Leerstand statt Wohnraum in Bergedorf

Das Spiel der Abzocker

Viel freier Wohnraum in bester Bergedorfer Lage: das Eckhaus Reetwerder 3. Foto: Dmitrij Leltschuk
Viel freier Wohnraum in bester Bergedorfer Lage: das Eckhaus Reetwerder 3. Foto: Dmitrij Leltschuk
Viel freier Wohnraum in bester Bergedorfer Lage: das Eckhaus Reetwerder 3. Foto: Dmitrij Leltschuk

Seit sechseinhalb Jahren steht ein stattlicher Altbau in bester Lage Bergedorfs leer. Die Stadt gibt sich machtlos. Wann wohnen hier wieder Menschen?

Hinz&Kunzt Randnotizen

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Wenn Daniela Seemann aus ihrem Geschäft am Bergedorfer Reetwerder auf die gegenüberliegende Straßenseite blickt, überkommt sie regelmäßig „großes Bedauern und Ärger“. Sie sieht ein fünfstöckiges Gründerzeithaus, in dem viele Menschen komfortabel wohnen könnten. Doch in den 13 Wohnungen lebt schon lange niemand mehr. Seit nunmehr sechseinhalb Jahren. „Da war mal richtig viel Leben drin“, erinnert sich die 64-Jährige, die das Eckhaus mit Gewerbeeinheiten im Erdgeschoss seit ihrer Kindheit kennt. „Mit Jeansshop, Galerie, Burger-Laden und schönen Wohnungen.“

Die Vorgeschichte

Nachdem die heutige Eigentümerin Mirja F. die Immobilie 2005 von ihrem Ex-Mann übernimmt, gerät das Haus immer wieder in die Schlagzeilen. Im Frühjahr 2013 fallen Teile der Fassade auf den Bürgersteig. Zum Glück wird niemand verletzt. Jahrelang bieten Prostituierte in dem denkmalgeschützten Gebäude nahe des Bergedorfer Bahnhofs ihre Dienste an. Vor dem Haus liegt wiederholt Müll, weil es zu wenige Tonnen für zu viele Bewohner:innen gibt.

Vor allem Menschen aus Südosteuropa leben im Haus. Ihre Not wird offensichtlich ausgenutzt: Weil sie auf dem Wohnungsmarkt in der Regel chancenlos sind, mieten Familien dort einzelne Zimmer, für 500 Euro warm pro Monat, wie Mietverträge belegen, die Hinz&Kunzt vorliegen. Viel Geld für wenig Wohnraum in beengten Verhältnissen, der zudem nicht gepflegt wird. Die Nutznießenden sind Mitglieder einer alteingesessenen Familie aus der schleswig-holsteinischen Provinz, die die Rollen elegant unter sich aufgeteilt haben: Mutter Marlies F. tritt in den Verträgen als Vermieterin auf, Sohn Daniel F. – einst selbst Besitzer des Hauses – treibt das Geld teils bar ein (H&K September 2018). Die Mutter beantwortete Fragen von Hinz&Kunzt nicht, der Sohn war bis Redaktionsschluss (15. Oktober) für eine Stellungnahme nicht zu erreichen.

16. Mai 2018. Nach einem Schwelbrand maroder Elektroleitungen rückt die Feuerwehr im Reetwerder an. Das Bezirksamt erklärt das Haus wegen „Gefahr für Leib und Leben“ für unbewohnbar. Mindestens 187 Menschen verlieren von jetzt auf gleich ihr Zuhause. 102 Zwangsgeräumte bekommen ein Bett in einer der Wohnunterkünfte der Stadt. 85 Menschen seien, so die Sozialbehörde später, „ohne Hilfe verzogen“ – wohin weiß niemand.

An der Rückseite des Hauses bröckelt die Fassade. Foto: Dmitrij Leltschuk
An der Rückseite des Hauses bröckelt die Fassade. Foto: Dmitrij Leltschuk

Nur die Strohfrau?

In der Folge spielt die Eigentümerin – verantwortlich für den Erhalt des Hauses – auf Zeit. Im November 2018 – ein halbes Jahr nach der Räumung – erklärt der Senat, das Bezirksamt habe „bereits eine Instandsetzungsanordnung erlassen, um eine Rückkehr der Bewohner in ihre Wohnungen zu ermöglichen“. Ein halbes Jahr später muss das Amt einräumen, dass seine Maßnahmen keine Wirkung zeigen: „Gegen alle Anordnungen, Gebührenbescheide und Zwangsgeldfestsetzungen wurde Widerspruch erhoben. Weder wurden die Anforderungen erfüllt noch Gebühren entrichtet oder Zwangsgelder bezahlt.“

Offenbar kämpft die Eigentümerin mit Geldproblemen: Gegen sie läuft ein Verfahren wegen Zahlungsunfähigkeit, laut Grundbuch ist ihr Haus am Reetwerder mit rund 3 Millionen Euro Schulden belastet. Lag es am fehlenden Geld, dass sie sich nicht um den Erhalt ihres Hauses gekümmert hat? Welche Rolle sie bei der Abzocke der Mieter:innen gespielt hat, bleibt unklar. Fragen von Hinz&Kunzt ließ auch Mirja F. bis Redaktionsschluss unbeantwortet.

