Der Film „Soul Kitchen“ von Fatih Akin machte eine leerstehende Fabrikhalle in Wilhelmsburg bekannt. Mittlerweile hat sie sich zu einem kulturellen Treffpunkt gemausert. Dank vieler helfender Hände.
(aus Hinz&Kunzt 237/November 2012)
Das muss sie sein. Die Halle sieht von außen genauso aus wie im Film: Schroff ragt ihr kantiges Dach in den Himmel über Wilhelmsburg. Lang und länger zieht sie sich über das karge Grundstück an der Industriestraße. Dort sieht es so aus, wie man sich das klischeehaft vorstellt: zweckmäßige Flachdachbauten, Drahtzäune, Firmenfahnen, verödete Gleise. Fehlt nur noch, dass ein herrenloser Hund durchs Bild läuft.
Erst seit ein paar Tagen ist die Soul-Kitchen-Halle wieder offen, nachdem sie drei Monate lang zwangsweise geschlossen war. Dichtgemacht vom zuständigen Bezirksamt Mitte, weil Kabel herumhingen, Notausgänge fehlten und der Brandschutz nicht ausreichte. Das Echo in den Medien war lautstark: „Kulthalle muss schließen“ und „Kult-Location vor dem Aus?“ schlagzeilte es. Der für den Kult Verantwortliche meldete sich ebenfalls zu Wort: Fatih Akin, der 2009 hier seinen Film „Soul Kitchen“ drehte.
In dem kämpft eine Handvoll wackerer Sonderlinge für ihren Traum vom Restaurant in der kulinarischen Diaspora. Ein verkannter Koch versucht, Imbissfraßfans das Geheimnis guten Essens näherzubringen. Ein Ex-Knacki versucht, ein besserer Mensch zu werden. Und der Chef von allen versucht, diesen Platz, an dem all das wahr werden kann, zu erhalten. Einen Strich durch die Rechnung macht ihnen ein gieriger Makler, der das Grundstück meistbietend verhökert. Dass am Ende doch noch alles gut wird, ist einer überraschenden Erbschaft (Kino!) und viel Herzblut der Beteiligten geschuldet.
Nach dem Film geschah Erstaunliches. Eine Gruppe Wilhelmsburger Kreativer nahm sich der Kulisse an. Sie zeigten zuerst den Film dort und begannen dann, Konzerte zu veranstalten, Schriftsteller lesen zu lassen und Theaterstücke aufzuführen. Sie eroberten sich den Raum. Die Fiktion war Realität geworden, ohne viel Trara und ohne öffentliche Förderung.
Was Hamburg Marketing mit Millionenbeträgen und derInternationalen Bauausstellung (IBA) für Wilhelmsburg erreichen wolle, schaffe die Soul-Kitchen-Halle „mit einfachsten Zutaten“, sagen die Grünen. Nämlich: einen Freiraum entstehen zu lassen für Künstler und Bewohner des Stadtteils. Die Partei machte sich für den Erhalt der Halle stark, debattierte in der Bürgerschaft über deren Zukunft.
Und tatsächlich ging es dann ganz schnell: Anfang Oktober konnte Mathias Lintl wieder aufmachen. Lintl, mit langen, zum Zopf gebundenen Haaren, schwarze Brille, Typ ruhender Fels in der Brandung, ist noch immer gerührt, weil so viele halfen. „Die Hälfte der Leute, die hier mit angepackt haben, kannte ich gar nicht“, sagt er. Ein angehender Tischler habe spontan die Rampen ausgebessert. Zwei Mädels hätten sich mal die Kühlschränke vorgenommen und grundgereinigt. Andere schweißten, flexten, tackerten, sägten, rückten Möbel und packten an, wo es etwas anzupacken gab.
„Immer wieder kommen Leute vorbei, die helfen wollen.“ – Mathias Lintl, Kopf des Kollektivs
Lintl ist schon ein alter Hase im Kulturbetrieb von Wilhelmsburg. Seit er vor zwölf Jahren hergezogen ist, hat er unter anderem die Zollstation am alten Elbtunnel, den Ballsaal Veddeler Elbdeich und die Halle 13 für Menschen mit wenig Geld bespielt – organisiert im Verein KuBaSta (Kunst, Bauen, Stadtentwicklung). 2010 stieg in der Soul-Kitchen-Halle die erste große Party im Rahmen von „48 Stunden Wilhelmsburg“. „Da sind mal eben von jetzt auf gleich 350 Leute gekommen und haben mit uns gefeiert“, erinnert er sich. „Immer wieder kommen Leute vorbei, die fragen, ob sie irgendwie helfen könnten,“ sagt Lintl, „das freut einen total.“
Durch den neuen Notausgang führt uns der 45-Jährige ins Innere der Halle, grüßt kurz einen Bekannten und hilft dann wieder am Tresen aus. Einen Schichtplan gibt es nicht. Wer sieht, dass Hilfe gebraucht wird, hilft. Zum Kernteam gehören zehn Leute, 25 zum Aktivenkreis, viele mehr zu den Sympathisanten. Wöchentliche Meetings oder feste Strukturen? Njet. Mit Rundmails werden alle auf dem Laufenden gehalten, und sonst trifft man sich eh vor Ort.
