Sozial brutal

Kommentar

von Thomas Schröder

(aus Hinz&Kunzt 128/Oktober 2003)

Deutschland im Herbst 2003. Die kleine Julia ist zehn Jahre alt. Sie wohnt irgendwo in einer größeren Stadt und heißt eigentlich anders. Doch sie will nicht, dass jemand von ihr erfährt.

Julia schämt sich, weil sie und ihre Eltern arm sind. Wenn sie zur Schule geht, dann hat die Zehnjährige nur selten ein Pausenbrot dabei. Auch an Klassenausflügen nimmt sie nicht teil. Es ist ihr peinlich, wenn andere Kinder ihre voll gepackten Rucksäcke entleeren. Das Mittagessen nimmt sie in der Suppenküche ein. Zum Kindergeburtstag geht Julia auch nicht mehr, weil sie nie ein Geschenk hat.

Julia ist eines von einer Million Kinder, die auf Sozialhilfeniveau leben. Die Folgen: Sie werden häufiger krank, sind schlechter ernährt und leben oft in vernachlässigten Stadtvierteln. Nicht anders ergeht es den Erwachsenen an ihrer Seite.

Die rot-grüne Bundesregierung hat zwar damit begonnen, regelmäßig Armutsberichte zu veröffentlichen. Aber offenbar haben die erschreckenden Zahlen bisher zu keinen Konsequenzen geführt. Bei der gegenwärtigen Debatte um die Einschnitte in das soziale Sicherungssystem ist vielmehr das Augenmaß verloren gegangen. Die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld II wird dazu führen, dass noch mehr Menschen in die Sozialhilfe rutschen.

Außerdem: Die Kürzungen in der Gesundheitsvorsorge werden dazu beitragen, dass medizinisch notwendige Leistungen nicht mehr in Anspruch genommen werden. Denn die regelmäßigen Arztbesuche mit einer „Eintrittsgebühr“ von geplanten zehn Euro stellen für viele Menschen einen unerschwinglichen Luxusausflug dar. Das gilt auch für Zahnbehandlungen. Es wird deshalb der Tag kommen, an dem Armut in Deutschland wieder im Gesicht abzulesen ist – anfehlenden Zähnen.

Der neueste Vorschlag von Ulla Schmidt, der Bundessozialministerin, wird die Rutschbahn ins Elend zu einem Katapult werden lassen. Die Ministerin plant, dass die bisher an Sozialhilfeempfänger gezahlten einmaligen Leistungen, beispielsweise für den Kauf von Kleidung, künftig entfallen. Stattdessen soll diese Summe als Pauschale in die monatliche Sozialhilfezahlung eingerechnet werden. Der Empfänger müsse eigenständig wirtschaften, verkündet das Ministerium. Die Folgen sind schon jetzt absehbar: Die Betroffenen haben selten gelernt, mit Geld zu wirtschaften. Wenn das überhaupt geht bei nur knapp 290 Euro monatlich. Bleibt es bei der Pauschale, wird manches Geld einfach fehlen, wenn etwa der Kauf von Winterkleidung ansteht. Viele Familien werden deshalb weiter verelenden.

Die Armut wird in den nächsten Jahren noch steigen, und mit ihr die Kosten für die Kommunen. In Deutschland stehen in den nächsten Jahren etwa 1,4 Billionen Euro zur Vererbung an. Deutsche Konzerne wie BMW machen Milliardengewinne. Warum hat keine Partei in Deutschland den Mut, darüber laut nachzudenken? Es scheint in Deutschland chic geworden zu sein, immer nur nach unten zu treten, statt die Solidarität von oben einzufordern.

Deutschland 2003: Die kleine Julia wird auch künftig nicht alleine sein. Im Gegenteil, nach Inkrafttreten der so genannten Reform werden, so wird befürchtet, weitere 500.000 Kinder in die Armut getrieben, mitsamt ihren Eltern.

Thomas Schröder (38) ist Sprecher des Bundesverbandes Sozialer Straßenzeitungen. Der Kommunikationsberater war früher Büroleiter für einen SPD-Abgeordneten im Deutschen Bundestag.

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