Nachbarin Daniela Seemann ist empört über den langen Leerstand. Foto: Dmitrij Leltschuk
Nachbarin Daniela Seemann ist empört über den langen Leerstand. Foto: Dmitrij Leltschuk

Ängstliches Amt

Warum hat die Stadt nicht längst einen Treuhänder eingesetzt, der die notwendigen Sanierungen auf den Weg bringt? Diese Möglichkeit sieht das Wohnraumschutzgesetz ausdrücklich vor. Das Bezirksamt erklärt es im Oktober 2018 so: „Das Haus steht im rechtlichen Sinn nicht leer, weil die Wohnungen noch an die gegenwärtig ausgezogenen Bewohner vermietet sind.“

2020 setzt das Gericht eine Zwangsverwalterin für das leer stehende Haus ein. Sie soll auf Betreiben einer Bank, bei der die Eigentümerin verschuldet ist, möglichst viel Geld aus der Immobilie holen. Für eine Sanierung sorgt sie nicht, nur für die notwendigsten Reparaturen. So wohnen im Reetwerder 3 auch sechseinhalb Jahre nach der Räumung weiterhin keine Menschen.

Wie kann das sein? Laut Gesetz ist es verboten, Wohnraum länger als vier Monate ohne triftigen Grund leer stehen zu lassen. Das zuständige Bezirksamt Bergedorf hat eine neue Erklärung dafür: Eine sogenannte Wohnnutzungsanordnung könne das Amt nur gegen die Eigentümerin aussprechen. Wegen der Zwangsverwaltung sei der jedoch „die Verfügungsbefugnis über das Gebäude entzogen“. Schlussfolgerung des Amts: „Somit gibt es keine rechtliche Handhabe gegen den Zwangsverwalter, um den Leerstand zu beenden.“

Der Mieterverein zu Hamburg bezweifelt das: Auch für eine zwangsverwaltete Immobilie könne der Bezirk einen Treuhänder einsetzen, sagt der Vorsitzende Rolf Bosse, und müsse alles in seiner Macht Stehende tun, um den Leerstand zu beenden. „Wo kommen wir hin, wenn die Verwaltung vor der Dreistigkeit solcher Eigentümer kapituliert?“

Der Prozess

Mehr als sechs Jahre haben Behörden ermittelt, im Juli 2024 hat die Staatsanwaltschaft gegen zwei Beschuldigte Anklage erhoben. Die Staatsanwaltschaft wirft den beiden vor, „in fünf Fällen jeweils gemeinschaftlich und gewerbsmäßig handelnd die Zwangslage eines anderen dadurch ausgebeutet zu haben, dass sie sich oder einem Dritten für die Vermietung von Räumen zum Wohnen Vermögensvorteile gewähren ließen, die in einem auffälligen Missverhältnis zu der Leistung stehen“, so Marayke Frantzen, Sprecherin der Hamburger Gerichte. Da das Gericht weitere Belege von der Anklage fordert, steht ein Verhandlungstermin noch aus.

Die Wertsteigerung

Offensichtlich ist: Hausbesitzerin Mirja F. hat erfolgreich auf Zeit gespielt. Bereits im Mai 2018, im Monat der Räumung, hat das Amtsgericht Bergedorf die Zwangsversteigerung der Immobilie angeordnet. Sechseinhalb Jahre später steht die weiterhin aus. Immer wieder hat der Anwalt der Eigentümerin Gutachten angefochten, mit Erfolg: Statt 2019 ermittelter 3,2 Millionen Euro hat das Landgericht den Wert der Immobilie im Juli dieses Jahres auf 6,0 Millionen Euro festgesetzt – fast eine Verdopplung innerhalb von fünf Jahren. Immerhin: Kommt es nicht zu neuen Verzögerungen, könnte der Altbau bald unter den Hammer kommen, so die Gerichtspressestelle, allerdings „nicht vor März 2025“. Dann wird sich der Tag, an dem mindestens 187 Menschen ihr Zuhause verloren, bald zum siebten Mal jähren.

Ein Traum

„Es kann nicht sein, dass bei der Wohnungsnot ein so großes Haus fünf Jahre und mehr leer steht! In dieser Stadt gibt es so viele Menschen, die dringend Wohnraum suchen“, sagt Nachbarin Daniela Seemann. Sie hofft darauf, dass ihr Traum eines Tages wahr wird: Engagierte Bürger:innen tun sich zusammen und kaufen gemeinsam das Haus. Und verwandeln es anschließend zurück in einen Ort voller Leben.

Artikel aus der Ausgabe:
Ausgabe 381

Von der Straße auf die Bühne

Xenia Brandt war obdachlos – heute ist sie Comedian und verarbeitet so ihre Erfahrungen. Außerdem im Schwerpunkt über obdachlose Frauen: Wie Periodenarmut zu psychischen Problemen führt. Und: Hinz&Künztlerin Annie erzählt über Gewalt und Erniedrigung auf der Straße.

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Autor:in
Ulrich Jonas
Ulrich Jonas
Ulrich Jonas schreibt seit vielen Jahren für Hinz&Kunzt - seit 2022 als angestellter Redakteur.

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