Auch wenn keine Veranstaltungen sind, ist meist jemand in der Halle. „Wir organisieren uns im Kollektiv“, sagt Mathias Lintl. Und erzählt dann mit einem Lächeln, dass vergangenen Winter Finanzsenator Peter Tschentscher vorbeigeschaut habe. Er entscheidet letztlich als Herr über die städtischen Liegenschaften über die Zukunft der Halle. Wie das denn so mit der Organisation laufe, habe er wissen wollen. „Als er Kollektiv hörte, sagt er: ‚Das Wort habe ich ja seit meinen Asta-Zeiten nicht mehr gehört.‘“
Heute Abend ist die Soul-Kitchen-Halle Schauplatz des „Freigeistern“-Festivals mit Performances, Lesungen, Konzerten, DJs und einer für Mitternacht angekündigten „psychedelischen Kissenschlacht“. Eine Veranstaltung, die man sich sonst an wenigen Orten in Hamburg vorstellen kann: Vielleicht noch im Gängeviertel. Dort wie hier schaffen Menschen Freiräume für Kultur, die sich nicht rechnen muss, sondern die offen und gern auch etwas abseitiger ist.
Der Stadtteil stärkt sich selbst
„Hier musst du das Geld eher noch mitbringen“, sagt Jörg, Teil des Kollektivs und gerade dabei, eine Cola aus dem Kühlschrank zu holen. Und Mathias Lintl bestätigt: Geld verdient hier keiner. „Wir haben hier nicht den ökonomischen Druck und müssen nicht täglich Umsatz machen. Wenn wir beispielsweise einer Theatergruppe die Halle für 20 Tage zum Proben bieten und dann letztlich am Ende 500 Euro bei uns rumkommen, dann tut man so was gerne. Das ist eine Bereicherung des kulturellen Lebens.“
Der Stadtteil stärkt sich selbst. 85 Prozent der Leute, die in der Soul Kitchen aktiv sind, leben auch in Wilhelmsburg, so Lintl. Darum sind die Getränke günstig. Ebenso wie der Eintritt. Dem Stadtteil angepasst, wie Lintl sagt, „da hat man ein Gespür dafür, wie viel die Leute ausgeben können“.
Heute Abend zahlen die Besucher zwischen fünf und sieben Euro – je nach Größe des Geldbeutels. Gegen eine freiwillige Spende gibt es leckere vegetarische Blätterteigtaschen und Karotten-Kartoffel-Quitten-Suppe, die Freiwillige an einem kleinen Stand anbieten. Mitten in der Halle steht eine glänzende Zuckerwattemaschine und verströmt süßen Duft. Später wird eine junge Frau mit einem Lächeln durch die Reihen gehen und selbst gemachten Schokokuchen verteilen.
Hunger leiden muss hier also keiner. Nicht die Dreijährige, die vorhin mit ihrem Vater getanzt hat. Nicht die Gruppe von Studenten, die sich angeregt über die Lösung der letzten Klausur unterhält, nicht das angegraute Paar in Funktionsjacken, das es sich in einer Ecke auf einem Retrosofa bequem gemacht hat. In die Soul-Kitchen-Halle kommen sie alle, auch als Künstler.
Neulich etwa war die 81-jährige Trompeterlegende Dusko Goykovich mit der Lüneburger Big Band „Blechschaden“ da. 18 Bläser standen auf der kleinen Bühne. Mathias Lintl schwärmt noch heute von dem Raumklang und der Sonne, die in die Halle hineinstrahlte. „Dann kam plötzlich ein Gewitter auf. Zehn Zentimeter neben dem teuren Mischpult hat es auf einmal durchgeregnet. Aber das schätzen die Leute vielleicht auch: diese Unvollkommenheit“, sagt er.Das Dach leckt. Der Putz an der Wand bröckelt. Es gibt weder Heizung noch fließendes Wasser. Die Einrichtung stammt vom Sperrmüll und von ebay. Wer auf Perfektion Wert legt, dem wird es hier eher gruseln. Und dennoch: Der Raum hat eine Atmosphäre, in der man sich augenblicklich wohlfühlt. „Charmant“, sagt Mathias Lintl.
„Wie in einer Zauberwelt“, sagt Sarah Schwartz. Die Architekturstudentin aus Rothenburgsort ist heute Abend zum zweiten Mal hier, als „kleines Helferlein“, wie sie sagt. Gemeinsam mit Hannah Simonis, die das Festival organisiert hat, hat sie in den letzten Tagen den Raum aufgeräumt und geschmückt. Was ihr hier gefällt? „Die Atmosphäre ist ganz besonders.“ Sarah mag auch, dass es hier so unterschiedliche Veranstaltungen gibt: Konzerte, Performances, Theater, Lesungen, Partys.
