In unserer November-Ausgabe erzählen drei Hinz&Künztler, wie sie vor 30 Jahren den Mauerfall erlebt haben. Alle wurden danach im Westen wohnungslos – Silvia landete in Hamburg auf der Straße.
Silvia hatte einfach keinen Bock mehr: „Die ganze Bürokratie hat mich angekotzt“, sagt sie. „Aber meine Kindheit und meine Jugend in der DDR, die möchte ich trotzdem nicht missen. Ich bin gut aufgewachsen.“
1959 wird sie in Nottleben in Thüringen geboren, „so ein richtig kleenes Kuhdorf war das“. Dort hat sie eine gute, unaufgeregte Kindheit und Jugend, wie sie sagt. Bis ihre Mutter stirbt. Das wirft alles durcheinander: „Ich war immer ein Mama-Kind“, erinnert sie sich. Im selben Jahr, Silvia ist gerade einmal 20 Jahre alt, bringt sie einen Sohn zur Welt. Kontakt zu dessen Vater hat sie da schon nicht mehr.
Gemeinsam mit dem Sohn zieht sie zu ihrem Freund. Sie arbeitet erst in einem Kuhstall, dann in einer Großküche. Silvias Vater hat mittlerweile eine neue Frau. „Aber die wollte nichts wissen von mir“, sagt Silvia. Mit 27 geht ihre Beziehung in die Brüche. Plötzlich alleine, ist die junge Mutter überfordert mit Arbeit und Sohn. Der wächst deshalb von da an bei Silvias Vater auf: „Das war einfach besser so.“
Zwei Jahre später kommt sie dann auch noch in Konflikt mit der Staatsmacht. Die letzten Monate als DDR-Bürgerin verbringt sie sogar im Gefängnis, nachdem sie einem Polizisten „eine gepfeffert“ hat. Der hatte sie vorher mit auf die Wache genommen, weil sie am Bahnhof eine Zigarette geraucht hat: „Der wollte, dass ich mich vor ihm ausziehe, da bin ich ausgerastet.“
„Ich wollte nur noch weg.“– Silvia
Als dann die Mauer fällt und es für Silvia, wie für viele Gefängnisinsassen, eine Amnestie gibt, verlässt sie die DDR so schnell es geht: „Ich wollte nur noch weg“, sagt Silvia rückblickend. In ihrer alten Heimat lässt sie alles zurück. Auch ihren Sohn, weil der weiter bei seinem Großvater leben möchte, erzählt sie.
Silvia geht nach Bayern und lebt dort erst in einer Unterkunft mit vielen anderen Ostdeutschen. Doch sie richtet sich ein, findet Arbeit und lernt einen neuen Freund kennen. 1997 stirbt er aber unerwartet und Silvia verliert kurze Zeit später ihren Job. Sparmaßnahmen. Sie beginnt zu trinken, sieht keine Perspektive mehr. Dann fasst sie einen Entschluss: „In Bayern wäre ich kaputtgegangen, deshalb wollte ich so weit weg wie möglich.“ Mit dem Nachtzug macht sie sich auf den Weg nach Hamburg, um maximalen Abstand zu gewinnen. Eine Wohnung hat sie hier aber nicht. Mehrere Monate lebt sie auf der Straße, trotz Job bei einer Zeitarbeitsfirma. Sie putzt Hotels, arbeitet in Warenlagern. Über die Bahnhofsmission findet sie nach Monaten einen Wohnheimplatz.
In der Novemberausgabe
Mittlerweile lebt die 60-Jährige in einer Wohnung und hat eine Anstellung als Reinigungskraft bei Hinz&Kunzt. Den Kontakt zu ihrem Sohn und ihren Brüdern hat sie all die Jahre gehalten. Heute fühlt sich Silvia nicht als Ost- oder Westdeutsche, sondern „einfach als Deutsche“. Trotzdem: „Bei vielen is’ es noch in den Köpfen.“ Damit sich das irgendwann ändert, müsse vor allem viel Geld in den Osten gesteckt werden. Das merkt sie, wenn sie ihre Familie besucht, die noch heute in Thüringen wohnt: „Wenn du da einkaufen willst, musst du erst mal 20 Kilometer fahren.“ Wieder im Osten zu wohnen, kann sie sich heute nicht mehr vorstellen.
Dennoch ist sie regelmäßig zu Besuch und bringt aus der alten Heimat Spezialitäten mit. Vita Cola und Thüringer Würste: „Die hab’ ich einmal mit zu Hinz&Kunzt gebracht. So schnell wie die weg waren, konnte ich gar nicht braten.“ Ansonsten vermisst sie aber nicht vieles aus der ehemaligen DDR. Nur die Kinderbetreuung, die war besser: „Da hatte jedes Kind einen Kitaplatz. Davon hätte sich der Westen mal was abschneiden können.“