Hamburgs Straßen erzählen viele Geschichten. Man muss nur genau hinschauen – oder mit Hinz&Kunzt-Mitarbeiter Jürgen Jobsen unterwegs sein. Das machen wir für unsere neue Serie in Zukunft öfter. Denn wer Jürgen durch die Stadt begleitet, kann selbst in den unscheinbarsten Ecken viel entdecken.
„Neanderstraße“. Das Schild ist Jürgen vertraut, die Straße liegt in seiner Nachbarschaft. Trotzdem kann und will er sich an den Namen nicht gewöhnen. „Das geht mir richtig gegen den Strich, dass man die so genannt hat“, ärgert sich der 64-Jährige. Denn was viele nicht wissen: Die Neanderstraße war, als sie noch „Elbstraße“ hieß, der Mittelpunkt der sogenannten Judenbörse – ein Markt unter freiem Himmel, auf dem jüdische Kaufleute ihre Waren anboten. Dass heute nichts mehr daran erinnert, ärgert Jürgen. Als die Straße 1948 umbenannt wurde, wäre die Chance da gewesen. „Aber Neanderstraße?“ Er schüttelt sich. In seinen Ohren klingt das rückwärtsgewandt, als hätte man die jüdische Geschichte des Viertels übertünchen wollen.
Direkte Erinnerungen an die Karren und Stände der Händler*innen hat Jürgen nicht, der Markt verschwand lange vor seiner Geburt. Aber er hat davon gelesen. Wo genau? Wahrscheinlich in einem der zahlreichen Bücher zur Stadtgeschichte, die sich früher in seiner Wohnung stapelten. „Irgendwann hat mich das Fieber über Alt-Hamburg gepackt“, erzählt er.
Es ging los mit einer persönlichen Geschichte. Jürgen fand eine Wohnung in Hammerbrook, ganz in der Nähe der Straße, wo früher seine Großtante wohnte. Als Kind war er so oft bei ihr, dass er sie Oma nannte. Sie lebte schon nicht mehr, als Jürgen in die Nachbarschaft zog. Aber den Standort ihres Hauses wollte er unbedingt wiederfinden. Also erkundigte er sich bei Nachbar*innen, fragte im Stadtteilbüro nach, suchte nach alten Plänen. „So fing die Sammelei an“, sagt er.
Jürgen fand den Ort. „Nur die Häuser der Nachbarn standen noch“, sagt er. Immerhin, ein bisschen von der alten Zeit hatte die Kriegsschäden überstanden. Und Jürgen hatte ein neues Hobby. In Antiquariaten durchstöberte er alte Bücher und Postkartensammlungen. „Ich habe in der Zeit kaum einen Flohmarkt ausgelassen“, erzählt er. Auch bei Hinz&Kunzt bekam er wertvolle Tipps, zum Beispiel von Verkäufer Balu. „Der hat ein breites Allgemeinwissen“, sagt Jürgen. „Er weiß zum Beispiel, wo noch alte Straßenbahnschienen zu finden sind.“
Auch Spinne, Kaffeetresen-Verwalter und inoffizieller Netzwerker bei Hinz&Kunzt, habe ihm einiges an Lesestoff verschafft. So wuchs Jürgens stadthistorische Sammlung zu einer regelrechten Bibliothek heran. „Ein Drittel meiner Wohnung war vollgestellt“, sagt er.
Heute fällt Jürgen zu fast jedem Winkel Hamburgs eine Stelle ein, die Geschichte erzählt. „An vielen Orten geht man einfach vorbei, wenn man das nicht weiß“, sagt er. Da ist zum Beispiel der alte Grenzpfeiler am Nobistor, der inmitten von Werbetafeln, Erotikshops und parkenden Autos heute kaum noch ins Auge fällt. Kaum vorstellbar, dass hier früher Dänemark begann. Besonders lieb sind Jürgen die Orte, mit denen er persönliche Erinnerungen verbindet – wie das Planschbecken im Hammer Park, wo er als Kind im Sommer jeden Sonntag spielte. Ein Hauch Nostalgie schwingt mit, wenn er von den feinen Leuten erzählt, die hier früher flanierten. „Damals haben die Menschen einfach mehr Sinn für Schönes gehabt“, meint er. Manchmal muss Jürgen tief in seinen Erinnerungen kramen, um Bilder und Geschichten zutage zu fördern. Nachschlagen in seiner Bibliothek kann er nicht mehr: Vor etwa vier Jahren brannte seine Wohnung ab. „Das war schrecklich“, sagt Jürgen. Die vielen Bücher und Postkarten, die er über die Jahre gesammelt hatte – nichts ist mehr davon übrig. Was ihm bleibt, ist der Reichtum an Vorstellungen von Hamburg, wie es früher war.
Jetzt nimmt Jürgen die Fährte wieder auf. In unserer neuen Serie „Hamburger Geschichte(n)“ begeben wir uns jedes Mal auf Spurensuche nach einem besonderen Ort. Der Ausgangspunkt sind Jürgens Erinnerungen, mit Internetrecherche und der Hilfe von Stadtteilarchiven und Geschichtswerkstätten füllen wir gemeinsam die Lücken. So wird mit jedem Fundstück das Bild schärfer – wie im Fall des Gesundbrunnens in Borgfelde, über den wir auf hier berichten. Leicht war es nicht, ihn zu orten. Doch am Ende hat sich die Suche gelohnt. „Hab ich’s doch gewusst!“, freut sich Jürgen.
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