„Das stimmt“, sagt Paula. Die Schauspielerin und Theaterpädagogin gehört zum Soul-Kitchen-Kollektiv, seit sie vor einem Jahr hier eine 20er-Jahre-Party veranstaltet hat. „Das ist alles sehr unkompliziert hier. Wer eine Idee hat, kann vorbeikommen und wir schauen, wie man das möglich machen kann. Die einzige Bedingung: Es muss Spaß machen.“ Paula wohnt seit vier Jahren in Wilhelmsburg. Die Soul Kitchen sei ein ganz wichtiger Treffpunkt für die Menschen aus dem Stadtteil, sagt sie. Es ist der einzige Laden, der immer am Wochenende geöffnet hat. Es ist der einzige Laden, der so vielen unterschiedlichen Künstlern einen Freiraum bietet. „Das ist mehr als ein Laden, das ist mein Zuhause“, sagt Paula.
Egal mit wem wir uns an diesem Abend unterhalten, ein Begriff fällt immer wieder: familiär. Jörg, der Techniker, spricht davon. Die Besucher sprechen davon. Und Peter Petersen, Lichtkünstler, der die mächtigen Wände der Halle mit bunten Kaleidoskopen und Bildfolgen aus einem Einschlafprogramm für Kinder aus den 70er-Jahren bespielt, spricht auch davon: „Wir sind begeistert von den Leuten. Wie sich hier alle engagieren, das ist offen und anders, das ist Kultur von unten für unten.“
Wenn Petersen nicht gerade Bilder an die Wand wirft, arbeitet er im Flensburger Kraftfahrtbundesamt. In seiner Freizeit reist er seit fünf Jahren mit seiner Frau, die ein Altenheim leitet, in ganz Deutschland herum. Sie schätzen den unkomplizierten Kontakt zu den jungen Leuten, sagt Petersen. Und schiebt dann noch hinterher, dass „meine Frau und ich gemeinsam 120 Jahre alt“ sind.
Jetzt hat Petersen aber erst mal kurz Pause, denn vorn auf der Bühne steht der Musiker Eike Swoboda alias Ein Astronaut. Ein schmaler Junge, der seine Elektropopsongs zwar alleine schreibt, sich dann aber via Internet mit anderen Musikern vernetzt. Während der Astronaut Gitarre spielt, erscheinen auf einem weißen Laken hinter ihm die Gesichter Dutzender Menschen in kleinen Fenstern. Manche haben Kopfhörer auf und singen, andere sitzen am Klavier, wieder andere spielen Schlagzeug. Das Ganze wirkt wie die Szene aus einem Arthouse-Film – Ein Astronaut ist die musikalische Entdeckung des Abends. Nachher werden wir erfahren, dass den Musiker eines besonders beeindruckt hat. „Die Atmosphäre. Ich kannte vorher nur den Film und wusste, dass die Halle immer wieder kurz vor der Schließung steht“, sagt er. Ob er wiederkommen würde? Aber sicher.
Täglich kommen Touristen
Doch es ist fraglich, wie lange es den familiären Freiraum noch geben wird. Fest steht bisher nur: Bis Ende des Jahres dürfen Mathias Lintl und sein Team bleiben. Sie wollen nun im Kulturausschuss als Nächstes erreichen, dass die Nutzung noch ein weiteres Jahr verlängert wird.
„Wir haben tolle Anfragen, die sogar Geld bringen“, sagt Lintl. Von der magischen Anziehungskraft, die die Soul Kitchen auf Touristen ausübt, ganz zu schweigen. „Jeden Tag kommen sie vorbei, knipsen und fragen nicht selten, wann denn die Küche aufmacht“, sagt Lintl lächelnd. Er erklärt ihnen dann geduldig, dass die Küche nur im Film bestand, aber Hauptdarsteller Adam Bousdoukos demnächst vielleicht mit seiner Band hier auftreten wird.
„Es wäre doch zu schade, wenn Wilhelmsburg nächstes Jahr bei der IBA von Touristen überschwemmt wird und diese dann dort, wo sie die berühmte Soul Kitchen erwarten, einen Lkw-Parkplatz vorfinden“, sagt Teammitglied Paula. Denn genau das sehen die Pläne der Stadt vor. Ab 2014 soll das Grundstück vermarktet werden. Mathias Lintl schaut dennoch vorsichtig optimistisch in die Zukunft. „Vielleicht kann sich die Stadt ja hier auch etwas anderes vorstellen als Lkw-Parkplätze.“
Sie sollte ihre Vorstellungskraft kräftig ausschöpfen. Oder noch besser: Der Finanzsenator sollte demnächst einfach noch mal selbst vorbeikommen. Dann kann er hier nämlich Szenen wie diese erleben: Zu später Stunde steht die Band Station 17, Deutschlands bekannteste Combo aus behinderten und nicht-behinderten Musikern, auf der Bühne. Sänger Horst rappt ins Mikrofon. Man kann ihn kaum sehen. Denn in der Luft fliegen überall Federn he-rum. Sie wirbeln aus zahllosen Kissen, die die Besucher mitgebracht haben. Die „psychedelische Kissenschlacht“ ist in vollem Gange.
Text: Simone Deckner
Fotos: Evgeny Makarov