Nachrichtenpodcast aus den 1920ern

Aktuelles – 100 Jahre alt

Blick auf den Jungfernstieg und über die Reesendammbrücke in Richtung Gänsemarkt, Ende der 1920er-Jahre. Damals säumten sogenannte Galgen den Weg – verzierte Masten für die Straßenbahn und elektrische Beleuchtung. Foto: Staatsarchiv Hamburg, 720-1/343-1, Nr. H2000739
Blick auf den Jungfernstieg und über die Reesendammbrücke in Richtung Gänsemarkt, Ende der 1920er-Jahre. Damals säumten sogenannte Galgen den Weg – verzierte Masten für die Straßenbahn und elektrische Beleuchtung. Foto: Staatsarchiv Hamburg, 720-1/343-1, Nr. H2000739
Blick auf den Jungfernstieg und über die Reesendammbrücke in Richtung Gänsemarkt, Ende der 1920er-Jahre. Damals säumten sogenannte Galgen den Weg – verzierte Masten für die Straßenbahn und elektrische Beleuchtung. Foto: Staatsarchiv Hamburg, 720-1/343-1, Nr. H2000739

Ein täglicher Podcast präsentiert Hamburger Zeitungsmeldungen aus den 1920er-Jahren. Oft kommen so erstaunliche Parallelen zur Gegenwart zutage. Doch die Zukunft des Projekts ist ungewiss.

Hinz&Kunzt Randnotizen

Freitags informieren wir per Mail über die Nachrichten der Woche:

Rechtspopulistische Kräfte bedrohen die Demokratie. In Berlin zerbricht die Regierung. Bezahlbare Wohnungen sind knapp. Und wie lässt sich künftig ohne Kohle und Öl die Energieversorgung sichern?

Klar, die aktuelle Nachrichtenlage. Oder?

Tatsächlich sind die Themen ein Jahrhundert alt. Sie kommen im Podcast „Auf den Tag genau“ vor. Die aktuelle Staffel, die seit August läuft, greift täglich eine Meldung auf, die exakt 100 Jahre zuvor in Hamburger Zeitungen stand. Und manchmal verblüffende Parallelen zur Gegenwart aufweist.

Von internationaler Politik über Kultur bis zu Kuriositäten aus dem Alltag ist alles dabei. Zum Auftakt blickt der „Hamburger Anzeiger“ mit den Worten „Das war vor zehn Jahren, als plötzlich die Sicherheit aufhörte“ auf den Ersten Weltkrieg zurück. Das „Hamburger Fremdenblatt“ spürt den Folgen der Wirtschaftskrise im Hamburger Zoo nach. Das „Bergedorfer Echo“ schildert satirisch eine Demo von Hunden gegen den Leinenzwang. Und der „Hamburgische Correspondent“ mahnt Verbesserungen am Hauptbahnhof an: Die überfüllten Personenbahnsteige seien der „Gipfel des Schreckens“, die Halle solle Reisenden vorbehalten sein – raus mit „Bummlern“ und Flaneuren!

Dann wieder die Präsidentschaftswahlen in den USA, ein Porträt von Winston Churchill, haarsträubende Argumente gegen die neuen Bubikopf-Kurzhaarschnitte und der Blick auf den technischen Fortschritt, etwa beim Fernseher, beim Zeppelin oder beim Polizeifunk.

„Wir wollen die historischen Quellen zum Klingen bringen“, sagt der Historiker Jan Fusek, einer der Podcast-Macher. Hauptberuflich ist der 44-Jährige in der Wissenschaftskommunikation an der FU Berlin tätig. Mit den täglichen Hörstücken soll das Mosaik einer Epoche entstehen – jenseits von einfachen Zuschreibungen wie „goldene Zwanziger“ oder „gescheiterte Demokratie“. Die Macher gehen möglichst offen an die Nachrichtenauswahl. „Wir blättern die Zeitungen durch wie damals jemand im Café: Was fällt mir auf, was spricht mich an?“, erklärt Fusek.

Der Aufbau der meist acht- bis zehnminütigen Folgen ist immer gleich: Auf den Jingle mit ein paar Takten Swing folgt eine kurze Anmoderation. Dann wird ein Zeitungsartikel vorgelesen. Und zum Schluss heißt es: „Bis morgen.“

„Auf den Tag genau“ startete 2020 in Berlin als Liebhaber-Projekt von drei Studienfreunden: neben Jan Fusek der Theaterwissenschaftler und Publizist Robert Sollich sowie Fabian Goppelsröder, mittlerweile Professor für Kunst und Theorie in Karlsruhe. Freiwillige aus ganz Deutschland, die fit in Frakturschrift sind, tippen Zeitungstexte ab, damit sie für den Podcast eingelesen werden können.

Gut vier Jahre lief „Auf den Tag genau“ mit Meldungen aus Berliner Zeitungen. Dann war das Projekt rein ehrenamtlich nicht mehr zu schaffen, die Macher kündigten das Ende an. Das führte nicht nur zu rührender Fanpost, sondern rief auch die Akademie der Wissenschaften in Hamburg auf den Plan, die eine Fortsetzung mit Hamburger Zeitungen vorschlug.

„Auf den Tag genau“ verzeichnet bis zu 25.000 Downloads im Monat. Bis Ende März ist die Finanzierung gesichert. Und danach? „Wir klopfen derzeit bei Stiftungen an“, sagt Jan Fusek. „Möglicherweise müssen wir auch an einen anderen Ort wechseln oder erst mal pausieren.“

Was zu den erstaunlichen Entdeckungen bei der Zeitungslektüre gehört: Über die Endlichkeit von Ressourcen und Alternativen für die Energieversorgung, etwa Windkraft oder Erdwärme, wurde schon vor 100 Jahren diskutiert. Mehrere Podcast-Folgen befassen sich damit. Außerdem greift Akademiepräsident und Klimaforscher Mojib Latif das Thema in einer Sonderfolge auf.

Und schon vor der Bürgerschaftswahl im Herbst 1924 wurde die „Verschandelung“ von Fassaden durch wenig aussagekräftige Wahlplakate beklagt. Das Zentrum hatte damals die anderen Parteien zum Verzicht auf die Plakatierung aufgerufen – ohne Erfolg.

Artikel aus der Ausgabe:
Ausgabe 384

Hamburg geht wählen

Schwerpunkt Wahlen: Wie wollen die Parteien in Bürgerschaft und Bundestag Wohnungslosigkeit und Armut bekämpfen? Außerdem: Baulücken in Hamburg, Reisen für arme Menschen mit schweren Behinderungen und 100 Jahre alte Nachrichten.

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Autor:in
Detlev Brockes

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