinz&Kunzt seit 2021.

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